Die Kartoffeln und der „Steckrübenwinter“

Bergedorfer Zeitung, 17. Februar 1917

Bergedorfer Zeitung, 17. Februar 1917

Bergedorfer Zeitung, 17. Februar 1917

Bergedorfer Zeitung, 17. Februar 1917

Zwei Pfund Kartoffeln (fünf Pfund für Schwerarbeiter mit Zusatzkartoffelkarte), zehn Pfund Rüben und zwei Pfund Zwiebeln pro Kopf für eine Woche: das war der Kern der kargen Lebensmittelration in Bergedorf (hinzu kamen 1850 g Brot, 200 oder 250 g Fleisch mit eingewachsenem Knochen, 150 g Zucker, eine Kleinmenge von Nudeln, Reis oder Graupen, gelegentlich ein Ei, etwas Fisch oder auch Weißkohl, siehe BZ vom 3., 10. und 17. Februar 1917). Und das war viel weniger als nötig.

65.000 Zentner mecklenburgische Kartoffeln waren Bergedorf im September 1916 „zugewiesen“ worden (siehe den Beitrag Kaffeeersatz …). Damit hätte pro Kopf der Bevölkerung täglich ein Pfund zur Verfügung gestanden, doch die Kartoffeln kamen nicht in der benötigten Menge. Obwohl eine Bergedorfer Delegation nach Mecklenburg fuhr, um die Lieferung anzukurbeln, blieben die Kartoffeln irgendwo im Dreieck aus Landwirtschaft, überlastetem Transportwesen und überforderter (Militär-)Verwaltung lange hängen. Die schlecht ausgefallene Ernte und die Kälte taten ihr Übriges (siehe BZ vom 14. und 16. November, 9. und 27. Dezember 1916 sowie 22. Januar 1917).

Dennoch lag die Kartoffelration in Bergedorf im November 1916 bei einem Pfund pro Tag, wobei allerdings ersatzweise Steckrüben ausgegeben werden konnten (zwei Pfund Rüben für ein Pfund Kartoffeln). Im Dezember wurde die Kartoffelration halbiert; als Ersatz gab es Steckrüben. Im Februar dann gab es bald nur noch zwei Pfund Kartoffeln pro Woche und entsprechend noch mehr Steckrüben. In Geesthacht gab es zeitweise gar keine Kartoffeln, sondern nur Rüben (siehe BZ vom 13. und 17. November sowie 20. Dezember 1916, 3. und 17. Februar 1917).

Bergedorfer Zeitung, 27. Februar 1917

Bergedorfer Zeitung, 27. Februar 1917

Steckrüben wurden dem Brotteig beigemengt (anstelle von Kartoffeln, siehe den Beitrag K wie Kartoffel), auch wurden sie getrocknet oder eingesäuert (als Sauerkrautersatz). Mit Genehmigung der „Kriegsrübensaftgesellschaft m.b.H.“ konnte sirupartiger Rübensaft aus Zuckerrüben in den Handel gebracht werden, und es gab „Kriegsmarmelade“ oder „Kriegsmus“ auf Rübenbasis (siehe BZ vom 1. Dezember 1916, 2. Januar, 8. und 27. Februar 1917). Eine Rezeptzusammenstellung des Museums für Kunst und Gewerbe zeigt weitere Verwendungs- und Zubereitungsmöglichkeiten, ebenso verschiedene Kriegskochbücher. Kein Wunder, dass man vom „Steckrübenwinter“ sprach.

Woher kamen diese Unmengen von Steck- und anderen Rüben? Natürlich aus Umverteilung: das Verfüttern von Rüben (und vieler anderer gebräuchlicher Futtermittel, natürlich auch Kartoffeln) wurde den Landwirten per strafbewehrter Verordnung untersagt (siehe BZ vom 11. Oktober 1916 und 5. Januar 1917). Karge Zeiten auch für’s Vieh, das sich mit getrockneten „Ersatzfuttermitteln“ begnügen musste, die in der Chemischen Fabrik Billwärder, in den Strafanstalten Fuhlsbüttel und auf „Expressdarren“ der Hamburger Abfallverwertungsgesellschaft hergestellt wurden (siehe BZ vom 20. Februar 1917).

Bergedorfer Zeitung, 23. März 1917

Die Steckrübe fand sogar ihren Weg in einen Theaterabend: das Zollenspieker Fährhaus präsentierte „Die Ballade von der Steckrübe“. Vielleicht handelte es sich hierbei um ein Theaterstück in Anlehnung an den „Kartoffelkönig von Ochsenwärder“, der vier Wochen zuvor nur wenige hundert Meter elbabwärts bei Bahlmann gezeigt worden war, vielleicht aber auch um ein Gesangsstück, wie eine andere Anzeige (siehe BZ vom 21. April 1917) nahelegt.

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Keine Kohle, kein Gas, aber große Kälte

Bergedorfer Zeitung, 7. Februar 1917

Bergedorfer Zeitung, 7. Februar 1917

Die Bekanntmachung des Bergedorfer Gaswerks, dass wegen Kohlenmangels kein Gas produziert werden könne, dürfte die Bergedorfer, Sander und Geesthachter Gaskunden hart getroffen haben, denn es war ausgesprochen kalt: zwei Tage vorher hatte die BZ eine Nachttemperatur von –20 Grad gemeldet. Bei Geesthacht gab es „Eisstand“, d.h. dass keine Eisschollen mehr mit dem Elbstrom abflossen (siehe BZ vom 5. Februar 1917). Ein paar Tage später herrschte von Zollenspieker bis oberhalb Hitzacker „ein reger Verkehr“ über das Eis, erst eine Woche später konnten die Eisbrecher die „Eisbrücke“ bei Zollenspieker aufbrechen; weitere drei Tage brauchten sie bis Geesthacht (siehe BZ vom 9., 16. und 19. Februar 1917).

Bergedorfer Zeitung, 6. Februar 1917

Bergedorfer Zeitung, 6. Februar 1917

Die Appelle zur Verbrauchseinschränkung und das Verbot der Schaufensterbeleuchtung (siehe BZ vom 29. und 30. Januar 1917) hatten nicht ausgereicht, um die geringen Kohlevorräte zu strecken. Drei Tage lang konnte gar kein Gas produziert werden, dann zeitlich eingeschränkt und mit vermindertem Druck (siehe BZ vom 10. Februar). Diese Einschränkungen trafen auch die Bergedorfer Zeitung (und sicher viele andere Betriebe), die ihren Umfang reduzieren musste, und nicht zuletzt die Volksküchen, soweit sie mit Gas kochten.

Der Bedarf des Gaswerks konnte also nur zum Teil gedeckt werden; auch am 23. Februar gab es kein Gas, danach wieder mit „Sperrzeiten“ (siehe BZ vom 22. und 24. Februar). Solche Teil- und Totalausfälle kamen immer wieder vor, und im Mai erklärte das Werk, dass es künftig auf entsprechende Bekanntmachungen verzichten werde (siehe BZ vom 14. Mai). Besonders serviceorientiert war das nicht.

Der Kohlenmangel betraf natürlich nicht nur das Bergedorfer Gaswerk, sondern (mindestens) den ganzen Bereich des stellvertretenden Generalkommandos des IX. Armeekorps, das mit neuen Verordnungen des Mangels Herr zu werden suchte: schon Ende Januar war jegliche Schaufensterbeleuchtung verboten worden, ab Mitte Februar durften Kirchen, Säle, Kinos, alle Schulen (mit Ausnahme der Volksschulen) nicht mehr beheizt werden. Das Volksschul-Privileg nützte in Geesthacht allerdings nichts, denn dort hatte die Schule gar keine Kohle und der Unterricht fiel wochenlang aus. Ansonsten konnten vorhandene Vorräte mit besonderer Genehmigung aufgebraucht werden, sodass z.B. das Konzert der Hasse-Gesellschaft in der laut Anzeige „gut geheizten“ Aula der Stadtschule stattfinden sollte, während in Kirchwärder die Gottesdienste ausfielen. Die Hauptversammlung des Bergedorfer Bürgervereins fand ungeheizt statt, die Bücherhalle verschob ihren Unterhaltungsabend, und Ohffs Badeanstalt (Brunnenstraße 81) hatte nur noch an vier Wochentagen geöffnet, um einige weitere Beispiele zu geben (siehe BZ vom 30. Januar, 15. und 21. Februar, 3., 6., 8. und 9. März 1917). Zudem wurde die Ladenschlusszeit um eine Stunde vorverlegt und erst sechs Wochen später wieder auf 19:00 Uhr, Sonnabends und für Lebensmittelgeschäfte, Apotheken und Zeitungsverkaufsstellen 20:00 Uhr festgesetzt (siehe BZ vom 23. Februar und 4. April 1917). Auch der Bezug von Feuerungsmaterial, vulgo Kohlen, wurde in Bergedorf rationiert auf 50 Liter Steinkohle oder 75 Briketts pro Woche und Haushalt; Betriebe konnten bei nachgewiesenem größeren Bedarf „Feuerungsbezugsscheine“ erhalten, doch Karten und Scheine gaben „keinen Anspruch auf Lieferung …; sie sollen lediglich zur Regelung der Verteilung dienen.“ (Siehe BZ vom 6. März 1916.)

Nur selten dürfte die Hoffnung auf einen warmen Frühling so ausgeprägt gewesen sein wie in diesem.

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Das Wahlrechtsreförmchen in Bergedorf

Bergedorfer Zeitung, 13. Februar 1917

Nicht alles, was länger währt, wird auch wirklich gut. Aber der Sozialdemokrat Wiesner wollte gar nicht die Taube auf dem Dach, sondern nur endlich den Spatz in der Hand. Er bekam ihn in gerupfter Form.

Im Klartext: es ging um die Reform des Wahlrechts zur Bergedorfer Stadtvertretung. Wählen durfte,  wer ein Jahreseinkommen von 1.400 Mark (nicht 1.500 M, wie es mehrfach im Artikel heißt) versteuerte. Dieser Wert sollte eine Wiederholung des sozialdemokratischen Erfolgs von 1910 verhindern, als gleich drei von ihnen ins Stadtparlament gewählt worden waren (siehe Uwe Plog und die Beiträge Neue Ratmänner und Wahlen zur Bürgervertretung sowie Der Rückblick auf das Jahr 1914: Bergedorf). Nach den im Artikel wiedergegebenen Worten des Bürgermeisters war der Zensus „einzig und allein aus parteipolitischen Gründen“ heraufgesetzt worden, um „die Sozialdemokratie als staatsfeindliche Partei“ von Mandaten und Macht fernzuhalten.

So kann man gut verstehen, dass die Sozialdemokraten mit dem geltenden Wahlrecht nicht einverstanden waren. Wiesner forderte für Bergedorf aber nicht etwa die Einführung des Reichstagswahlrechts (allgemeines und gleiches Männerwahlrecht) oder gar zusätzlich das Stimmrecht für Frauen, sondern nur die Herabsetzung des Zensus auf 900 M. Dies war auch schon 1914 Gegenstand eines Antrags gewesen, der abgelehnt worden war, und seinen im Kern identischen Antrag von 1915 hatte er noch vor der Beratung „vorläufig zurückgezogen“ (siehe BZ vom 29. November 1914 und 13. Februar 1915). Jetzt ließ er ihn wieder aufleben, denn er hatte ein neues Argument: die Gleichberechtigung im Schützengraben müsse auch zur Gleichberechtigung in der Heimat führen. Unausgesprochen forderte er die Belohnung für die den Krieg unterstützende Haltung der Sozialdemokraten ein.

Dem Bv. (Bürgervertreter) Behr ging die Forderung zu weit, dem Bv. Rühl nicht weit genug; die Kompromisslinie war dann (von Bv. Dr. Ohly und Bürgermeister Dr. Walli vorgeschlagen) ein Zensus von 1.200 M. Ob Wallis Argumentation frei von Widersprüchen war, mag hier dahingestellt sein – aber es gelang ihm, die fast einstimmige Annahme seines Vorschlags zu erreichen.

War Wiesner also erfolgreich? Das allgemeine und gleiche Wahlrecht für Männer und Frauen blieb als „Taube auf dem Dach“, die Herabsetzung des Zensus war der „Spatz in der Hand“, aber er hatte viele Federn lassen müssen. Der Taktierer Wiesner wird mit dem Ergebnis zufrieden gewesen sein: er konnte seinen Genossen eine Wahlrechtsreform als Erfolg verkünden, und er hatte seine Stellung in der Bergedorfer Kommunalpolitik gefestigt.

Der Spatz verstarb, bevor seine Flugtauglichkeit überprüft werden konnte, d.h. bis zum Kriegsende fand keine Wahl mehr statt. Die Taube landete in Bergedorf am 13. April 1919.

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Der Ausbau der Bahnstrecke Bergedorf – Geesthacht

Bergedorfer Zeitung, 6. Februar 1917

Bergedorfer Zeitung, 6. Februar 1917

Der zweigleisige Ausbau der Bahnstrecke zwischen Bergedorf und Geesthacht war keine Konsequenz aus dem Eisenbahnunglück wenige Wochen zuvor (siehe den Beitrag Der schwere Eisenbahnunfall …), aber er verringerte natürlich die Gefahr weiterer Kollisionen. Der Ausbau erfolgte, weil die Strecke schlicht überlastet war, denn immer mehr Arbeiter von Pulverfabrik und Dynamitwerken kamen per Bahn, und auch die in Düneberg und Krümmel in immer größeren Mengen erzeugten Produkte wurden auf dem Schienenwege transportiert.

Nun hatte also Preußen die Ausbaugenehmigung auf seinem Gebiet erteilt, unter dem Vorbehalt der „etwa über die bisherigen militärischen Verpflichtungen hinaus vom Herrn Kriegsminister zu stellenden Anforderungen“. Aus dem „Hindenburg-Programm“ des Kriegsministeriums sollten 2,7 Millionen Mark der auf 4,6 Millionen Mark kalkulierten Gesamtkosten beglichen werden (vgl. Olaf Krüger, S. 100f.).

Bergedorfer Zeitung, 17. Januar 1917

Bergedorfer Zeitung, 17. Januar 1917

Die Bedeutung der Ausbaumaßnahme für das Militär wird durch die Bereitstellung von 100 Soldaten als Arbeitskräfte unterstrichen, für die die BGE in Erwartung der Genehmigung schon einige Wochen vorher Quartier einschließlich Verpflegung gesucht hatte, wobei die „Lebensmittel bahnseitig gestellt“ werden sollten. Der BZ war nicht mit Sicherheit zu entnehmen, wo genau die Unterbringung letztlich erfolgte: nur anlässlich eines Diebstahls wird einmal ein „Mannschaftsraum der Baukompagnie“ im Bergedorfer Portici erwähnt (siehe BZ vom 27. August 1917) – ob auch die für den Bau der Krümmel-Bahn errichteten „Russenbaracke“ (siehe die Abbildung bei Olaf Krüger, S. 128) genutzt wurde, muss offen bleiben; jedenfalls existierte diese Baracke noch, wie sich aus einer Anzeige in der BZ vom 9. Juni 1917 ergibt: einer im Bahnbau tätigen Firma waren dort Eisenbahnschwellen (und am Bahnhof Düneberg große Tonröhren) gestohlen worden.

Mit den einhundert Bahnbau-Soldaten war der Bedarf offenbar nicht gedeckt, denn mehrfach inserierten Firmen auf der Suche nach Erd-, Beton- und Gleisarbeitern für den Bereich Bergedorf-Süd – Holtenklinke (siehe BZ vom 19., 21., 24. und 26. März sowie 20. und 25. April 1917).

Bergedorfer Zeitung, 24. März 1917

Eine große Baumaßnahme, über die in der Bergedorfer Zeitung ansonsten keine Zeile zu finden war, konnte im Frühjahr 1917 übrigens abgeschlossen werden, wie sich aus einer kleinen Anzeige der BGE (siehe BZ vom 24. März 1917) ergibt: „wegen Einlegung durchfahrender Züge zwischen Hamburg (Hauptbahnhof) und Düneberg bezw. Geesthacht“ gab es eine Fahrplanänderung. Für diese Zugverbindung war in Höhe des Oberen Landwegs eine Abzweigung von den Staatsbahngleisen Richtung Bahnhof Bergedorf-Süd mit neuer Überbrückung des Schleusengrabens geschaffen worden, womit die ursprüngliche Trasse und Verbindung von 1842 wiederhergestellt war (siehe den Beitrag Das „Italienische Viertel“ und die Karte 1875).

Wohl ebenfalls in diesem Jahr wurde ein vom Bahnhof Besenhorst abzweigendes „Personenzuggleis“ zu einem neuen Betriebsteil (Tri-Fabrik) der Pulverfabrik gelegt, was die Reisezeit für die dort Beschäftigten weiter erheblich verkürzte; die Station erhielt den Namen „Düneberg-West“ (vgl. Jürgen Opravil, S. 55).

Fertiggestellt wurde der zweigleisige Ausbau auf der Gesamtstrecke zwischen Bergedorf und Geesthacht im April 1918, letzte Arbeiten zogen sich bis ans Kriegsende (vgl. Olaf Krüger, S. 100f. und Stefan Meyer, S. 27). Kurz nach Ende des Krieges wurde die Pulverfabrik stillgelegt (vgl. die Seite des Industriemuseums Geesthacht), das Gleis nach Düneberg-West demontiert und das dortige Bahnhofsgebäude abgerissen. Auch die Verbindung zur Staatsbahn verschwand wieder, und 1923 folgte der Abbau des zweiten Gleises zwischen Bergedorf und Geesthacht (vgl. Jürgen Opravil, S. 58ff., S. 116).

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Bergedorf bekommt ein Stadthaus

Bergedorfer Zeitung, 24. Januar 1917

Bergedorfer Zeitung, 24. Januar 1917

Dienststelle für Dienststelle zog Bergedorfs Verwaltung um, denn mit den kriegsbedingt gewachsenen kommunalen Aufgaben wuchs auch die Administration und ihr Raumbedarf, wie schon im Beitrag Der Krieg und die Verwaltung dargestellt wurde. Zunächst hieß es, die Dienststellen zögen „in die ehemalige Hansa-Schule“, und ab Herbst 1916 wurde die Bezeichnung „Verwaltungsgebäude“ auch in offiziellen Bekanntmachungen verwendet. Jetzt war der letzte Schritt erfolgt: mit dem Umzug der Geschäftsräume des Magistrats hatte die gesamte Bergedorfer Verwaltung das Schloss verlassen, in dem jetzt nur noch das landherrenschaftliche Büro und das Amtsgericht residierten (siehe den Beitrag Das Schloss und seine Nutzungen). Der neue Verwaltungssitz wurde nunmehr als „Stadthaus“ tituliert und ähnlich multifunktional genutzt wie vorher das Schloss, denn hier quartierte man auch die Kartoffelausgabestelle und eine Volksküche sowie unter dem Dach die Heimatsammlung des Bergedorfer Bürgervereins ein, und nach Einrichtung des Öffentlichen Arbeitsnachweises fand dieser hier ebenfalls Platz (siehe BZ vom 4. und 17. Juni 1917).

Das „Verwaltungsgebäude“ oder „Stadthaus“ (mit späterem Erweiterungsbau), Ansicht 2017

Der Begriff „Rathaus“ kam erst 1927 zum Tragen, als die Verwaltung der Stadt Bergedorf ihr neues Quartier in der für die damaligen Ansprüche funktionsgerecht umgebauten Messtorffschen Villa bezog (siehe den Beitrag Der Prinz von Bergedorf und seine Residenz).

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Bergedorfs erste Zahnklinik

Bergedorfer Zeitung, 20. Januar 1917

Bergedorfer Zeitung, 20. Januar 1917

Die Eröffnung der gemeinsamen Zahnklinik der AOK Bergedorf, der AOK Reinbek sowie der Betriebskrankenkassen des Bergedorfer Eisenwerks und der Pulverfabrik Düneberg war sicher ein großes Ereignis und ein großer Fortschritt in der Zahnbehandlung am Ort: die im Artikel beschriebene Einrichtung dürfte dem Stand der Technik und der Zahnheilkunde entsprochen haben, und dem dort angestellten Zahnarzt  Zincke sollte noch ein Assistenzzahnarzt beigegeben werden.

Die Träger der Zahnklinik erhofften sich, wie der Bergedorfer AOK-Geschäftsführer Tonn in seiner (hier nicht wiedergegebenen) längeren Rede zur Einweihung ausführte, nicht nur „die Hebung und Förderung der Volksgesundheit“, sondern auch Kostenersparnisse gegenüber der Behandlung in Privatpraxen, und für die Versicherten sei von Vorteil, dass „ein Teil der leidigen ‚Zuzahlungen‘ ganz fortfalle“.

Die angesprochenen Privatpraxen in Bergedorf waren zweierlei Art: zwei wurden von (studierten) Zahnärzten geführt, von denen der eine seine Praxis gerade nach Hamburg verlegt hatte, vielleicht wegen der neuen Konkurrenzsituation. Eine deutlich größere Zahl wurde von (nicht-akademischen) Dentisten oder „Zahnkünstlern“ geführt (siehe den Eintrag Dentist bei Wikipedia), von denen einige immer wieder per Annonce auf sich aufmerksam machten (wobei Koptons Anzeigen 1917 kleiner und schlichter ausfielen als die hier abgebildete), darunter auch eine Frau, die der Kassen-Zahnklinik zum Trotz Anfang 1917 ihre Praxis in der Holstenstraße eröffnete und bis mindestens 1924 betrieb (siehe Hamburger Adreßbuch 1924, dort als Zahntechnikerin verzeichnet).

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Ausdruckstanz in Bergedorf

Bergedorfer Zeitung, 17. Januar 1917

Bergedorfer Zeitung, 17. Januar 1917

Die Anzeige des Bergedorfer Konservatoriums von Anton Mau war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: die von ihm verlangten Eintrittspreise bis zu 3,30 Mark waren für damalige Verhältnisse ausgesprochen hoch (zum Vergleich: am gleichen Tag warb das Zollenspieker Fährhaus für ein Wohltätigkeitskonzert mit dem damals berühmten Hamburger Tenor Heinrich Bötel und verlangte für die besten Plätze 1,50 Mark). Für Bergedorf neu und überhaupt erstaunlich war der angekündigte Auftritt einer „Kunst- und Solo-Tänzerin“. Sie gab zudem Tanzkurse, obwohl schon 1914 Tanzveranstaltungen verboten worden waren (siehe BZ vom 24. November 1914), selbst wenn Tanzkurse vorgeblich „die beste Vorbildung für den Militärdienst“ bildeten, wie in einer Anzeige formuliert war (siehe BZ vom 13. Oktober 1914).

Bergedorfer Zeitung, 3. Februar 1917

Frau Holzes Angebot war aber offensichtlich anderer Art: obwohl der Veranstalter für die Aufführung Lustbarkeitssteuer entrichten musste, stellte er in der Annonce klar, dass es sich bei den Kursen um ein ernstes Studium handelte (also keine Lustbarkeit und daher steuerfrei), das man sehr wohl auch im Krieg aufnehmen konnte. Die sehr ausführliche Kritik des Konzert- und Tanzabends, die die BZ am Tag danach brachte, macht dies auch deutlich: Lola Holze orientierte sich am Ausdruckstanz, der von Isadora Duncan geprägt und von ihr und ihrer Schwester an der Elizabeth-Duncan-Schule gelehrt wurde – und so etwas war für das betuliche Bergedorf neu und eigenartig, wie der (überraschenderweise begeisterte) Kritiker konstatierte.

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Die Sander Volksbibliothek

Bergedorfer Zeitung, 12. Januar 1917

Bergedorfer Zeitung, 12. Januar 1917

Zwar hatte sich die Zahl der Ausleihungen aus der Sander Volksbibliothek 1916 mehr als verdoppelt, aber die Einwohner Sandes scheinen deutlich weniger lesefreudig gewesen zu sein als die Bergedorfer: 4.730 Bücher wurden in Sande kostenfrei ausgegeben (und hoffentlich auch zurückgebracht) – bei etwa 7.000 Einwohnern also 0,67 Bücher pro Kopf. In Bergedorf hatte es im Jahr zuvor 42.560 entgeltpflichtige Entleihungen gegeben, bei gut 15.000 Einwohnern also 2,78 Bücher pro Kopf (siehe den Beitrag Die Bücherhalle: Bergedorf liest). Vermutlich ist diese Differenz auf die unterschiedlichen Sozialstrukturen zurückzuführen.

Von den im Zeitungsbericht aufgeführten Autoren sind manche heute nahezu vergessen – Anfang 1917 konnte man aufgrund ihres Bekanntheitsgrads auf die Nennung der Vornamen verzichten, und auch wenn (Walter) Bloem im Artikel falsch geschrieben ist, dürften literarisch Interessierte damals gewusst haben, wer gemeint war. Die beliebtesten Autoren in Sande waren neben Bloem also (Ludwig) Ganghofer, (Rudolf) Herzog, (Jakob Christoph) Heer, (Felix) Dahn, (Gustav) Freytag, (Peter) Rosegger und (Theodor) Storm. Werke all dieser Autoren findet man in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg – in Marcel Reich-Ranickis Literaturkanon hat es allerdings nur Storm geschafft.

Die Gewerkschaftsbewegung hatte übrigens ihre eigenen Bibliotheken: 1916 wurden in Geesthacht 2.151 Bücher ausgeliehen, in Bergedorf/Sande 2.920. Für Geesthacht wurde die Mitgliederzahl mit 631 angegeben (siehe BZ vom 21. März und 7. April 1917), d.h. dass 3,41 Bücher pro Kopf ausgeliehen wurden, wenn die Ausleihe nur an Gewerkschaftsmitglieder erfolgte, die damit den Spitzenplatz unter den Bücherfreunden einnahmen.

 

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Radfahren ohne Bereifung – oder mit Ersatz

Bergedorfer Zeitung, 6. Januar 1917

Bergedorfer Zeitung, 6. Januar 1917

Die Probleme der Radfahrer nahmen zu: schon Anfang Juni 1916 war jegliche „Benutzung von Fahrrädern zu Vergnügungsfahrten“ durch die Militärbehörden untersagt worden, bei einem Verstoß gegen die Regelung drohte ein Jahr Gefängnis (siehe den Beitrag Kein Radrennen). Nur wenige Wochen später gab es die nächste Hiobsbotschaft für Radler: alle Fahrradbereifungen (Decken und Schläuche) wurden beschlagnahmt, die „freiwillige Ablieferung“ bei den Sammelstellen (Landherrenschaftliches Bureau im Bergedorfer Schloss, Polizeistation Geesthacht, Gemeindeverwaltung Sande) wurde „empfohlen“, und es sollte eine nach Qualität der Bereifung abgestufte finanzielle Entschädigung geben – und ab dem 12. August durfte nur noch zu Berufs- und Geschäftszwecken mit einer Erlaubniskarte der Militärbehörde gefahren werden (siehe BZ  vom 16. Juni, 24. Juli und 11. August 1916).

Es war aber keine Schikane der Militärs, die hinter den Maßnahmen stand, weil man den Zivilisten den Sport und das Vergnügen vermiesen wollte, sondern Folge des Gummimangels: von Kautschukimporten war Deutschland abgeschnitten, und synthetischen Kautschuk gab es noch nicht.

Der Erfolg der Aufrufe zur freiwilligen Abgabe bis zum 15. September war wohl geringer als erwartet: in der ersten Sammelphase wurden nur ganze Stücke mit vollständigen Ventilen einschließlich der Verschlussmuttern akzeptiert, doch dann wurde die Frist mehrfach verlängert und auch zerschnittene Bereifung war (als Altgummi) abzuliefern. Nach dem 15. Januar 1917 folgte dann aber tatsächlich die Enteignung, bei 10% Preisabschlag (siehe BZ vom 7., 12. und 20. September, 10. Oktober und 20. Dezember 1916).

Für die Fahrradfreunde gab es aber bald ein Hintertürchen, „Ersatzbereifung“ genannt, und immer wieder wurde diese im Anzeigenteil der BZ angeboten. Den Reigen eröffnete C. Ad. Riege mit „Tau-Bereifung“, H. Falke bot zunächst undifferenziert „beschlagnahmefreie Fahrradbereifung“ an, später die Spiralfederbereifung „Spirala“.

1917 stiegen dann auch Berliner Versandhändler in dieses Geschäftsfeld ein:

Ob das Fahren mit derartigen Ersatzlösungen vergnüglich war? Das darf bezweifelt werden, aber es war doch eine Alternative zum Zufußgehen – und mit diesen Bereifungen konnte 1917 sogar ein Rennen gefahren werden, wie im Sportalbum der Radwelt, XVI. Jahrgang 1917/18 , S. 17f. nachzulesen ist: bei der Ersatzreifenfahrt Berlin – Zossen – Berlin (50 km) betrug die Siegerzeit 1:54:24,1, und auch die Hersteller wurden prämiert: „Im Fabriken-Wettbewerb fiel der 1. Preis an die Loc-Fabrik elastischer Radbereifung G. m. b. H. Mainz-Kostheim und der zweite Preis an Stückgold-Adlerwerke vorm. Heinr. Kleyer A.-G., Filiale Berlin.
Mit dieser Fahrt hatte es sein Bewenden. Dem Beispiele des Bundes folgten zwar einige kleine Vereine, aber eine die Allgemeinheit interessierende Fahrt kam im Jahre 1917 nicht mehr zustande.“

Fahrrad mit Taubereifung, Aufnahme 2014 im Museum der Arbeit Hamburg

Fahrrad mit Taubereifung, Aufnahme 2014 im Museum der Arbeit Hamburg

Das nebenstehende Amateurfoto wurde in der Fahrradausstellung des Hamburger Museums der Arbeit aufgenommen. Die Fahrradausstellung des Deutschen-Technik-Museums Berlin, aus der das Fahrrad stammt, ist derzeit geschlossen. Im Deutschen Museum Verkehrszentrum München sind zwei Systeme von Stahlfeder-Bereifungen ausgestellt (Fotos bei Wikipedia). Ob hierunter die „Siegertypen“ des genannten Radrennens waren, ist unbekannt.

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Die schwarzen Blattern in Geesthacht und Bergedorf

Bergedorfer Zeitung, 2. Januar 1917

Bergedorfer Zeitung, 2. Januar 1917

Auch wenn die Gerüchte weit übertrieben gewesen sein sollten – das Auftreten der schwarzen Blattern (Pocken) war schon ein Grund zur Besorgnis. „Erkrankungen in Geesthacht und in vereinzelten Fällen auch in Bergedorf“ wurden hier gemeldet, und aus späteren Berichten wird erkennbar, dass von den 34 Fällen im Hamburger Staatsgebiet, davon 21 in der Stadt Hamburg, mindestens acht auf den Raum Geesthacht/Bergedorf entfielen (siehe BZ vom 19. Januar, 1. und 10. Februar 1917). Die Krankheit hatte sich von Schleswig-Holstein aus in Norddeutschland verbreitet, angeblich besonders durch Landstreicher und die Bewohner von Herbergen (siehe BZ vom 1. März 1917; zu den Herbergen in Bergedorf siehe Zu Gast in Bergedorf, S. 22ff.). An den Pocken Erkrankte aus dem Bergedorfer Raum kamen in die abgeschlossene Infektionsabteilung des Bergedorfer Krankenhauses, später dann auf Drängen Bürgermeister Wallis in Hamburger Kliniken, was der Bürgervertreter (und Arzt) Dr. Lüders auch wegen der hohen Transportkosten für unnötig hielt (siehe BZ vom 10. Februar und 1. März 1917).

Gartenseite des Bergedorfer Krankenhauses - im östlichen Flügel (rechts im Bild) der Eingang zur Infektionsabteilung (Ansichstkarte von ca. 1912)

Gartenseite des Bergedorfer Krankenhauses – im östlichen Flügel (rechts im Bild) der Eingang zur Infektionsabteilung (Ansichtskarte von ca. 1912)

Bergedorfer Zeitung, 16. Februar 1917

Bergedorfer Zeitung, 16. Februar 1917

Der Staat reagierte: ab dem 19. Februar, d.h. gut sechs Wochen später, konnten sich Erwachsene in der Stadtschule impfen lassen. Nicht nur für alle Herbergs-Bewohner, sondern auch für alle Arbeiter in Betrieben für Militärlieferungen wurde die (Auffrischungs-)Impfung sogar als verbindlich angeordnet (siehe BZ vom 16. Februar und 1. März 1917) – die Rüstungsproduktion sollte auf keinen Fall gefährdet werden. Die turnusmäßige Erstimpfung und Nachschau für Kinder fand wie in den Vorjahren im April statt (siehe BZ vom 16. März 1917).

In der meist wöchentlich von der BZ gedruckten Rubrik über meldepflichtige Krankheiten in der Landherrenschaft Bergedorf tauchten die Pockenfälle übrigens nicht auf; nur immer wieder Diphtherie, Masern, Scharlach und auch Kindbettfieber. Da auch sonst keine Meldungen über Pockenerkrankungen in den nächsten Monaten zu finden waren, kann man aber davon ausgehen, dass die Maßnahmen erfolgreich waren.

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