Da war sie wieder, die Grippe-Pandemie, deutlich heftiger als im Sommer (siehe den Beitrag Die rätselhafte Spanische Krankheit), wie auch die Grippekommission des Reichsgesundheitsrats einräumte: „Die Krankheit ist diesmal mit schwereren Erscheinungen verbunden als vordem. Besonders bei jüngeren Personen verläuft die Krankheit ziemlich heftig. Treten Komplikationen, namentlich Lungenentzündung hinzu, so endet sie nicht selten tödlich.“ (BZ vom 21. Oktober)
Der Erreger war immer noch nicht identifiziert – das gelang erst 1933, und erste wirksame Impfstoffe wurden 1943 eingesetzt (siehe Wilfried Witte (S. 73f.)). So musste man hoffen, nicht zu erkranken – und wer erkrankt war, musste auf die „üblichen Hausmittel“ wie Bettruhe, Brust- und Wadenwickel setzen, die zwar kaum halfen, aber ja zumindest keinen Schaden anrichteten. Die Grippekommission empfahl Mundspülungen („könnten beruhigend wirken“), die Hände sauber- und sich von Kranken und Menschenansammlungen überhaupt fernzuhalten: „Maßnahmen zur Bekämpfung der Seuche versprechen nach der übereinstimmenden Ansicht der Versammlung wenig Erfolg.“ (zitiert bei Marc Hieronimus, S. 65, siehe auch BZ vom 18. Juli.)
Wie in Hamburg war laut BZ in Bergedorf vor allem die Fernsprechvermittlung betroffen, aber es spricht viel dafür, dass auch andere Bevölkerungskreise in großer Zahl erkrankt waren: überall, wo sich viele Menschen in geschlossenen Räumen aufhielten, war dies der Fall (siehe Eckhard Koenen (S. 72)), so auch in Kirchwärder-Seefeld, wo 38 von 46 russischen Kriegsgefangenen im dortigen Lager erkrankten (BZ vom 14. Oktober).
Beruhigend schrieb die BZ, dass im Raum Bergedorf wiederum nur „leichte Fälle“ zu verzeichnen waren (BZ vom 15. Oktober), aber das erwies sich eindeutig als falsch: eine Auswertung der 1918 erschienenen 552 Todesanzeigen mit Traueranschrift im Gebiet der Landherrenschaft Bergedorf ergab, dass 120 Personen „nach kurzer schwerer Krankheit“ verstorben waren, davon rund die Hälfte in den zwei Monaten Oktober und November, überwiegend Menschen unter 29 Jahren. Nicht in jedem dieser Fälle wird die Grippe bzw. die oft folgende Lungenentzündung die Todesursache gewesen sein, doch man kann das Ausmaß erahnen – in Deutschland starben ca. 200.000 (Koenen, S. 69) bis 350.000 Menschen (Eckard Michels, S. 2) daran, weltweit 27 Millionen (Witte, S. 22) bis 75 Millionen (Michels, S. 2) an der Grippe bzw. ihren Folgen; das Hamburger Abendblatt nennt sogar noch höhere Zahlen.
Für Schüler, die von der Krankheit verschont blieben, hatte die Grippe die angenehme Begleiterscheinung, dass die Herbstferien verlängert wurden – letztlich sogar bis zum 6. November (BZ vom 2. November), in Sande noch länger: dort wurde am 7. November ein „Zählappell“ der gesunden Kinder vorgenommen (BZ vom 5. November). Offenbar war die Zahl groß genug, denn ab dem 11. November mussten bzw. durften die Gesunden wieder zum Unterricht (BZ vom 9. November).
Im Dezember nahmen die Erkrankungen wieder zu, und allen Lehrern und Kindern aus Grippe-Familien wurde der Schulbesuch untersagt (BZ vom 13. Dezember), aber die eigentliche „dritte Welle“ folgte erst im Frühjahr 1920.
UPDATE Oktober 2021:
Bis September 1922 ist im Medizinhistorischen Museum Hamburg die Ausstellung „Pandemie. Rückblicke in die Gegenwart“ zu sehen, die mit Pest und Cholera sowie der „Spanischen Grippe“ historische Pandemien ebenso thematisiert wie die aktuelle Corona-Pandemie, jeweils mit besonderem Fokus auf Hamburg.