Wie weit entfernt man vor hundert Jahren im Deutschen Reich von der Gleichberechtigung der Geschlechter war, zeigen zwei Zeitungsausschnitte vom gleichen Tage.
Wer Strümpfe benötigte, musste sie entweder für viel Geld auf dem Schwarzmarkt erwerben oder einen Antrag stellen, um sie auf Bezugsschein kaufen zu können – insofern bestand Gleichheit zwischen Mann und Frau (nicht aber zwischen arm und reich). Allerdings: eine Frau, die neue Strümpfe oder andere Kleidungsstücke auf Bezugsschein haben wollte, durfte diese nicht selbst beantragen: das war das Privileg des „Familienhauptes“, also in der Regel der Ehemann bzw. bei unverheirateten Frauen der Vater. Nicht zu klären war, ob Frau Martha Schmidt nun erst ihrem Gatten Oskar Schmidt das Antragsformular per Feldpost zusenden musste, damit dieser es ausfüllte und zurückschickte, oder ob sie es in einem solchen Fall selbst ausfüllen und einreichen durfte; genauso offen bleibt nach der Lektüre des Artikels z.B. die Frage, ob unverheiratete elternlose Frauen antragsberechtigt waren. Zweck der Vorschrift dürfte aber nicht primär die Stärkung der patriarchalischen Strukturen gewesen sein, sondern eher das Abwimmeln von Anträgen, um so die Zuteilungsquote zu erhöhen.
Die Minderberechtigung der Frauen gab es auf vielen Gebieten, nicht zuletzt dem der Politik, wie aus der Anzeige des sozialdemokratischen Vereins in Bergedorf hervorgeht: Die Frage, ob „in den staatsbürgerlichen Rechten die Frau dem Manne gleichgestellt werden“ sollte, wollte Wally Zepler in ihrem Referat thematisieren. Es überrascht nicht, dass sie diese Frage mit „Ja“ beantwortete und das Frauenwahlrecht als Notwendigkeit bezeichnete (BZ vom 30. April 1918).
Das Frauenwahlrecht kam 1919 erstmals zur Anwendung und fand sich auch in der Weimarer Reichsverfassung vom August 1919 in Art. 109, Absatz 2: „Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“ Dazu merkte der Verfassungsrechtler Gerhard Anschütz in seinem Kommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs zu Art. 109 an: „Die Vorrechte des Ehemanns gegenüber der Ehefrau (…) bleiben … von dem Prinzip des Abs. 2 unberührt.“ (S. 309f.) Verschiedene „Frauengesetze“ verbesserten zwar die Lage von Frauen, wie Gisela Helwig schreibt, doch einen bedeutenden Fortschritt brachte dann erst wieder das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom Mai 1949, das in Art. 3, Abs. 2 formulierte: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Aber bis zur Änderung aller einfachgesetzlichen Regelungen z.B. im Familienrecht, die der Gleichberechtigung im Wege standen, dauerte es noch Jahrzehnte – bis dahin wurden sicher noch viele Strümpfe verbraucht.