Die Teuerungsunruhen im Sommer 1920

Bergedorfer Zeitung, 30. Juni 1920

In Hamburg, Altona und zahlreichen weiteren Städten war es zu Unruhen gekommen, die die Bergedorfer Zeitung als „Teuerungskrawalle“ bezeichnete, und der Senat verhängte über das Gebiet der Stadt Hamburg den Ausnahmezustand (BZ vom 28. Juni). Da es auch in einer Reihe von Vororten zu Unruhen kam, wurde das Gebiet erweitert – und nun war auch die Stadt Bergedorf mit dabei, obwohl es hier der BZ nach zu urteilen ruhig geblieben war.

„Auf Plünderer wird geschossen“, hieß es in der Verordnung des Reichskommissars Senator Hense, denn es hatte in verschiedenen Stadtteilen Plünderungen von Läden gegeben, vor allem von Schuhgeschäften:  die Händler wurden gezwungen, die Preise bedeutend herabzusetzen (Schuhe und Stiefel für 30 Mark) – in einer Anzeige des Kaufhauses Biebler wenige Wochen vorher wurden die billigsten Stiefel für 98,50 Mark (Damen) bzw. 132,50 Mark (Herren) angeboten (BZ vom 29. Mai, siehe auch den Beitrag zu den Schuhpreisen). Ähnlich ging es Bäckern, die Brot für 2 Mark verkaufen mussten, und Gemüsehändlern (BZ vom 28. Juni) – zur Entwicklung der Kartoffelpreise siehe die Beiträge zum Kartoffelumtausch und zur Kartoffellage: sie hatten sich gegenüber 1919 mehr als verdoppelt.

Plünderungen und erzwungene Herabsetzung von Preisen gab es in Bergedorf nicht – nur der Sportveranstaltungskalender geriet durch einander: die Alsterstaffel in Hamburg war wegen des Ausnahmezustands dort verschoben worden, und daraufhin verlegte die Bergedorfer Turnerschaft ihr geplantes Spielfest (BZ vom 9. und 10. Juli), um am Staffellauf teilnehmen zu können, bei dem sie dann den neunten Platz belegte (BZ vom 12. Juli).

Härter traf es aber die Gemüsegärtner der Vierlande und der Marschlande, die ihre Waren zum Deichtormarkt brachten: „Auf dem Deichtormarkt hatten sich, wie gewöhnlich, die Bauern mit ihren Produkten eingefunden. Die Händler boten ihnen, den veränderten Verhältnissen Rechnung tragend, niedrigere Preise; die Bauern weigerten sich aber, ihre Waren billiger zu verkaufen und ließen sie wieder einpacken.“ (BZ vom 28. Juni)

Bergedorfer Zeitung, 29. Juni 1920

Der Bericht über eine Besprechung des Landherrn Senator Heinrich Stubbe und des Reichskommissars Senator Hense mit den Gemeindevorständen der Landgemeinden gibt einen Einblick in den schwierigen Ausgleich zwischen den Interessen der Erzeuger, der Händler und der Verbraucher. Als die Erzeuger sicher waren, dass es keine Plünderung ihrer Waren geben würde, nahmen sie den Handel auf dem Deichtormarkt wieder auf, „zu bedeutend niedrigeren Preisen“, wie es in dem Artikel weiter heißt.

Bei reduzierten Preisen beruhigte sich die Lage in Hamburg wieder, aber es hatte dort sechs Tote und noch mehr Verletzte gegeben (BZ vom 6. Juli). Erst am 12. August meldete die BZ: „Der Ausnahmezustand über Hamburg ist, wie die Kriminalpolizei mitteilt, heute aufgehoben worden.“ Das galt dann auch für Bergedorf.

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Werbung in Sütterlinschrift

1920 erweiterte die Bergedorfer Zeitung ihr Spektrum an Satztypen: ihren Anzeigenkunden bot sie nun auch Annoncen in gedruckter Sütterlinschrift an:

Bergedorfer Zeitung, 2. Juli 1920

Es waren nicht die besonders konservativen Inserenten, die dieses aufgriffen und nutzten: Frank und Nielsen hatten zuvor in „modernerer“ Type inseriert, also nicht wie die meisten Anbieter in Fraktur. Sie hofften wahrscheinlich darauf, sich mit dieser Neuerung abzuheben, die heute manchen Lesern und Leserinnen Schwierigkeiten bereiten wird – für diese sei auf die Seite antiquariat.de (dort Postkarte Nr. 3) verwiesen, die Buchstabe für Buchstabe Sütterlin „übersetzt“.

Der Kaufmann Johannes M. Chr. Schütt nutzte für seine große Anzeige Sütterlin, Fraktur und verschiedene andere Schriften mit und ohne Serifen:

Bergedorfer Zeitung, 5. Juli 1920

Das war schon abwechslungsreich gestaltet – aber hatte Schütt das Korrekturlesen vergessen oder der Setzer geschlampt? Am nächsten Tag gab es eine Richtigstellung:

Bergedorfer Zeitung, 6. Juli 1920

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Der Freikauf von der Zwangseinquartierung

Bergedorfer Zeitung, 28. Juni 1920

An Wohnungen fehlte es in Bergedorf schon länger (siehe z.B. den Beitrag über Die Wohnverhältnisse in Bergedorf) – das städtische Bauprojekt an der Brunnenstraße hatte sich am Ende als nicht finanzierbar erwiesen, und so blieb man bei dem Mittel der Zwangseinquartierung.

Eigentlich musste jeder Wohnungsinhaber der Unterbelegung entsprechend Räume abtreten, doch von dieser Pflicht konnte man sich unter Umständen freikaufen, wie man en passant aus diesem Zeitungsbericht erfährt: immerhin 113.000 Mark waren „durch Zahlungen von Hausbesitzern, in deren Häusern die Einrichtung von Notwohnungen auf Schwierigkeiten stößt,“ in die Stadtkasse geflossen, und diese Einnahmen wollte die Stadt nun in „kleinere bauliche Veränderungen“ anderer Gebäude stecken, um „Notwohnungen“ zu schaffen. Da der kalkulierte Gesamtbedarf dieser Maßnahmen bei 200.000 Mark lag, blieb eine Deckungslücke von 87.000 Mark, die durch eine Erhöhung der Gemeinde-Grundsteuer geschlossen werden sollte, wie es weiter in dem Bericht hieß.

Die in dem Artikel genannten Zahlen ergeben leider kein vollständiges Bild, aber obwohl schon 550 zusätzliche Wohneinheiten mobilisiert worden waren und nun weitere hinzukommen sollten, wird der Mangel fortbestanden haben.

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Die Entwässerung der Marschgebiete

Bergedorfer Zeitung, 19. Mai 1920

Bergedorfer Zeitung, 25. Juni 1920

 

Die Klagen der Bauern in den Vierlanden wie den Marschlanden über die unzureichende Entwässerung ihrer niedriggelegenen Ackerflächen gab es in jedem Frühjahr – siehe hierzu die Beiträge zur Dampfentwässerung in Billwärder und zu den Stahlwindturbinen in Warwisch: die traditionellen Feldentwässerungsmühlen mit „Wasserschnecke“, d.h. archimedischer Schraube, waren wenig effektiv, und wohl deshalb nahm ihre Zahl immer weiter ab. Damit war die Malaise teilweise selbstverschuldet, was die Heftigkeit der Klagen aber nicht beeinträchtigte und schließlich zu staatlichem Handeln führte.

Der Senat beantragte bei der Bürgerschaft die Bewilligung von 28,5 Millionen Mark für ein System der Ent- und Bewässerung in Kirchwärder, Neuengamme, Ochsenwärder, Spadenland, Tatenberg und Reitbrook, das mit Hilfe neu angelegter Hauptgräben und Pumpstationen an den Deichen Abhilfe schaffen sollte. Damit waren im Grundsatz alle Landwirte einverstanden, sie hielten die Maßnahme für dringlicher als den Bau neuer Straßen (siehe z.B. BZ vom 6. und 9. Februar), wofür bereits über 10 Millionen Mark bewilligt worden waren (siehe den Beitrag zur Infrastruktur).

Der Teufel verbarg sich aber im Detail, denn für die Gräben wurden Flächen benötigt. Die Gemeinden wurden verpflichtet, diese „unentgeltlich zur Verfügung zu stellen“ und mussten sich mit den Grundeigentümern auseinandersetzen. Die Gemeindevertretung Ochsenwärders meinte einerseits, dass die Eigentümer wegen der zu erwartenden Wertsteigerung der Grundstücke diese kostenlos abgeben sollten, legte aber für den Streitfall gleich die Höhe der Entschädigungssätze fest, die zwischen 10 Pfg/qm für „minderes Feldland“ und 2,50 M/qm für „gutes Gemüseland“ liegen sollten (BZ vom 4. Oktober). Man kann sich kaum vorstellen, dass jemand auf Entschädigung verzichtete, zumal eine Kostenbeteiligung der Grundeigentümer (in immer noch unklarer Höhe) an den Baumaßnahmen vorgesehen war.

Auf die im Artikel vom 25. Juni genannte „Stadtwasserkunst“, um derentwillen Altengamme und Curslack nicht einbezogen wurden, soll in einem späteren Beitrag eingegangen werden.

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Explosionen in der Dynamitfabrik Krümmel

Bergedorfer Zeitung, 19. Juni 1920

Sechs Verletzte forderte eine Explosion in der ehemaligen Dynamitfabrik in Krümmel, aber was dazu geführt hatte, schrieb die BZ nicht – die Formulierung „ein Rest der bei der letzten großen Explosion übriggebliebene Explosivstoffe“ lässt vermuten, dass mehrere „große“ und vermutlich auch kleinere Unglücke passiert waren.

Während des Krieges waren Meldungen über Unfälle in Rüstungsbetrieben sicher der Zensur zum Opfer gefallen, wenn sie nicht Auswirkungen auf die Umgebung hatten und nicht zu verheimlichen waren (siehe die Beiträge Explosion in Sander Fabrik und Betriebsstörungen und tödliche Unfälle in der Pulverfabrik), aber der Krieg war vor eineinhalb Jahren zu Ende gegangen, die Zensur war abgeschafft und Munition wurde nicht mehr hergestellt.

Bergedorfer Zeitung, 27. Mai 1920

In der BZ war allerdings nur ein einziger weiterer Bericht zu so einem Vorfall erschienen, der sich im Mai 1920 ereignet hatte: ein heftiges Gewitter hatte sich über dem Raum östlich Hamburgs entladen und ergossen, und in Sande, Bergedorf und Geesthacht war es zu Überflutungen von Straßen und Häusern gekommen, doch es hatte „keine nennenswerten Schäden“ gegeben – anders in Krümmel.

Der Blitzeinschlag in der „Rohmaschenpresse“ (gemeint war sicher die Rohmassenpresse) ließ die Sprengstoffe, die dort „noch“ gelagert waren, also wohl noch aus der Kriegszeit stammten, in die Luft fliegen, was nicht nur in der Fabrik „viele Millionen Mark“ Schaden verursachte, sondern auch die Dörfer Krümmel und Tesperhude schwer traf und „viele Personen“ verletzte. Sogar in Geesthacht und Dörfern auf der gegenüberliegenden Elbseite waren Gebäudeschäden zu verzeichnen.

Zumindest theoretisch kann es sein, dass die geschilderten Explosionen nicht im Zusammenhang mit der Kriegsproduktion und Resten derselben standen: nach einer Angabe bei Industriemuseum Geesthacht begann in Krümmel 1920 die „Aufnahme der Sprengstofffabrikation für den zivilen Bedarf (Sicherheitssprengstoffe)“. Aber auch das war gefährlich, wie die Berichte zeigen.

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Pferdefuhrwerk versus Lastkraftwagen

Bergedorfer Zeitung, 3. Januar 1920

Bergedorfer Zeitung, 16. Juni 1920

 

 

 

 

Der eine fuhr mit Pferd und Wagen – der andere mit einem Lastkraftwagen. Von den einen gab es in Bergedorf viele, von den anderen nur wenige.

Die Motorisierung des Transportgewerbes steckte hier noch in den Anfängen: die innerstädtischen Wege waren recht kurz, und für größere Mengen und Güter über Bergedorf hinaus nutzte man die Eisenbahn oder Schiffe, die im Hafen am Serrahn und am Schleusengraben für regen Betrieb sorgten.

Es gab vor hundert Jahren aber bereits mindestens einen Lkw in Bergedorf, den man nach heutigen Maßstäben zu den Kleintransportern zählen würde – und hätte nicht während der Revolution 1918 der Arbeiter- und Soldatenrat Bergedorf-Sande diesen Kraftwagen der Wein-Großhandlung Heinrich von Have für seine Zwecke beschlagnahmt, so wäre das Fahrzeug vielleicht nicht fotografiert worden (Abbildung in: In Bergedorf war alles  genauso!, S. 8) – auf der Homepage der Firma findet man nur ein Foto aus den 1920er Jahren, das dafür gleich zwei Lieferwagen zeigt.

Bergedorfer Zeitung, 24. Januar 1920

BZ, 2. August 1920

Außer der oben wiedergegebenen Anzeige Hadwigers gab es nur zwei weitere, die die neue Zeit der Logistik widerspiegeln: Carl Harden vertrieb nicht nur Brennstoffe, sondern er bot als Vertreter einer Hamburger Firma Automobile und Lastzüge an (BZ vom 24. Januar), und der Ingenieur Richard Wallis suchte Aufträge für seinen Lastkraftwagen.

BZ, 31. Dezember 1920

Ansonsten gab es diverse Inserate von Bergedorfern, die „Einspännerfuhren“ übernehmen wollten, seltener Zweispänner. Für die allermeisten Zwecke dürften ein oder zwei Pferdestärken genügt haben, auch für die kommunalen Abfuhrzwecke Bergedorfs, wie die Ausschreibung zeigt.

 

 

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Der ausgegrenzte Arbeiter-Schwimmverein in Sande

Kaum hatte Sande seine neue Badeanstalt in der Bille eröffnet, gab es bereits Streit zwischen den Interessenten.

Bergedorfer Zeitung, 18. Juni 1920

Mit einem großen Festzug durch Sandes Hauptstraßen eröffnete der Sander Schwimmverein seine Feierlichkeiten zur Einweihung der neuen Sander Badeanstalt – es kann als sicher gelten, dass der Bergedorfer Schwimmklub zu den „auswärtigen“ teilnehmenden Vereinen zählte.

Durch den Gemeindevorsitzenden Krell war die offizielle Eröffnung bereits fünf Wochen vorher vollzogen worden (BZ vom 18. Mai), vermutlich vor weniger Teilnehmern als den 2.000 Zuschauern (BZ vom 23. Juni), die der Verein für sein Event mobilisieren konnte.

Nach dem Fest wurde es dann aber kontrovers: der Arbeiter-Schwimmverein Sande stellte bei der Gemeinde einen Antrag auf „Mitbenutzung der Badeanstalt“ – der Vorsitzende des Sander Schwimmvereins beanspruchte die Einrichtung aber für seinen Verein (BZ vom 23. Juni), und in der Tat hatte die Gemeinde vor Monaten diesem Verein das Hausrecht übertragen, was vor allem exklusive Vereins-Schwimmzeiten nach 20 Uhr ermöglichte (BZ vom 9. und 18. Februar).

Das wusste auch die von der SPD dominierte Gemeindevertretung: sie hätte wohl gern dem Antrag des Arbeiter-Schwimmvereins zugestimmt, aber sie konnte dies angesichts der bestehenden Vereinbarung mit den bürgerlichen Schwimmern nicht einfach tun, und so erfolgte die Verlagerung des Problems in den zuständigen Ausschuss, die Badeanstaltskommission (BZ vom 23. Juni).

Bergedorfer Zeitung, 26. Juni 1920

Zu welchem Ergebnis man dort kam, war in der BZ nicht zu lesen. Der Sander Schwimmverein, der sich übrigens über 75 neue Mitglieder freute, beschloss jedenfalls noch in derselben Woche, von dem Veranstaltungsüberschuss 300 Mark der Gemeinde zu spenden – ein Schelm, wer Böses darüber denkt.

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Der Steuerabzug vom Lohn

Bergedorfer Zeitung, 9. Juni 1920

Steuerreformen sind komplexe Angelegenheiten, und mit dem Einkommensteuergesetz von 1920 wurde steuerrechtliches Neuland betreten. Bis dahin hatte es eine Landes- und eine Gemeinde-Einkommensteuer gegeben, die nun wegfielen und durch die Reichs-Einkommensteuer ersetzt wurden. Das klingt zunächst einmal simpel, stellte sich in den folgenden Monaten aber als schwierig dar.

 

Bergedorfer Zeitung, 17. Juni 1920

Die Arbeitnehmer mussten sich nun von der Gemeinde eine Steuerkarte ausstellen lassen, in die der Arbeitgeber bei der Post erworbene Steuermarken im Wert von zehn Prozent des Arbeitslohns einzukleben hatte – diese zehn Prozent wurden also dem Arbeitnehmer nicht ausgezahlt, sondern kamen dem Reich zugute.

Nicht nur der bar ausgezahlte Lohn unterlag diesem Verfahren, sondern auch „Sach- und Naturalbezüge (freie Station, Kost und Logis und dergleichen)“, wie es in einer Bekanntmachung des Landesfinanzamts Unterelbe hieß (BZ vom 9. Juni), was vor allem das Hauspersonal betraf: wenn ein Arbeitgeber den Sach- und Naturallohn höher bewertete als den bar gezahlten Lohn, hätte er mehr als 20 % des Barlohns einbehalten müssen, wenn nicht das Reichsfinanzministerium in einer nachgeschobenen Bekanntmachung die Abzüge auf maximal 20 % begrenzt hätte (BZ vom 23. Juni). Um so überraschender war dann die Bekanntmachung, dass „die genannten Bezüge … wegen Berechnungsschwierigkeiten zunächst dem Steuerabzug noch nicht unterliegen. Bei den Lohnzahlungen sind daher einstweilen nur zehn vom Hundert des Barlohnes einzubehalten.“ (Bekanntmachung des Landesfinanzamts Unterelbe, BZ vom 28. Juni).

Das dicke Ende für die Beschäftigten kam aber nach: im August gab es die nächste Bekanntmachung zum Geldwert anderer Bezüge: „Bis zu der demnächst erfolgenden anderweitigen Festsetzung ist hierbei anzunehmen:“ Hausdamen, Hauslehrer etc. vier Mark pro Tag, „sonstiges weibliches Personal M 3,- f. d. Tag“ (BZ vom 5. August).

Die Auswirkungen des Gesetzes hatte man offenbar grob unterschätzt – das passierte auch bei einer späteren Finanzreform (1975), bei der der zuständige Finanzminister Hans Apel überrascht wurde. Er kommentierte die unbeabsichtigten Folgen prägnant: „Ich dacht‘, mich tritt ein Pferd“.

Bergedorfer Zeitung, 2. August 1920

Ähnlich werden das 1920 viele Reichstagsabgeordnete gedacht haben, denn die zehnprozentige „flat tax“ traf natürlich die Bezieher kleinerer Einkommen sehr viel stärker als die Besserverdiener, und so wurde das Gesetz durch Einführung eines „abzugsfreien Betrags“ von 125 Mark im Monat und einer Art Familienrabatt von 40 Mark pro Kopf und Monat deutlich sozialer. Auch wurde die flat tax auf 15.000 Mark pro Jahr gedeckelt, darüber setzte die Progression bis zu 55 % ein.

 

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Ein „Fliegender Holländer“ in Bergedorf

Bergedorfer Zeitung, 11. Juni 1920

Da kam also ein mit einem „Fliegenden Holländer“ ausgebüxter Elfjähriger nach Bergedorf – aber was war ein fliegender Holländer?

Musikfreunde werden an Richard Wagners Oper „Der fliegende Holländer“ denken – Physiker eher an ein Phänomen der atmosphärischen Optik (laut Spektrum-Lexikon der Physik die „obere Luftspiegelung eines Schiffes, das sich unter dem Horizont befindet“), literarische Verarbeitungen der Legende sind Legion. Gängige Internet-Suchmaschinen führen daneben zu Restaurants, Ferienwohnungen, Pizza, Cocktail, verschiedenen Spielen, einem Taxi-Service und dergleichen mehr, was alles nicht für diesen Knaben in Frage kommt und somit nicht weiterhilft.

Auf einer Nordseeinsel gibt es aktuell (2020) eine Fahrradvermietung dieses Namens, was einen ja gleich an ein Hollandrad denken lässt, und so könnte man vermuten, dass der Übeltäter auf einem Fahrrad holländischer Bauart nach Bergedorf kam. Das tat er aber wohl nicht: ein „Holländer“ war ein Fahrzeug für Kinder, das vor allem die Armmuskulatur beanspruchte – man musste auf dem Gefährt sitzend eine Art Deichsel vor- und zurückziehen, was die Hinterräder antrieb.

BZ, 18. Dezember 1920

BZ, 4. Dezember 1916

Gestützt wird diese Vermutung durch mehrere Kleinanzeigen zu Kauf bzw. Verkauf eines „Fliegenden Holländers“ oder „Holländers“, auch in zweisitziger Ausführung (BZ vom 14. Dezember), weiter untermauert durch eine frühere Anzeige, in der alternativ nach einem kleinen Dreirad für einen Achtjährigen gesucht wurde.

Der unternehmungslustige Junge wurde seiner Mutter übergeben – hoffentlich ebenso der „Fliegende Holländer“, was den materiellen Schaden der Expedition gemindert haben würde.

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Die Reichstagswahl in Bergedorf: linker und rechter Rand stärker

Bergedorfer Zeitung, 7. Juni 1920

Nach Ansicht der BZ war der Wahlkampf in Bergedorf „im parlamentsmäßigen Rahmen“ verlaufen – eine Einschätzung, der auf das Schärfste widersprochen werden muss: insbesondere die offen antisemitische Wahlkampagne der DNVP war dezidiert unparlamentarisch und volksverhetzend; wer will, kann das anhand der Inserate dieser Partei in der BZ problemlos überprüfen. In diesem Blog soll so etwas nicht wiedergegeben werden. Das politische Klima war jedenfalls seit dem  Kapp-Putsch und dem Richtungswechsel der USP vergiftet.

Tatsache ist, dass die Hamburger und Bergedorfer Koalitionsparteien SPD und DDP erheblich an Stimmen verloren: hatte bei der  Wahl zur Nationalversammlung die SPD in Bergedorf 51,1% der Stimmen erhalten, so fiel sie nun auf 37,1 % zurück, die DDP schrumpfte von 25,5% aus 13,8%. Stimmenzuwächse gab es vor allem bei der USP (von 3,1 auf 11,3%) und der DNVP (von 3,0 auf 14,1%): radikale Versprechungen stießen 1920 auf wesentlich mehr Resonanz als ein gutes Jahr zuvor. Die gemäßigt rechte DVP verbesserte sich von 15,3 auf 21,8%, ihre Stimmenzahl hatte sich nicht „fast verdoppelt“, wie der BZ-Redakteur meinte, sondern nur um 550 zugenommen.

In den anderen Gemeinden der Landherrenschaft war die Grundtendenz gleich. In Geesthacht allerdings wurde die SPD (von 1.550 auf 701 Stimmen) mehr als halbiert, in den landwirtschaftlich geprägten Gebieten trug die Kandidatur des „Lokalmatadors“ Heinrich Witthoefft zur Stärke der DVP dort in erheblichem Ausmaß bei.

Die reformorientierten und demokratiebejahenden Kräfte SPD und DDP waren also deutlich geschwächt worden. Die Propagandisten radikaler angeblicher Lösungen waren im Aufwind.

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