Die Revolution erreicht Bergedorf

Bergedorfer Zeitung, 7. November 1918

Die Ereignisse überschlugen sich: „Blutige Krawalle in Kiel“ (5. November 1918), „Ruhestörungen in Hamburg“ (6. November), „Die aufständische Bewegung – Ein Aufruf des Hamburger Arbeiter- und Soldatenrats“ (7. November) lauteten Schlagzeilen der Bergedorfer Zeitung, und spätestens vor Redaktionsschluss am 7. November traf in Bergedorf eine Abordnung des Arbeiter- und Soldatenrats aus Hamburg ein, die hier offenbar für Ruhe sorgen wollte: Kundgebungen und „Straßenansammlungen“ sollte es nicht geben, „Ausschreitungen und Plünderungen“ sollten mit „sofortigem Erschießen“ bestraft werden.

Die nächsten zwei Tage brachten dann weitere Informationen:

Bergedorfer Zeitung, 8. November 1918

Bergedorfer Zeitung, 9. November 1918

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bergedorfer Zeitung, 8. November 1918

Das Kommando von 30 Mann übernahm also für den Hamburger Arbeiter- und Soldatenrat die Verwaltung der Stadt Bergedorf. Dem beugte sich Bürgermeister Walli: per Anzeige appellierte er an die Männer und Frauen Bergedorfs, Besonnenheit zu bewahren und sich den Anordnungen des Hamburger Arbeiter- und Soldatenrats, der ja die Ordnung aufrechterhalten wolle, zu fügen: „Die Organe der Behörde unterstützen den Arbeiter- und Soldatenrat in diesem Bestreben.“ (BZ vom 8. November 1918) Das klang alles sehr harmlos und friedlich, aber die Maßnahmen wie die Vorzensur, die die Revolutionäre über „Flugschriften“ ausüben wollten, nächtliche Ausgangssperre, Verdunklung und Androhung des Standrechts mit Erschießungen waren doch sehr weitgehend.

Im Gegensatz zu Hamburg war die Revolution in Bergedorf unblutig: zwar fielen Schüsse, aber niemand wurde davon getroffen, und über standrechtliche Erschießungen wurde auch in den nächsten Wochen nicht berichtet.

Schon am nächsten Tag näherte man sich der kleinstädtischen Ruhe und Normalität weiter an, wie der Artikel vom 9. November zeigt – die BZ führte dies auf die Mitwirkung des „sozialdemokratischen Organisationen“ in der Leitung des Hamburger Arbeiter- und Soldatenrats zurück, die ebenso in Bergedorf stattfand: war die erste Bekanntmachung am 8. November unterzeichnet mit „Der Hamburger Arbeiter- und Soldatenrat für Bergedorf. I. A.: Hopf“, so zeichnete am 9. November „Der Arbeiter- und Soldatenrat für Bergedorf“ und dann am darauffolgenden Montag, dem 11. November „Für den Arbeiterrat: Storbeck – Für den Soldatenrat: Thies“. (Karl) Storbeck war einer der Führer des Bergedorfer Gewerkschaftskartells und von 1918 bis 1920 sozialdemokratischer Ratmann in Bergedorf (siehe die Zusammenstellung bei Uwe Plog). Die Vorsitzenden des Soldatenrats waren laut Alfred Dreckmann (S. 40) „Kurt Thies und ein aus Kiel stammender Matrose Vorhöfer“. Vorhöfer zeichnete in der folgenden Zeit ebenfalls manchmal Bekanntmachungen (z.B. BZ vom 16. November), aber weitere biographische Informationen liegen nicht vor.

Bergedorfer Zeitung, 11. November 1918

Im Portici befand sich das Büro des Soldatenrats – der Wirt dieses Lokals hatte Erfahrung mit der Unterbringung von Soldaten, wie aus dem Beitrag Der Ausbau der Bahnstrecke Bergedorf – Geesthacht ersichtlich. Das Büro des Arbeiterrats befand sich in der Gaststätte des SPD-Stadtvertreters Christian Piel, Am Pool 11 (heute: Am Pool 41), das in der Weimarer Republik zum Zentrum der SPD und der Gewerkschaften wurde (siehe Bergedorf im Gleichschritt, S. 40f.). Die SPD ist dort noch heute zu finden; die Gewerkschaften haben 2017 ein anderes Quartier am Serrahn bezogen, und die Gastwirtschaft ist seit einiger Zeit geschlossen.

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In ernster Zeit: das Kriegsanleihethermometer

Bergedorfer Zeitung, 31. Oktober 1918

Bergedorfer Zeitung, 2. November 1918

 

 

 

 

 

 

Eine ernste Zeit war es wirklich, in der Ferdinand Ohly, der Direktor der Hansa-Schule, seine Schüler aufforderte, Geld für die neunte Kriegsanleihe zu geben. Die Luisenschule hatte offenbar ein Kriegsanleihethermometer, das mit den Zahlungsversprechen stieg, und die ebenfalls private Elisabethschule forderte ihre Schülerinnen auch zur Zeichnung auf. Dies geschah per Zeitungsanzeige, da die Schulen wegen der Grippe geschlossen waren.

Anzeige in der BZ, 24. September 1918

Die Werbung für die Kriegsanleihe hatte im September begonnen, als die BZ dreispaltige Schlagzeilen mit Kriegserfolgen druckte: „Im August 565 feindliche Flugzeuge abgeschossen (9. September), „Französische und englische Angriffe gescheitert“ (11. September), „Paris mit 22.000 Kilo Bomben beworfen“ (16. September).

Anzeige in der BZ, 5. November 1918

Ende Oktober gab es andere Überschriften: „Rücktritt Ludendorffs“ (28. Oktober) und „Das Ende des Zweibundes“ (29. Oktober). Ein ungenannter Kommentator stellte  fest: „Dieser Krieg ist verloren!“ (30. Oktober), und die neue Reichsregierung unter Prinz Max von Baden diskutierte, ob die Abdankung des Kaisers einen erträglicheren Frieden bringen würde (2. November). Die Werbung für die Kriegsanleihe ging dennoch weiter.

Wann genau die Zeichnungen der Schülerinnen und Schüler erfolgten, ist nicht zu klären, und auch nicht die Höhe der Beträge, denn detaillierte Angaben fehlen: nur die Gesamtsumme für die Stadt Bergedorf fand sich in der Zeitung: über 3,4 Millionen Mark (BZ vom 7. November). Auf die achte Kriegsanleihe (Bergedorfer Ergebnis: über 4 Millionen Mark) hatten Luisenschülerinnen 30.300 Mark, Hansaschüler 25.014,50 Mark, Elisabethschülerinnen 4.616 Mark und die Schülerinnen und Schüler der drei Stadtschulen 6.500 Mark gezeichnet (BZ vom 19. April 1918) –unterschiedliche Zahlungskraft wird dabei sicher eine Rolle gespielt haben, vielleicht aber auch Zahlungsbereitschaft.

Am 10. November 1918 druckte die BZ die  Waffenstillstandsbedingungen. Sie wurden am 11. November unterzeichnet.

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Flaschenrecycling 1918

Bergedorfer Zeitung,   2. November 1918

Kaum jemand wird 1918 seine geleerten Weinflaschen einfach in den Hausmüll geworfen haben (Glascontainer oder Pfandregale gab es ja noch nicht), denn man konnte sie verkaufen, zum Beispiel an Hans Schultes aus Altona, der die Flaschen abholte, was die Sache ja noch bequemer machte. Zweiundzwanzigmal inserierte Schultes in jenem Jahr in der Bergedorfer Zeitung – wenn er von der Zeitung keinen Rabatt erhielt, war das durchaus kostenintensiv: für „Reklame“ war pro Petitzeile eine Mark zu bezahlen (für Anzeigen aus dem Leserkreis nur 30 Pfennig pro Petitzeile), eine Schultes-Anzeige kostete also etwa 14 Mark, macht insgesamt gut 300 Mark Insertionskosten.

Daraus kann man schließen, dass die Bergedorfer – Krieg hin, Krieg her – ein trinkfreudiges Völkchen waren, was auch durch einige Annoncen bestätigt wird: das „Waldhaus“ am Möörkenweg an der Bille (siehe die Karte 1904, dort Nr. 31) bot 500 Weinflaschen zum Verkauf, nicht zu identifizierende Inserenten aus der Brauerstraße mehrere hundert (BZ vom 11. April, 2. August und 23. November 1918).

Möglicherweise waren diese Flascheneigner nicht mit den gebotenen Preisen zufrieden, obwohl Schultes mehr zahlen wollte als andere Flaschensammler: die Firma Flaschen-Engros Wessel Meylink kaufte zu 15 Pfennig, Otto Danielsen 18 Pfennig (BZ vom 12. April und 29. Oktober); eine Hamburger „Flaschenzentrale“ nannte ihre Preise ebenso wenig wie die lokalen Aufkäufer Oehr und Knüppel (BZ vom 10. Januar, 13. April und 8. Oktober).

Bergedorfer Zeitung,   4. Juni 1918

Vorsichtige Leute haben an ihren Flaschen aber festgehalten und konnten dann von einem besonderen Angebot Gebrauch machen: wer den Markenessig Surol kaufen wollte, musste seine Flasche(n) mitbringen, wenn sie bzw. er denn wusste, wo der Essig aufgefahren wurde – die Anzeige verriet den Anbieter und den genauen Ort jedenfalls nicht, wenn man auch den Bergedorfer Markt vermuten darf.

Bergedorfer Zeitung, 27. August 1918

Ob wirklich Surol in die Flaschen gefüllt wurde? Das war nicht völlig sicher, und vielleicht deshalb verkaufte August Gerhus die Produkte des königlichen Hoflieferanten Kühne in Originalflaschen und ließ sich dabei die Flaschen extra bezahlen.

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Die trockenstehende und andere Ziegen

Bergedorfer Zeitung, 23. Oktober 1918

Ist es gut, wenn eine Ziege trockensteht? Der Geesthachter Lehrer Otto Müller wollte eine solche, fünf Jahre alt, für 80 Mark verkaufen. War das nun ein hoher oder ein günstiger Preis? Klären wir eins nach dem anderen und thematisieren die Ziegenhaltung im Ersten Weltkrieg generell.

Das Trockenstehen ist nach Stanislaus von Korn/Ulrich Jaudas/Hermann Trautwein (S. 54) normal für eine Milchziege: „Wenn sich die Laktationsleistung nach 250 bis 300 Tagen deutlich vermindert hat, sollten die Milchziegen trockengestellt werden. Die Trockenstehphase ist für die Ziege eine wichtige Regenerationsphase sowie Vorbereitung auf die nächste Geburt und die neue Laktation. In dieser Zeit soll die Ziege wieder einen optimalen Konditionszustand erlangen. Bei einigen Tieren versiegt die Milch 6 bis 8 Wochen vor der Ablammung von selbst.“

Die Ziegenpreise wiesen eine beträchtliche Spannweite auf: laut BZ vom 11. Juni 1918 musste man für gute Tiere bis 300 Mark bezahlen, in Anzeigen wurden 230 bis 260 Mark, für eine Ziege mit halbjährigem Lamm 280 Mark verlangt (BZ vom 1. und 3. Oktober 1918) – da war Müllers Forderung sehr zurückhaltend, wobei man berücksichtigen muss, dass seine Ziege bereits in vorgerücktem Alter war, in dem die (Milch-)Leistung deutlich nachlässt (von Korn et.al., ebd., S. 60).

Die Ziegenhaltung war in dieser Zeit durchaus beliebt: die Viehzählung 1916 verzeichnete allein in der Stadt Bergedorf 138 Ziegen (BZ vom 12. Dezember 1916, die Ergebnisse der weiteren Zählungen wurden nicht publiziert). Den zahlreichen Verkaufsanzeigen nach zu urteilen, wohnten die meisten Halter im Osten der Stadt (Brunnenstraße, Brookdeich), aber auch aus dem Villenviertel (Moltkestraße, Grüner Weg) gab es im September/Oktober 1918 Inserate.

Bergedorfer Zeitung, 9. Oktober 1918

Das Interesse an Ziegen beruhte vor allem darauf, dass sie Milch lieferten und geschlachtete Lämmer die Fleischration aufbesserten. Die Landherrenschaften förderten die Haltung, indem sie Ziegen aus dem Ausland beschafften und an Interessenten verkauften, die Bergedorfer Zeitung unterstützte dies durch Tipps zur Ziegenhaltung und sprach von der „Kuh des kleinen Mannes“ (BZ vom 17. August 1916 und 19. Juli 1917 und 11. Juni 1918). Die Gemeinsamkeit mit der Kuh lag vor allem in der Milchabgabe, und an Kuhmilch war ja kaum heranzukommen (siehe den Beitrag 55 Paragraphen zum Milchverbrauch).

Das „Decken fremder Ziegen“ war übrigens streng reguliert: diese Aufgabe durften nur von der „Körungs-Kommission“ zugelassene Böcke (geboren vor dem 1. April, frei von Erbfehlern, mit Abstammungsnachweis) übernehmen, die dem Zuchtziel der „der  weißen, hornlosen, kurzhaarigen Saanenziege“ entsprachen. Von den 1918 in Hamburg angekörten 46 Tieren standen 28 im Gebiet der Landherrenschaft Bergedorf, darunter zwei in der Stadt Bergedorf (BZ vom 9. September 1918).

Bergedorfer Zeitung, 20. August 1918

 

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Der schwierige Start des Sander Lichtspielhauses

Bergedorfer Zeitung, 25. Oktober 1918

In Bergedorf gab es seit Jahren zwei Kinos: das „Kino-Varieté“ am Mohnhof, das im Sommer 1918 in „Bergedorfer Lichtspiel-Haus“ umbenannt worden war (BZ vom 1. August 1918), und das „Neue Hansa-Kino“ am Brink, die auch beide regelmäßig in der Bergedorfer Zeitung inserierten. Nun sollte auch Sande ein Kino bekommen.

Mit dieser großen Anzeige warb Walter Pönicke für sein Sander Lichtspielhaus, das er am 29. Oktober 1918 im Holsteinischen Hof, gleich hinter den Bahnschranken der Strecke Hamburg-Berlin, eröffnen wollte, doch sein Vorhaben stand unter keinem guten Stern.

Bergedorfer Zeitung, 28. Oktober 1918

Er musste den Beginn um fast zwei Wochen verschieben: wegen der „Verhältnisse des Krieges“, wie er annoncierte (BZ vom 28. Oktober 1918), oder weil „technische Schwierigkeiten … die Filmvorführungen unmöglich“ machten, wie es in einer redaktionellen Meldung hieß (BZ vom 2. November), aber am 9. November waren die Probleme überwunden, die Eröffnung fand statt, das Haus war ausverkauft, „sämtliche Bilder … klar und flimmerfrei“, wie die Zeitung schrieb (BZ vom 11. November 1918). Die Vorführungen fanden offenbar im Saal des Holsteinischen Hofs statt, denn wenn dort ein Ball stattfand, blieben die Lichtspiele geschlossen (BZ vom 21. und 28. November 1918). Ansonsten wurden täglich (außer Montag) Filme vorgeführt, u.a. mit dem jungen Hans Albers, der familiäre Wurzeln in Kirchwärder hatte (z.B. BZ vom 11. und 15. November).

Bergedorfer Zeitung, 19. Dezember 1918

Dann aber spielte die Technik wieder nicht mit: „Infolge Motordefekts findet diese Woche keine Vorstellung statt“, musste er am 13. Dezember inserieren, und Pönicke gab auf: sein Kino wurde von Alfred Roth, dem Betreiber des Bergedorfer „Union-Theaters“, vormals „Bergedorfer Lichtspiel-Haus“, davor „Kino-Varieté“, übernommen.

Der Kino-Standort hielt sich aber – älteren Bergedorfern dürfte das „Filmeck“ noch bekannt sein, das als Anbau am Holsteinischen Hof in den 1950er Jahren auch einen eigenen Saal erhielt. Von diesem Saal gibt es Fotos, die den Aufsatz von Christian Römmer über Kinos in Bergedorf im Lichtwarkheft Nr. 76 (2015) illustrieren.

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Reichsmarmelade statt Kriegsmus

Bergedorfer Zeitung, 22. Oktober 1918

1917 hatte es noch geheißen „Die Marmelade ist tot – Es lebe das Kriegsmus!“ (BZ vom 20. Januar 1917), 1918 sollte sie als „neue Reichsmarmelade“ wieder auferstehen.

Alle diejenigen, die Beeren und anderes Obst im eigenen Garten hatten oder kaufen konnten, die zudem „Einmachezucker“ bestellt hatten (BZ vom 3. Juni 1918) sowie die Marmeladenherstellung beherrschten, konnten sich glücklich schätzen, denn sie kannten die Zutaten genau. Bei der Reichsmarmelade wussten nur die Reichsstelle für Obst und Gemüse und die Marmeladenindustrie, was im Einzelnen mit welchen Anteilen enthalten war.

Wie in den Vorjahren wurde die industriell hergestellte Marmelade gestreckt – und die „Reichsstelle“ hatte sogar gelernt: das Kriegsmus (aus Zucker, Obst und Steckrüben) war in vielen Gemeinden nicht loszuwerden (BZ vom 11. Juli 1917), und nach diesen „früheren Erfahrungen“ kamen Steckrüben nicht zum Einsatz, sondern vor allem Mohrrüben und Obsttrester sowie „in ganz geringem Umfange“ Runkelrüben. Zucker und Obstmark sollten zwar die Hauptbestandteile sein, aber der Anteil der Streckungsmittel etwa ein Drittel betragen. Im Vorjahr hatten diese Mittel „etwa ein bis zwei Zehntel der Marmelade“ ausgemacht, und „noch niemals haben die Streckungsmittel vier Zehntel überschritten“ (BZ vom 3. Oktober 1918).

Bergedorfer Zeitung, 8. Oktober 1918

So sollte die Marmeladenversorgung gesichert sein, zumindest von November 1918 bis Juli 1919, denn drei Monate lang sollten wie 1917/18 gar keine „Brotaufstrichmittel“ ausgegeben werden. Das wurde in Bergedorf aber etwas anders umgesetzt: Marmelade gab es 1918 in 27 Wochen, mit Rationen von 125 bis 500g (Jahresgesamtmenge 6.475g), mehrfach wurde sie durch Kunsthonig (zehnmal) oder Sirup (sechsmal) ersetzt, und „nur“ in neun Wochen gab es trocken Brot (diverse Ausgaben der BZ 1918).

Die Bergedorfer konnten die „neue Reichsmarmelade“ für eine Mark pro Pfund kaufen (BZ vom 23. November 1918). 1917 hatte das Kriegsmus 55 Pfennig gekostet, Apfel- und Pflaumenmarmelade 65 Pfennig (BZ vom 21. Mai und 25. August 1917). Die Qualität der Ware wird nicht im selben Maße gestiegen sein wie der Preis, und auch der Kunsthonig war deutlich teurer geworden, von 55 Pfennig (BZ vom 9. Dezember 1916) auf 78 Pfennig (BZ vom 16. November 1918).

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Kranke Strümpfe

Ähnlich schwierig wie die Beschaffung von Lebensmitteln war die Beschaffung von Strümpfen, wie schon in den Beiträgen Strumpflos in Holzsandalen, Die staatsbürgerlichen Rechte und die Strümpfe der Frauen sowie Präventive Maßnahmen gegen Strumpflöcher zu lesen war.

Bergedorfer Zeitung, 20. April 1918

Schon im Frühjahr 1918 hatte die „Strumpf-Reparatur-Zentrale“ mit Sitz in Itzehoe das Problem erkannt: sie versprach, aus sechs Paar zerrissenen Strümpfen vier Paar „fast neue“ herzustellen. Pro Paar war 1,60 Mark zu zahlen – nicht wenig, aber wenn ein Paar (vermutlich einwandfreier) Herrenstrümpfe einen Wert von 20 Mark hatte, wie die BZ am 19. Oktober anlässlich eines Diebstahls berichtete, vielleicht vertretbar. Auch der Bergedorfer Textilhändler Eyler bot solches an – bei ihm konnte man auch Sweater und Wolljacken einliefern (BZ vom 27. August).

Im zweiten Halbjahr dann tauchte wiederholt eine Anzeige auf, in der die „Heilung“ von Strümpfen  versprochen wurde: der Strumpf war zum Patienten geworden, und wenn Mutters Hausmittelchen (vielleicht wegen Mangel an Stopfwolle) nicht funktionierten, musste eben die Einlieferung in die „Strumpf-Klinik“ zur stationären Behandlung erfolgen.

Nähere Angaben zur Art von Reparatur bzw. Therapie waren in der BZ nicht zu finden, aber wahrscheinlich kam „Kunstwolle“ zum Einsatz: Nach Hermann Grothe (S. 209f) gab es schon seit dem 18. Jahrhundert Verfahren, Strümpfe, Garnabfälle etc. zu zerzupfen, mit neuer Wolle zu vermischen, das Gemisch neu zu verspinnen und daraus „Recycling“-Strümpfe herzustellen. Nach Grothe waren „die Fabrikate … sehr mangelhafte und unsolide“, wurden aber mit dem schönen Namen „Kunstwolle“ versehen (siehe auch Brockhaus Kleines Konversations-Lexikon von 1911 (S. 1035)).

In diesem Lichte muss man auch die Ankündigungen sehen, dass die bedürftige Bevölkerung für den Herbst und Winter Strümpfe aus Kunstwolle erhalten sollte (BZ vom 27. März und 3. April). Die Ausgabe erfolgte im Juli und Oktober (BZ vom 20. Juli und 28. Oktober). Obwohl nur Inhaber eines Berechtigungsausweises und eines Bezugsscheins diese Ware(n) erhielten, verdarb dies offenbar den Reparateuren, Heilern und Klinikbetreibern das Geschäft, denn im November schalteten sie keine Anzeigen mehr.

Die wirklich gute Nachricht kam dann ca. einen Monat nach Kriegsende: Heeresstrümpfe sowie die Woll- und Baumwollvorräte des Heeres sollten in den Handel kommen, Strümpfe auf die „Freiliste“ gesetzt werden (BZ vom 7. Dezember). In Curslack gab es dann noch einmal eine Verteilung an „Unbemittelte“ (BZ vom 11. Dezember) – da hatte das Kaufhaus Schwarz  (Zollenspieker) schon längst „Strümpfe in reiner Wolle und Halbwolle“ zu verkaufen (BZ vom 7. Dezember).

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Die Rückkehr der Grippe

Bergedorfer Zeitung, 12. Oktober 1918

Da war sie wieder, die Grippe-Pandemie, deutlich heftiger als im Sommer (siehe den Beitrag Die rätselhafte Spanische Krankheit), wie auch die Grippekommission des Reichsgesundheitsrats einräumte: „Die Krankheit ist diesmal mit schwereren Erscheinungen verbunden als vordem. Besonders bei jüngeren Personen verläuft die Krankheit ziemlich heftig. Treten Komplikationen, namentlich Lungenentzündung hinzu, so endet sie nicht selten tödlich.“ (BZ vom 21. Oktober)

Der Erreger war immer noch nicht identifiziert – das gelang erst 1933, und erste wirksame Impfstoffe wurden 1943 eingesetzt (siehe Wilfried Witte (S. 73f.)). So musste man hoffen, nicht zu erkranken – und wer erkrankt war, musste auf die „üblichen Hausmittel“ wie Bettruhe, Brust- und Wadenwickel setzen, die zwar kaum halfen, aber ja zumindest keinen Schaden anrichteten. Die Grippekommission empfahl Mundspülungen („könnten beruhigend wirken“), die Hände sauber- und sich von Kranken und Menschenansammlungen überhaupt fernzuhalten: „Maßnahmen zur Bekämpfung der Seuche versprechen nach der übereinstimmenden Ansicht der Versammlung wenig Erfolg.“ (zitiert bei Marc Hieronimus, S. 65, siehe auch BZ vom 18. Juli.)

Wie in Hamburg war laut BZ in Bergedorf vor allem die Fernsprechvermittlung betroffen, aber es spricht viel dafür, dass auch andere Bevölkerungskreise in großer Zahl erkrankt waren: überall, wo sich viele Menschen in geschlossenen Räumen aufhielten, war dies der Fall (siehe Eckhard Koenen (S. 72)), so auch in Kirchwärder-Seefeld, wo 38 von 46 russischen Kriegsgefangenen im dortigen Lager erkrankten (BZ vom 14. Oktober).

Beruhigend schrieb die BZ, dass im Raum Bergedorf wiederum nur „leichte Fälle“ zu verzeichnen waren (BZ vom 15. Oktober), aber das erwies sich eindeutig als falsch: eine Auswertung der 1918 erschienenen 552 Todesanzeigen mit Traueranschrift im Gebiet der Landherrenschaft Bergedorf ergab, dass 120 Personen „nach kurzer schwerer Krankheit“ verstorben waren, davon rund die Hälfte in den zwei Monaten Oktober und November, überwiegend Menschen unter 29 Jahren. Nicht in jedem dieser Fälle wird die Grippe bzw. die oft folgende Lungenentzündung die Todesursache gewesen sein, doch man kann das Ausmaß erahnen – in Deutschland starben ca. 200.000 (Koenen, S. 69) bis 350.000 Menschen (Eckard Michels, S. 2) daran, weltweit 27 Millionen (Witte, S. 22) bis 75 Millionen (Michels, S. 2) an der Grippe bzw. ihren Folgen; das Hamburger Abendblatt nennt sogar noch höhere Zahlen.

Bergedorfer Zeitung, 17. Oktober 1918

Für Schüler, die von der Krankheit verschont blieben, hatte die Grippe die angenehme Begleiterscheinung, dass die Herbstferien verlängert wurden – letztlich sogar bis zum 6. November (BZ vom 2. November), in Sande noch länger: dort wurde am 7. November ein „Zählappell“ der gesunden Kinder vorgenommen (BZ vom 5. November). Offenbar war die Zahl groß genug, denn ab dem 11. November mussten bzw. durften die Gesunden wieder zum Unterricht (BZ vom 9. November).

Im Dezember nahmen die Erkrankungen wieder zu, und allen Lehrern und Kindern aus Grippe-Familien wurde der Schulbesuch untersagt (BZ vom 13. Dezember), aber die eigentliche „dritte Welle“ folgte erst im Frühjahr 1920.

UPDATE Oktober 2021:
Bis September 1922 ist im Medizinhistorischen Museum Hamburg die Ausstellung „Pandemie. Rückblicke in die Gegenwart“ zu sehen, die mit Pest und Cholera sowie der „Spanischen Grippe“ historische Pandemien ebenso thematisiert wie die aktuelle Corona-Pandemie, jeweils mit besonderem Fokus auf Hamburg.

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Kein Tango auf dem Lande

Bergedorfer Zeitung, 15. Oktober 1918

Jahrelang durfte gar nicht getanzt werden (außer vielleicht in Privaträumen) – nun wurde das Verbot ein ganz klein bisschen gelockert, aber der Tango stand ebenso wie der Schieber auf der schwarzen Liste.

Das Tanzverbot war fast vier Jahre zuvor ergangen: „Die polizeiliche Erlaubnis zur Abhaltung von öffentlichen Tanzlustbarkeiten ist fortan zu versagen. Die Abhaltung von Vereinslustbarkeiten ist ebenfalls zu verbieten und nötigenfalls durch polizeiliche Zwangsmittel zu verhindern“, hatte das stellvertretende Generalkommando verfügt (BZ vom 24. November 1914). Bis das in der Landherrenschaft Bergedorf umgesetzt wurde, sollte es aber noch dauern: hier wurde zunächst weiter nach einer Verordnung von 1909 verfahren, nach der Tanzveranstaltungen genehmigungspflichtig waren – erst ein knappes Jahr später verkündeten die Landherren, dass die zitierte Verordnung auch für das Landgebiet gelte (BZ vom 16. September und 2. Oktober 1915). Die Höhe der Strafe änderte sich offenbar nicht: zwei Wirtinnen wurden wegen Duldung je einer Tanzlustbarkeit zu  36 Mark Geldstrafe verurteilt, eine andere kam mit 10 Mark davon. (BZ vom 12. August und 2. Oktober 1915 sowie 27. Oktober 1916). Ausgenommen von diesen Untersagungen waren offenbar der künstlerische Tanz und Tanzunterricht, wie im Beitrag Ausdruckstanz in Bergedorf nachzulesen ist.

Hatte das stellvertretende Generalkommando 1915 sein Verbot „aus ethischen Gründen“ noch einmal bekräftigt (BZ vom 17. Mai 1915), so wollte es nun besonders den landwirtschaftlichen Arbeitern entgegenkommen und ihnen durch Tanz mehr Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung in den Wintermonaten eröffnen. Vor engem Körperkontakt mit dem anderen Geschlecht sollten sie aber bewahrt werden, alles sollte ländlich-sittlich zugehen, mit den „althergebrachten Tänzen“.

Ob die Gastwirte in den Vierlanden nun Anträge auf Genehmigung solcher Veranstaltungen stellten? Entsprechende Ankündigungs-Anzeigen gab es in der Bergedorfer Zeitung in den folgenden Wochen jedenfalls nicht. Unabhängig davon: dass das Tanzverbot bis dahin strikt eingehalten worden war, muss bezweifelt werden, wie aus dem Beitrag (Un)erlaubter Verkehr mit (Kriegs-)Gefangenen in Sande hervorgeht.

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Die Hansaschüler und der huldvolle Kronprinz

Bergedorfer Zeitung, 4. Oktober 1918

Der Kronprinz war höchst zufrieden mit den hamburgischen Jungmannen, die im Bereich der 1. Armee einen Ernteeinsatz in Frankreich absolviert hatten und telegraphierte dem Präsidenten des Senats von Hamburg seine Anerkennung: „die Jungens“ hätten fleißig und treu gearbeitet und famose Haltung gezeigt. Unter diesen 280 Jungmannen waren auch 25 Schüler der Hansaschule, was die BZ erstaunlicherweise nicht erwähnte.

Man findet die Information aber im Bericht des Direktors der Hansaschule, Prof. Dr. Ferdinand Ohly, der auch Details dieses Aufenthalts „in Feindesland“ schilderte: es konnte nur wenig geerntet werden, die Ernährung war mangelhaft, „Fußleiden, kleinere Verletzungen, Grippe, Dysenterie kamen oft vor“, doch es gab auch schöne Tage wie beim Ausflug nach Sedan. Und dann:

aus: Prof. Dr. (Ferdinand) Ohly: Die Hansa-Schule während des ersten Jahrzehnts 1914/15 – 1924/25 im neuen Schulgebäude, Bergedorf 1925, S. 34

Wahrscheinlich werden den Jugendlichen die vergänglichen Zigaretten (vermutlich nicht aus Buchenlaubtabak) länger und besser in Erinnerung geblieben sein als die Worte des Thronfolgers.

Schall und Rauch eben, doch ein Erinnerungsstück war eher auf Dauer angelegt: das Abzeichen „Kriegsarbeit fürs Vaterland“ erhielten alle Teilnehmer, auch diejenigen, die „schon vorher dem Ruf zur Landarbeit … auf heimischer Flur“ gefolgt waren. Den Dienst in der Heimat sah Ohly positiv – zum Frankreich-Einsatz äußerte er sich kritisch: „Es war ein zu großer Apparat in Bewegung gesetzt, die Organisation hatte sich, wie zumeist, wohl bewährt, aber erreicht wurde wenig.“ Auch die Sinnhaftigkeit der Pflanzung von Sonnenblumen und die Laubheu-Sammlung, zu der die Hansaschüler 21.310 Pfund beisteuerten, stellte er in Frage (ebd., S. 34f.).

Seine Kritik machte Ohly aber erst nach Kriegsende öffentlich; im Krieg beteiligte sich die Hansaschule an allen „patriotischen“ Aktionen und Sammlungen.

 

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