Die Russen in Sande waren nach Ansicht des Gemeindevertreters Struß nun keine „direkten Gefangenen“ mehr, aber frei waren sie auch nicht.
Als Kriegsgefangene waren sie nach Sande gebracht worden, doch der Krieg mit Russland war beendet, der Vertrag von Brest-Litowsk abgeschlossen und in Kraft. Seit dem 2. April musste den russischen Gefangenen in Land- und Forstwirtschaft Lohn gezahlt werden – eine Regelung, die kurz vorher für die ukrainischen Gefangenen eingeführt worden war: „Die ukrainischen Kriegsgefangenen erhalten bei entsprechender Leistung einen Lohn, wie er unter gleichen Verhältnissen für freie deutsche Arbeiter üblich ist, welche von ihren Arbeitgebern freie Unterkunft und Verpflegung und eine Geldabfindung erhalten.“ Diese Geldabfindung (man könnte auch Ausbeutung sagen) belief sich auf mindestens 50 Pfennig pro Arbeitstag (Mitteilungen der Landherrenschaften 1918, Nr. 12 vom 24. März und Nr. 14 vom 31. März) – ob sie wirklich Gleichheit mit „freien deutschen Arbeitern“ schuf, muss bezweifelt werden, denn schon den älteren Schülern, die bei freier Kost und Unterbringung als Erntehelfer tätig waren, sollte täglich eine Mark als Taschengeld gezahlt werden (Mitteilungen der Landherrenschaften 1918, Nr. 10 vom 10. März).
Die zahlreichen Kriegsgefangenen beider Seiten waren im August noch nicht zurückgekehrt, was (wahrscheinlich nicht nur) in Sande Probleme bereitete: entweder gaben die Arbeitgeber und/oder die Bewacher der Gefangenen diesen mehr Freiheiten, oder die Gefangenen nahmen sich diese Freiheiten, suchten offenbar Tanzlokale auf und hatten „unerlaubten Verkehr“ mit Sander Frauen und Mädchen.
Jedenfalls gab es nach wie vor Bewachung, die nach Ansicht des Gemeindevertreters Struß straffer gehandhabt werden musste, und der Gemeindevorsitzende Siemers kündigte eine schärfere Kontrolle der Tanzlokale an, in denen es wohl zu diesen Kontakten gekommen war.
Vielleicht wurde der „unerlaubte Verkehr“ aber zu erlaubtem umgewandelt – die Möglichkeit wurde eröffnet, wie eine Meldung aus dem September zeigt: danach konnte russischen Kriegsgefangenen die „Erlaubnis zur Verheiratung durch die stellvertretenden Generalkommandos nach Anhörung der beteiligten Zivilbehörden“ gewährt werden. Ob es in Sande zu derartigen Eheschließungen kam, müsste anhand der Akten des Standesamts überprüft werden.