Die Frauen und der Vaterländische Hilfsdienst

Bergedorfer Zeitung, 24. November 1916

Bergedorfer Zeitung, 24. November 1916

Dem Stadtbund hamburgischer Frauenvereine gehörte auch der Bergedorfer Frauenverein als Mitgliedsorganisation an (siehe BZ vom 19. Februar 1916), und die Forderung der Frauen überrascht zunächst einmal, denn die Zivildienstpflicht schränkte die persönliche Freiheit erheblich ein.

Man kann das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst (siehe hierzu 1000dokumente.de und Wikipedia), das ab Dezember 1916 diese Dienstpflicht einführte, durchaus als den Versuch sehen, die gesamte Wirtschaft und den Arbeitsmarkt unter Kriegsherrschaft zu stellen. Ein neues Kriegsamt beim Preußischen Kriegsministerium (mit entsprechenden regionalen Unterebenen) sollte die Umsetzung des Gesetzes übernehmen, durch das alle Männer zwischen dem 17. und 60. Lebensjahr das Recht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes verlieren sollten und entweder in der Agrarwirtschaft oder der Rüstungs- bzw. sonstigen kriegswichtigen Industrie arbeiten mussten.

Man kann in diesem Gesetz aber auch den Beginn der sozialpartnerschaftlichen Beziehung zwischen Staat, Unternehmern und Gewerkschaften sehen, denn (auf Druck der SPD und der Gewerkschaften) wurden in allen größeren Betrieben mit mindestens 50 Arbeitern „Arbeiterausschüsse“ als Interessenvertretung der Arbeiter eingerichtet und die Gewerkschaftsbewegung als Vertretung der Arbeiterschaft politisch anerkannt (Herfried Münkler, S. 574f.). Ein lesenswerter Artikel der Frankfurter Zeitung vom 3. Dezember 1916 gibt einen Überblick über die kontroversen Beratungen des Reichstags hierzu.

Das Hilfsdienstgesetz galt nur für die männliche Bevölkerung – die Forderung der Frauenvereine wurde also nicht erfüllt. Welches Motiv hinter dem Beschluss der Organisation gestanden hatte, war der BZ nicht zu entnehmen: war es die Unterstützung des Krieges aus patriotischem Bewusstsein oder ging es ihnen im umfassenden Sinne um die Gleichstellung von Mann und Frau, um die Schaffung einer Grundlage für weitere Forderungen, z.B. nach dem Frauenwahlrecht?

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Der unermüdliche Frauenverein und die Kinderbetreuung in Bergedorf

Bergedorfer Zeitung, 15. November 1916

Bergedorfer Zeitung, 15. November 1916

Der „achte Jahresbericht des Bergedorfer Frauenvereins“ fasste noch einmal einige der Aktivitäten dieses Vereins zusammen, über die schon in früheren Beiträgen (z. B. Die Kriegshilfe der Bergedorfer Frauen, Flaschenpfand und Einkochstelle, „Nach einem Jahr“, Heiratsmarkt und Arbeitsmarkt) berichtet wurde, aber der Artikel enthält auch einige zusätzliche Informationen, so z.B. dass die von der Töpfertwiete in das ehemalige Hotel Stadt Lübeck verlegte und erweiterte Kriegsschreibstube der örtlichen Stelle der „Hilfe für deutsche Kriegsgefangene“ des Roten Kreuzes ebenfalls Raum bot.

Näh- und Strickarbeiten waren schon 1914, kurz nach Kriegsausbruch, durch den Frauenverein vergeben worden, zumeist für sogenannte Liebesgaben an Soldaten. Nun aber hatte man offizielle Aufträge des Kriegsbekleidungsamts zur Herstellung von Textilien für Soldaten und beschäftigte damit 250 Näherinnen und Strickerinnen – die Textilindustrie konnte den Bedarf offenbar nicht decken. Die durch die Kriegshilfe Bergedorf und eine ungenannte Gönnerin finanzierte Anfertigung von Wäsche und Kleidern für Kinder lässt erkennen, dass manche Familien offenbar nicht imstande waren, diese selbst zu erwerben.

Die Kriegshilfe unterstützte auch den vom Frauenverein betriebenen Mädchenhort finanziell. Ein Platz in dieser schon vor Kriegsbeginn mit über 60 Plätzen geschaffenen, 1915 erweiterten Einrichtung (siehe BZ vom 6. September 1914 und 12. Oktober 1915) war nun offenbar so begehrt, dass die Aufnahmekriterien verschärft werden mussten. Jedoch fehlte es an freiwilligen Helferinnen, und vermutlich deshalb wurde der im Herbst 1915 eingerichtete Knabenhort am Kuhberg 1 von der Kriegsfürsorge betrieben (siehe BZ vom 12. und 16. Oktober sowie 13. November 1915). Auch die Kräfte des Frauenvereins waren eben begrenzt.

Über die erhöhte Platzzahl im Mädchenhort in der Töpfertwiete waren in der Zeitung keine Angaben zu finden – der Knabenhort wurde schon bald nach der Eröffnung von „über 50“ Jungen besucht. Eine weitere Betreuungseinrichtung war die von der evangelischen Kirchengemeinde unterhaltene „Warteschule“ für noch nicht schulpflichtige Kinder; sie wurde 1915 von durchschnittlich 61 Kindern pro Tag besucht, 1916 von 65 bei einem Maximum 1916 von 97 Kindern (siehe BZ vom 30. November 1915 und 30. November 1916), auch gab es im Reinbeker Weg 35 einen privat betriebenen Kindergarten für Drei- bis Sechsjährige (siehe BZ vom 20. März 1915). Es mögen also – großzügig geschätzt – insgesamt 400 Plätze zur Verfügung gestanden haben. Die Gesamtzahl der Kinder war um ein Vielfaches höher: 1905 gab es laut Statistik des Hamburgischen Staates 4.343 Kinder in der Stadt Bergedorf (Band XXIV, 1909), 1910 waren es 4.793 (Band XXVIII, 1919), und man darf einen weiteren Anstieg in den folgenden Jahren vermuten, der sich allerdings nicht belegen lässt, da die Zahlen nicht publiziert wurden.

Vom Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz war Bergedorf 1916 also noch weit entfernt, und auch bis zur Gebührenfreiheit mit kostenlosem Mittagessen sollte es noch fast ein Jahrhundert dauern.

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Von der Kriegsküche zur Volksküche

 

Bergedorfer Zeitung, 21. November 1916

Bergedorfer Zeitung, 21. November 1916

Gleich nach Beginn des Krieges waren in Bergedorf zwei „Kriegsküchen“ eingerichtet worden, in denen Soldatenfamilien kostenlos Essen erhielten (siehe den Beitrag Der Ausbruch des Krieges – Jubel und Sorgen). Die Zahl der ausgegebenen Portionen war rasant gestiegen und lag im Frühsommer 1916 bei 2.500 täglich (siehe den Beitrag Kommunalpolitik 1916) – im November 1916 kam die „Volksküche“ in der Turnhalle der früheren Hansaschule hinzu, in der alle Bergedorfer und Bergedorferinnen Essen erhalten konnten. Auch dieses Angebot stieß sofort auf Resonanz: obwohl die Mahlzeiten bezahlt werden mussten und außerdem Lebensmittelmarken abzugeben waren, meldeten sich binnen weniger Tage 350 Personen an, am Eröffnungstag kamen noch 150 Unangemeldete hinzu (die dann eine Suppenspeise bekamen), und nach vierzehn Tagen wurden 1.000 Menschen verköstigt (siehe BZ vom 25. und 27. November und 12. Dezember 1916).

Die Vorteile der „Massenspeisung“ hatte die BZ schon früher dargelegt: zentralisierter Einkauf sei billiger und erspare den vielen Einzelnen „das Warten und Stehen vor den Läden“, die Nahrungsstoffe könnten viel ergiebiger genutzt werden, das Risiko der Unterernährung würde vermindert, Arbeitskräfte könnten ökonomischer eingesetzt werden und nur so sei es möglich, „besonders den Minderbemittelten und Ärmeren die Wohltat behördlicher Unterstützung zuteil werden zu lassen“ (siehe BZ vom 27. Mai 1916).

Erstmals am 17. Juli 1916 hatte die Bergedorfer Zeitung berichtet, dass die „Einführung der Massenspeisung“ in Bergedorf bevorstehe – bis zur Realisierung dauerte es also vier Monate. Auch in Geesthacht wurde eine solche Küche geschaffen, zuerst gefordert von den Sozialdemokraten (siehe den Beitrag über Die SPD in Geesthacht), dann untermauert durch einen Bericht, dass die örtlichen Betriebe die nötigen Arbeitskräfte nur gewinnen und halten könnten, wenn es für sie eine „Beköstigung“ gebe (siehe BZ vom 14. Oktober 1916). Aber wie in Bergedorf nahm die Umsetzung des Beschlusses Zeit in Anspruch: erst am 9. Februar 1917 fand im Kaufhaus Lohmeyer, Marktstraße 10, die erste Essenausgabe statt, und sehr schnell stieg die Zahl der „Kunden“ auf 600 (siehe BZ vom 5., 6. und 16. Februar 1917). Die Pulverfabrik hatte übrigens eigene Versorgungseinrichtungen für ihre Arbeiter, wie Karl Gruber (S. 42) schreibt.

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Leichtgeschürztes Theater in Sande

Bergedorfer Zeitung, 14. November 1916

Bergedorfer Zeitung, 14. November 1916

Zeitungsleser „-g.“ scheint ziemlich empört gewesen zu sein: Kinder hätten im Theater nichts zu suchen, vor allem nicht, wenn sie die besten Plätze belegten und „leichtgeschürzte Stücke“ zur Aufführung gelangten, und überhaupt dürften sie ja nicht nach 20 Uhr in einem öffentlichen Lokal (in diesem Falle der Holsteinische Hof, siehe BZ vom 12. November 1916) sein. Letzteres traf im Grundsatz zu, siehe den Beitrag Jugend unter Kontrolle, aber Ausnahmen konnten erteilt werden, und wir wollen dem Veranstalter, dem Vaterländischen Frauenverein Sande, nicht unterstellen, die Einholung der Genehmigung verabsäumt zu haben.

Bergedorfer Zeitung, 15. November 1916

Bergedorfer Zeitung, 15. November 1916

Der Berichterstatter der Zeitung teilte die Empörung des Leserbriefschreibers offenkundig nicht: er schrieb über den „vollen Erfolg“ des Abends und die „gut gespielten“ Stücke – wer wissen möchte, ob sie aus heutiger Sicht als „leichtgeschürzt“ einzustufen sind, möge nachlesen: sowohl die Jugendliebe von Adolf Wilbrandt als auch Im weißen Rößl von Oscar Blumenthal und Gustav Kadelburg sind in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg vorhanden.

Lokalhistorisch interessanter ist die Nennung der im Bergedorfer Personenlexikon aufgeführten Sander Schriftstellerin Emilie Günther, deren Gedicht „Deutschlands Söhne“ vorgetragen wurde. An sie erinnert heute der Emilie-Günther-Weg in Lohbrügge, doch von ihren Büchern ist in Hamburg nur Der Hof der Familie Siemers in Lohbrügge in der Staats- und Universitätsbibliothek vorhanden (außerdem als Mikrofilm ein Aufsatz über Alte Flurnamen aus dem Kreise Stormarn und der Hamburger Marsch, erschienen in den Stormanischen Heimat-Blättern 1934); wer die Titel Erinnerungsblätter: Gedichte in hoch- und plattdeutscher Mundart sowie Aufführungen und Vorträge für Polterabende und Hochzeiten lesen möchte, muss zum Institut für niederdeutsche Sprache nach Bremen fahren.

Noch einmal zurück zum Theaterabend: es muss offen bleiben, ob der unstreitig sehr gute Besuch der Veranstaltung primär auf die Rezitationen und Stücke zurückzuführen ist oder auf die anschließende Verlosung von Lebensmitteln – angesichts der Versorgungslage mögen manche eher auf den Fasan spekuliert haben als auf das weiße Rössl oder Leichtgeschürztes.

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Von Hausschweinen und Pensionsschweinen

Bergedorfer Zeitung, 13. November 1916

Bergedorfer Zeitung, 13. November 1916

Die häusliche Schweinehaltung war in Teilen Bergedorfs nichts Ungewöhnliches – siehe den Beitrag Schweine in der Stadt, und Ende 1916 lag die Zahl dieser Tiere sogar höher als vor Kriegsbeginn, dem Schweinemord 1915 zum Trotz: im Juni 1914 waren es 873 Schweine, und laut Volks- und Viehzählung im Dezember 1916 war ihre Zahl auf 1141 gestiegen (siehe BZ vom 12. Dezember 1916), wahrscheinlich inklusive der städtischen Schweine, siehe den Beitrag Städtische Schweine in der alten Ziegelei.

„Hausschwein“ war ansonsten durchaus wörtlich zu verstehen, wenn man auch davon ausgehen kann, dass ein solches nicht in den Wohnräumen lebte, sondern in einem Stall oder Schuppen hinter dem Haus. Das Interesse an der Tierhaltung war vor allem deshalb gestiegen, weil es (nach der Schlachtung) nur zur Hälfte auf die karge Fleischration angerechnet wurde, vom Zweitschwein wurden 60% angerechnet (siehe BZ vom 15. September 1916). Sechs Wochen lang musste man ein Schwein in der eigenen Wirtschaft halten (siehe BZ vom 18. September 1916), und für manchen mag das möglich und attraktiv gewesen sein, für viele aber nicht, wohl auch wegen des Geruchs der Schweinehaltung.

Im November dann gab es eine grundlegende Änderung der Vorschrift, die das „Pensionsschwein“ legalisierte: von da an durfte das Tier von einem Mäster gekauft und bei ihm gehalten werden, man zahlte entsprechend für die „Vollpension“, und nach sechs Wochen war Schlachtfest.

Das sorgte für eine andere Verteilung der geringen Fleisch- und Wurstmenge: wer es sich leisten konnte, hatte (sein) Schwein, das damit für die Versorgung der Allgemeinheit nur noch zur Hälfte zur Verfügung stand. Wahrscheinlich meinte der Präsident des Kriegsernährungsamts v. Batocki dies mit den „üblen Eigenschaften“ der Pensions- bzw. Familienschweine, die aber nun von „unsachgemäßer Mast“ verschont blieben. Zwar ging dies zu Lasten „insbesondere der Minderbemittelten“, wie am 18. September 1916 in der BZ zu lesen gewesen war, doch das spielte im November offenbar eine untergeordnete Rolle.

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Die Jugendwehr und die Mädchen in Sande

Bergedorfer Zeitung, 4. November 1916

Bergedorfer Zeitung, 4. November 1916

Die Jugendwehr Sande hatte offenbar tatkräftige Sponsoren, die ein vielfältiges Übungs- und Veranstaltungsprogramm ermöglichten und auch Ausstattung lieferten: die „40 Paar Stiefelsohlen“ dürften besonders willkommen gewesen sein – für manche Jungen vielleicht sogar ein Motiv, der Jugendwehr beizutreten, denn Sohlenleder war außerordentlich knapp und teuer (siehe den Beitrag Barfuß zur Schule).

Der Jugendpflegeausschuss Sande, vermutlich der Hauptförderer, wurde (unter dem Vorsitz des Amtsvorstehers Gustav Maik) hier über die durchgeführten und geplanten Aktivitäten unterrichtet, und er gab auch Empfehlungen für die weitere Arbeit. Dann musste sich das Gremium einem anscheinend neuen Aufgabenfeld widmen: von „höherem Orte“ waren Hinweise ergangen, dass man sich auch um die weibliche Jugendpflege kümmern solle, und die weibliche Jugend hatte Wünsche vorgebracht: sie wollte angeblich „dem Spiel und Sport und ähnlichen Vergnügungen huldigen“ – die männliche Jugendwehr hingegen ging neben ihren Übungen auch anderen Betätigungen nach, besuchte Theater und Ausstellungen und traf sich alle zwei Wochen zu lehrreichen Unterhaltungsabenden, die nun durch Lichtbilder-Vorträge noch an Attraktivität gewinnen sollten.

Man fragt sich, ob die Interessen von Mädchen und Jungen wirklich so verschieden waren oder ob der Jugendpflegeausschuss sich schlicht nicht vorstellen konnte (oder wollte), dass die weibliche Jugend auch an Geistigem, Bildendem und Unterhaltendem Interesse haben könnte. Aber wenn man kein Konzept hat, lässt man sich von einem Experten beraten: der Jugendpflegeausschuss lud einen Referenten aus Hamburg ein, der nicht nur die körperliche, sondern auch die seelische Ertüchtigung der Mädchen forderte und darüber hinaus Klassenvorurteile beseitigen wollte, weil „alle Gesellschaftsklassen in der Gesamtheit im Vaterlande gleich“ seien und man für das gemeinsame Ideal kämpfe und sterbe (siehe BZ vom 23. Januar 1917). Solche Aussagen wären vor Kriegsbeginn wohl als revolutionär eingestuft worden – sie waren z. B. mit dem preußischen Dreiklassenwahlrecht, das ja auch für die Wahlen in Sande galt, nicht vereinbar: der hier postulierten Gleichheit zum Trotz hatte es in einer Bekanntmachung wenige Monate vorher geheißen: „Der Wahlberechtigte wird eingeladen …“ (siehe BZ vom 12. August 1916): der von der ersten Klasse gewählte Gemeindevertreter, der Ingenieur Kahle vom Bergedorfer Eisenwerk, war verstorben, und der einzige Wähler, eben das Eisenwerk, musste nun für die Ersatzwahl seine Stimme abgeben. Die Feststellung des Wahlergebnisses dürfte keine allzu großen Probleme bereitet haben.

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Teure Textilien oder Brennnesseln auf der Haut

Das Bezugsscheinsystem für Kleidung war im Sommer 1916 eingeführt worden – nun wurde es modifiziert, worüber die BZ ausführlich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen berichtete:

Bergedorfer Zeitung, 2. November 1916

Bergedorfer Zeitung, 2. November 1916

Bergedorfer Zeitung, 1. November 1916

Bergedorfer Zeitung, 1. November 1916

Die Fürsorge des Reichs hinsichtlich der Kleidung der ärmeren Bevölkerungsschichten kannte offenbar keine Grenzen: man fürchtete, dass die „zahlungsfähigen Kreise“ dem „Hauptteil der Bevölkerung“ die Oberbekleidung wegkaufen würden, wenn man nicht geeignete Schritte tat, um eben dies zu verhindern.

Erfreulicherweise fand sich eine Lösung: für teure Textilien aus „feiner Maßschneiderei“ oder „Luxuskonfektion“ galt, dass man sie auch ohne Bezugsschein erwerben konnte, wenn man beim Kauf nachwies, dass man ein selbst „getragenes gebrauchsfähiges Kleidungsstück“ der gleichen Art (Kleid, Mantel, Anzug usw.) bei einer offiziellen Sammelstelle abgegeben hatte. Für derartige Textilien galten sich gewaschen habende Mindestpreise, weit über denen, die in der abgedruckten Anzeige genannt wurden.

Bergedorfer Zeitung, 11. November 1916

Bergedorfer Zeitung, 11. November 1916

Eines wird aus der Anzeige nicht deutlich: die deutlich billigeren Kleidungsstücke für den „Hauptteil der Bevölkerung“ dürften überwiegend aus Papiergarn (siehe den Beitrag Kaffeeersatz, Fisch auf die Hand …) oder aus Nesseltuch (im ursprünglichen Sinne) hergestellt gewesen sein, denn Alternativen gab es kaum: 1913 stand einer Einfuhr von Baumwolle, Wolle, Flachs und dergleichen von 932.000 t eine Inlandserzeugung von 15.300 t gegenüber, aber die Importe aus Russland, England, Indien, den USA fielen aus und konnten nicht durch die „gewaltige Beute“ an Faserstoffen in den eroberten Gebieten kompensiert werden (siehe Paul Drexler S. 8f, S. 14, S. 19ff). Die Brennnessel sollte einen Teil des Defizits decken: die Landherrenschaft Bergedorf wie die Gemeinde Sande riefen zu Sammelaktionen auf (siehe BZ vom 4. Juli und 25. Oktober 1916). Diese Pflanze war offiziell im Katalog der „Spinnstoffe“ des Reichs genannt (siehe BZ vom 25. Oktober 1916), und Ende September waren reichsweit zwei Millionen Kilogramm gesammelt worden (siehe BZ vom 27. September 1916). Bei einem Faseranteil von 5 % waren das  100 t Fasern, längst nicht genug, doch es wurde ja weiter gesammelt…

Über die Beliebtheit der Produkte, ihre Haltbarkeit und den Tragekomfort berichtete die BZ nicht; Nesseltuch galt allerdings nach dem Eintrag bei Wikipedia um 1900 als „Leinen der armen Leute“ – im 21. Jahrhundert scheint es Brennnesselstoffe und -textilien nur bei „Öko-Händlern“ zu geben. Die heutigen Preise sind eher für gut Betuchte.

Bergedorfer Zeitung, 1. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 1. Dezember 1916

Hohe Preise einerseits – fragwürdige Ersatzstoffe andererseits: da mag sich mancher gefragt haben, ob man nicht auf das Angebot des Schneidermeisters eingehen sollte – wenn man denn etwas zum Wenden oder einen Pelz zum Ausbessern hatte.

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Kreativer Umgang mit Höchstpreisen

An vielen Dingen des täglichen Bedarfs herrschte durch Höchstpreise und Rationierung regulierter Mangel – und Mangelwirtschaft führt in der Regel zur Suche nach kreativen Lösungen, nach Lücken in den Vorschriften, die genau diese Kreativität unterbinden wollen, woraus dann wieder Änderungen an den Vorschriften folgen, wie schon im Beitrag Brot ohne Gips gezeigt wurde. Hier nun geht es um Kartoffeln und Butter.

Bergedorfer Zeitung, 31. Oktober 1916

Bergedorfer Zeitung, 31. Oktober 1916

Die Kartoffelhöchstpreise werden nicht nachträglich erhöht, verkündete der Präsident des Kriegsernährungsamtes, v. Batocki im Reichstag, also mache es für die Erzeuger keinen Sinn, Ware zurückzubehalten, meldete die BZ am 28. Oktober 1916. Das Schlupfloch: Höchstpreise galten aber nur für Speisekartoffeln, nicht für Saatkartoffeln, und abgesehen davon, dass man als Saatkartoffeln in der Regel kleinere Knollen nimmt, sind die einen nicht von den anderen zu unterscheiden. Wenn also ein Bauer oder ein Händler die Erdfrüchte über dem Höchstpreis verkaufen wollte, musste er sie nur als Saatkartoffeln deklarieren. Zahlungskräftige Kundschaft, die ihre Ration aufbessern wollte, gab es sicher genug, doch zum Ärger der Beteiligten hatte das Kriegsernährungsamt die „Schiebungen“ erkannt und folglich den Handel mit Saatkartoffeln temporär unterbunden, was auch beim „Verein der Gemüsegärtner von Ochsenwärder und Umgegend“ zu Unmut führte (siehe ebenfalls BZ vom 31. Oktober 1916).

Bergedorfer Zeitung, 5. Oktober 1916

Bergedorfer Zeitung, 5. Oktober 1916

Ebenso fand man bei der Butter Wege, das Höchstpreissystem zu umgehen: findige Händler erklärten geringere Sorten zu „Tafelbutter“ (zu Buttersorten siehe z.B. Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit) und erzielten damit einen Zusatzgewinn, auch gab es Kunden, die Zuschläge für Lieferung ins Haus zahlten, doch beides war unzulässig, wie der stellvertretende kommandierende General des 9. Armeekorps laut BZ vom 8. November 1915 bekanntgab. Das setzte wieder neue Kreativität frei: ranzige Butter wurde teurer gehandelt als genießbare, denn für verdorbene Butter gab es keinen Höchstpreis. Auf den ersten Blick ist das Preis-/Leistungsverhältnis nicht zu verstehen, aber aus ranziger Butter konnte (und kann) man leicht Butterschmalz herstellen oder sie durch Aufschlagen mit Milch in gute Butter zurückverwandeln (siehe z.B. eine Anleitung von 1840), doch auch dieser Weg wurde nun per Verordnung gesperrt.

Also waren wieder die kreativen Köpfe gefragt. Wir werden ihnen im Blog begegnen – aber was einerseits amüsant erscheint, heißt andererseits, dass andere, die weniger Geld hatten, um so mehr Mangel litten, was den Zahlungskräftigen wie den Geschäftemachern aber ziemlich egal war.

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Eine Plagiatsaffäre in Bergedorf

Bergedorfer Zeitung, 23. Oktober 1916

Bergedorfer Zeitung, 23. Oktober 1916

Normalerweise fielen BZ-Artikel über den Bergedorfer Frauenverein und seine Veranstaltungen rundum positiv aus – doch hier platzte dem Journalisten (-mm- steht wohl für den Redakteur Ammenn) der Kragen, weil die Rote-Kreuz-Schwester Erna Ruscheweyh sich in seinen Augen des Diebstahls geistigen Eigentums, also des Plagiats, schuldig gemacht hatte: in ihrem Bulgarien-Vortrag habe sie nicht nur eigene Erlebnisse dargestellt, sondern ihre allgemeinen Ausführungen über Land und Leute auf Literatur aufgebaut, die sie hätte nennen müssen, aber nicht nannte, nämlich Kurt Floerickes „Bulgarien und die Bulgaren“, und dann auch noch ein Buch „eines bekannten Feulletonisten“, den der Journalist mit Nicht-Nennung des Namens strafte, zur weiteren Lektüre empfohlen.

Jedenfalls war die Empörung von -mm- groß und er legte „schärfste Verwahrung“ gegen diese Aneignung von Forschungsergebnissen ein. Er sah sich und die BZ verpflichtet, das Wächteramt über das „geistige Leben Bergedorfs“ in dieser Weise auszuüben.

Bergedorfer Zeitung, 28. Oktober 1916

Bergedorfer Zeitung, 28. Oktober 1916

Bei Vorstand und Mitgliedschaft des Bergedorfer Frauenvereins muss helles Entsetzen über den Bericht geherrscht haben: mit einem großen Inserat hatte man für die Veranstaltung geworben (siehe BZ vom 19. Oktober 1916) und einen Reinertrag von 240 Mark zugunsten der örtlichen Hinterbliebenenfürsorge erzielt – bei Eintrittspreisen von 50 Pfennigen bis 2 Mark muss der Vortrag also gut besucht gewesen sein. Auch hatte man an jenem Abend für das bulgarische Rote Kreuz gesammelt und 70,62 Mark eingenommen (siehe BZ vom 25. Oktober 1916), doch der Zeitungsbericht machte durch die Überschrift den Frauenverein für den „Skandal“, diese Untat am geistigen Leben der Stadt, zumindest mitverantwortlich. Das war eine (in heutigen Worten) massive Imageschädigung und damit Gefährdung der weiteren Vereinsarbeit, und vermutlich ermunterte der Verein Schwester Ruscheweyh, auf den Abdruck einer Gegendarstellung zu drängen.

Die BZ druckte diese, aber nicht, ohne anzumerken, dass es eigentlich gar keine Gegendarstellung sei, sondern der gescheiterte „Versuch einer Rechtfertigung“, und dass die BZ also nichts Falsches berichtet habe. Immerhin: den Frauenverein nahm die Zeitung durch Nicht-Nennung des Veranstalters aus der Schusslinie.

Ob die ganze Aufregung um die Plagiatsaffäre und das geistige Leben Bergedorfs, um das sich Ammenn bekanntlich u.a. als Regisseur der Freilichtaufführung von Wallensteins Lager intensiv bemühte, letztlich doch nur eine zum Elefanten aufgeblasene Mücke war, möge jeder selbst beurteilen und dabei berücksichtigen, dass Frau Ruscheweyh ja keine Dissertation eingereicht hatte.

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Hansaschüler als Erntehelfer

Bergedorfer Zeitung, 14. Oktober 1916

Bergedorfer Zeitung, 14. Oktober 1916

Dieser im Oktober in der BZ abgedruckte Aufruf war weitestgehend wortgleich schon acht Wochen früher zu lesen gewesen (siehe BZ vom 10. August 1916): „Jungmannen“, also Mitglieder der Jugendwehr konnten ganz offiziell zur Einbringung der Kartoffelernte angefordert werden, und binnen eines Tages sollten diese mit ihrem Einsatz beginnen können, sofern der Antragsteller sich verpflichtete, für Unterkunft und Verpflegung auf seine Kosten zu sorgen.

Man darf aus der zweimaligen Veröffentlichung nicht schließen, dass dies ein Versehen war: je nach Sorte zieht sich die Kartoffelernte vom Sommer bis weit in den Herbst hinein – es gibt also mehrere Ernteperioden, für die jeweils Helfer benötigt werden. Und im Oktober müssen auch Spätkartoffeln so langsam aus der Erde, damit sie für den Winter und das Frühjahr eingelagert werden können.

aus: Ferdinand Ohly, Die Hansa-Schule ..., S. 28

aus: Ferdinand Ohly, Die Hansa-Schule …, S. 28

Die Jugendwehr sollte es also richten, und Bergedorf war dabei, wie aus dem rechts wiedergegebenen Bericht des Direktors der Hansaschule, Prof. Dr. Ferdinand Ohly, hervorgeht: 34 Hansaschüler meldeten sich zum Einsatz, der auf den Gütern Prestin und Buerbek erfolgte. Beide Güter lagen in Mecklenburg, und da die Stadt Bergedorf ihre Kartoffeln aus Mecklenburg erhalten sollte (siehe den Beitrag 65.000 Zentner Kartoffeln), lag darin vielleicht auch ein besonderer Leistungsanreiz für die Schüler.

Aus Ohlys nach dem Krieg verfassten Text soll ein Detail hervorgehoben werden: die „kräftige, aber derbe und reichlich fette Kost“ auf den Gütern verursachte Magenprobleme bei den Schülern, denn solches Essen kam in Bergedorf nicht mehr auf den Tisch: die Mägen waren in dieser Hinsicht „entwöhnt“ – angesichts der wöchentlichen Ration in Bergedorf von 45 g Butter, 30 g Margarine und 250 g Fleisch (siehe BZ vom 14. Oktober 1916) absolut glaubwürdig.

Bemerkenswert ist auch, dass neben den Schülern (arbeits-, aber nicht kriegsfähige) Soldaten sowie Kriegsgefangene arbeiteten, wobei mit letzteren eine (verbale) Verständigung allerdings unmöglich gewesen sein wird. Dennoch hätte man sich hier eine genauere Darstellung des Verhältnisses zueinander gewünscht.

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