Teure Textilien oder Brennnesseln auf der Haut

Das Bezugsscheinsystem für Kleidung war im Sommer 1916 eingeführt worden – nun wurde es modifiziert, worüber die BZ ausführlich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen berichtete:

Bergedorfer Zeitung, 2. November 1916

Bergedorfer Zeitung, 2. November 1916

Bergedorfer Zeitung, 1. November 1916

Bergedorfer Zeitung, 1. November 1916

Die Fürsorge des Reichs hinsichtlich der Kleidung der ärmeren Bevölkerungsschichten kannte offenbar keine Grenzen: man fürchtete, dass die „zahlungsfähigen Kreise“ dem „Hauptteil der Bevölkerung“ die Oberbekleidung wegkaufen würden, wenn man nicht geeignete Schritte tat, um eben dies zu verhindern.

Erfreulicherweise fand sich eine Lösung: für teure Textilien aus „feiner Maßschneiderei“ oder „Luxuskonfektion“ galt, dass man sie auch ohne Bezugsschein erwerben konnte, wenn man beim Kauf nachwies, dass man ein selbst „getragenes gebrauchsfähiges Kleidungsstück“ der gleichen Art (Kleid, Mantel, Anzug usw.) bei einer offiziellen Sammelstelle abgegeben hatte. Für derartige Textilien galten sich gewaschen habende Mindestpreise, weit über denen, die in der abgedruckten Anzeige genannt wurden.

Bergedorfer Zeitung, 11. November 1916

Bergedorfer Zeitung, 11. November 1916

Eines wird aus der Anzeige nicht deutlich: die deutlich billigeren Kleidungsstücke für den „Hauptteil der Bevölkerung“ dürften überwiegend aus Papiergarn (siehe den Beitrag Kaffeeersatz, Fisch auf die Hand …) oder aus Nesseltuch (im ursprünglichen Sinne) hergestellt gewesen sein, denn Alternativen gab es kaum: 1913 stand einer Einfuhr von Baumwolle, Wolle, Flachs und dergleichen von 932.000 t eine Inlandserzeugung von 15.300 t gegenüber, aber die Importe aus Russland, England, Indien, den USA fielen aus und konnten nicht durch die „gewaltige Beute“ an Faserstoffen in den eroberten Gebieten kompensiert werden (siehe Paul Drexler S. 8f, S. 14, S. 19ff). Die Brennnessel sollte einen Teil des Defizits decken: die Landherrenschaft Bergedorf wie die Gemeinde Sande riefen zu Sammelaktionen auf (siehe BZ vom 4. Juli und 25. Oktober 1916). Diese Pflanze war offiziell im Katalog der „Spinnstoffe“ des Reichs genannt (siehe BZ vom 25. Oktober 1916), und Ende September waren reichsweit zwei Millionen Kilogramm gesammelt worden (siehe BZ vom 27. September 1916). Bei einem Faseranteil von 5 % waren das  100 t Fasern, längst nicht genug, doch es wurde ja weiter gesammelt…

Über die Beliebtheit der Produkte, ihre Haltbarkeit und den Tragekomfort berichtete die BZ nicht; Nesseltuch galt allerdings nach dem Eintrag bei Wikipedia um 1900 als „Leinen der armen Leute“ – im 21. Jahrhundert scheint es Brennnesselstoffe und -textilien nur bei „Öko-Händlern“ zu geben. Die heutigen Preise sind eher für gut Betuchte.

Bergedorfer Zeitung, 1. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 1. Dezember 1916

Hohe Preise einerseits – fragwürdige Ersatzstoffe andererseits: da mag sich mancher gefragt haben, ob man nicht auf das Angebot des Schneidermeisters eingehen sollte – wenn man denn etwas zum Wenden oder einen Pelz zum Ausbessern hatte.

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