Der schwere Eisenbahnunfall bei der Pollhofsbrücke und andere Bahnunglücke

Bergedorfer Zeitung, 2. Januar 1917

Bergedorfer Zeitung, 2. Januar 1917

Es war das für Jahrzehnte schwerste Eisenbahnunglück im Großraum Bergedorf mit vier Toten und 15 Schwerverletzten: die Strecke war freigegeben worden, obwohl sie nicht frei war: der Zug aus Geesthacht hatte Verspätung, was aber nicht nach Bergedorf gemeldet worden war (siehe BZ vom 3. Januar 1917)

Der Unfall am 30. Dezember 1916 war aber nicht der einzige mit tödlichem Ausgang in jenen Jahren: ein Gefahrenort war der Bergedorfer Staatsbahnhof, wo die BGE-Züge aus Geesthacht endeten und wo man zur Weiterfahrt Richtung Hamburg umsteigen musste. Da die Züge oft übervoll waren (siehe den Beitrag Die Arbeiterzüge der BGE), gab es beim Umsteigen oft Gedränge, und wer einen (guten) Platz ergattern wollte, versuchte auf den einfahrenden Anschlusszug aufzuspringen. Im Oktober 1915 geriet dabei ein Pulverarbeiter unter den Zug und starb an seinen Verletzungen. Nach Ansicht der Bahnverwaltung war es „ein Wunder, daß bei der Unvernunft mancher Fahrgäste bisher weitere Unglücksfälle noch nicht zu verzeichnen“ waren (siehe BZ vom 5. Oktober 1915, siehe auch Jürgen Opravil, S. 54f); im April 1917 gab es diese aber: ein Mädchen, das vom fahrenden Zug sprang, verlor einen Fuß, und einem Jungen, der auf einen fahrenden Zug aufspringen wollte, musste ein Bein amputiert werden (siehe BZ vom 27. und 30. April 1917).

Die meist unbeschrankten Bahnübergänge und ungenügende Streckensicherung waren weitere Gefahrenquellen, die im Jahr darauf zwei Arbeitern das Leben kosteten (siehe BZ vom 28. Oktober und 23. Dezember 1916), und mehrfach scheuten Pferde bei der Querung der Bahnstrecke, was in einem der berichteten Fälle zum Tod eines Pferdes führte; Personen kamen nicht gravierend zu Schaden (siehe BZ vom 10. Juni und 19. November 1915 sowie vom 30. Oktober und 20. November 1916).

Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass am Tag nach dem hier wiedergegebenen Bericht folgende Anzeige in der BZ zu finden war:

Bergedorfer Zeitung, 3. Januar 1917

Bergedorfer Zeitung, 3. Januar 1917

Da hatte der Geschäftssinn über die Pietät gesiegt.

Ein tragisches Ereignis hatte es 1916 auch auf der Staatsbahnstrecke zwischen Bergedorf und Reinbek gegeben: ein sechzehnjähriges Mädchen aus Sande, „in Stellung“ in einem Haushalt in der Bleichertwiete in Bergedorf, ließ sich von einem Zug überrollen. „Die Schnürstiefel waren gänzlich abgelaufen, ohne Sohlen und ohne Schnürbänder.“ (Siehe BZ vom 26. und 27. September 1916)

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Die dritte Kriegsweihnacht: bei der Jugendkompagnie

Bergedorfer Zeitung, 15. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 15. Dezember 1916

Als ob es noch eines Belegs bedurft hätte: die Durchführung von Theaterabenden oder die Beteiligung daran war nicht der Hauptzweck der Jugendwehr, wie aus diesem Weihnachtsgruß der Bergedorfer Jugendkompagnie deutlich wird, ebenso wenig der Einsatz bei der Kartoffelernte (siehe den Beitrag Hansaschüler als Erntehelfer),  auch nicht die vom Kriegsministerium angeordneten Wettspiele. Hauptzweck war die direkte Vorbereitung auf den Kriegseinsatz, dem drei Mitglieder 1916 zum Opfer gefallen waren, wie es im Weihnachtsgruß der Bergedorfer Jugendkompagnie hieß. Weitere „Jungmannen“ im Alter von achtzehn Jahren waren im November einberufen worden.

Bergedorfer Zeitung, 27. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 27. Dezember 1916

Was „Felddienstübung“ (wie hier in der Wentorfer Lohe) bedeutete, wird aus einem weiteren Artikel deutlich: Postenstehen, Patrouillengänge, Feldwache – aber es war Weihnachten, und so gab es ein besonderes Element durch die wundersame Errettung des Weihnachtsmanns, der die Befragung durch die Jugendlichen gleich zu einer „patriotischen“ Ansprache nutzte: dass der Himmel „mit Staunen und Bewunderung“ die deutschen militärischen Erfolge betrachte, dass das Friedensangebot des Kaisers nicht nur den Segen Gottes in sich trage, sondern letztlich Gottes Wille sei (zu den Friedensinitiativen Ende 1916 und deren Scheitern siehe Herfried Münkler, S. 625ff. und Rainer Blasius in der FAZ). Die „Feinde“ aber hätten ihn und das Friedensangebot verhöhnt und verspottet – sie glaubten offenbar nicht mehr an den Weihnachtsmann.

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Die Morgen-, Abend- und Nachtbeleuchtung

Bergedorfer Zeitung, 20. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 20. Dezember 1916

Da waren die Arbeiter und Arbeiterinnen einmal bessergestellt als die Bessergestellten: sie sollten auf dem Weg zur Arbeit eine bessere Straßenbeleuchtung vorfinden als ihre Chefs.  Man muss hierin keine besondere Fürsorge des Bergedorfer Bürgertums sehen, denn Arbeiter mussten einfach früher aufstehen und noch in der Dunkelheit den Weg zum Arbeitsplatz oder zum Bahnhof antreten, während andere warten konnten, bis es hell wurde.

Man kann aus der Meldung auch gut erkennen, dass Bergedorfs Bevölkerung sozial getrennt wohnte: die Arbeiter wohnten in den „unteren Stadtteilen“ (anhand der Höhenlinien in der Karte 1904 nachzuverfolgen), die besserverdienenden Spätaufsteher im oberen Teil, dem Villenviertel nordöstlich von Schloss und Innenstadt.

Wie „üppig“ die Straßenbeleuchtung Bergedorfs am Abend wirklich gewesen war, ist dem Bericht der BZ nicht zu entnehmen (auch nicht, ob in jeder Straße Laternen standen), aber die Kohleknappheit zwang eben zu generellen wie zu differenzierten Einschränkungen: abends sollte allgemein „die Zahl der Brennstellen verringert werden“, nachts würden dann weitere Lampen abgeschaltet. Am frühen Morgen brannte nur die Nachtbeleuchtung – „mit Ausnahme der unteren Stadtteile“: dort wurde früh die Zahl der Licht liefernden Laternen wieder auf den Abendbetrieb erhöht.

Ausgelöst hatte die Sparmaßnahmen offenbar die Landherrenschaft per Verordnung, was aus einem Bericht über eine Sitzung der Gemeindevertretung Geesthachts hervorgeht, den die BZ ebenfalls am 20. Dezember wiedergab: demnach waren in diesem Ort schon bald nach Kriegsbeginn 85 von 160 Laternen stillgelegt worden.

Eine „moderne“ Straßenbeleuchtung hatte Bergedorf übrigens seit der Inbetriebnahme des Gaswerks im Jahre 1856. Als 1897 das stadteigene Elektrizitätswerk mit der Stromproduktion begann, wurde die öffentliche Beleuchtung auf elektrisches Licht umgestellt, und die (privaten) Gaswerksbetreiber verloren ihren größten Einzelkunden. Mit Sande (1903) und Geesthacht (1908), die beide noch nicht elektrifiziert waren, gewann das Gaswerk aber neue Abnehmer u.a. für die Straßenbeleuchtung (Oliver Barghorn-Schmidt, S. 23f.).

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Neue Ratmänner und Wahlen zur Bürgervertretung

Die politische Lage in Bergedorf war kompliziert: der Burgfriede sollte sicherstellen, dass sich während des Krieges die Machtverhältnisse nicht änderten, doch in Bergedorf waren sie schon verändert worden:  drei bürgerliche Ratmänner waren 1916 ausgeschieden – unter den neugewählten Ratmännern war nur Conrad Wilhelm Bauer bürgerlich; Wilhelm Wiesner war Sozialdemokrat und Dr. James Cohn ein Liberaler (siehe die Anlagen bei Uwe Plog sowie BZ vom 21. Oktober und 9. Dezember 1916).

Bergedorfer Zeitung, 13. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 13. Dezember 1916

Die drei neuen Ratmänner waren mit ihrer Wahl aus der Bürgervertretung ausgeschieden, und da auch ein Mitglied verstorben war, bestand diese nur noch aus 11 statt 15 Mitgliedern. Zudem waren die Amtsperioden Wiesners und vier weiterer Bürgervertreter (darunter die verbliebenen Sozialdemokraten Otto und Piel) 1916 ausgelaufen, sodass man sich auf eine Wahl im Januar 1917 verständigte (siehe nebenstehenden Bericht). Turnusmäßig alle zwei Jahre wurden Wahlen auf sechs Jahre durchgeführt, d.h. jedes Mal waren fünf von 15 Sitzen zu besetzen – bei der jetzt ins Auge gefassten Wahl würden es sogar acht sein (wobei die Ersatz-Vertreter der 1914 gewählten Bauer und Cohn nur für vier Jahre zu wählen waren).

Aber eigentlich sollte gar keine Wahl im Sinne einer Entscheidung zwischen politischen Richtungen und Kandidaten stattfinden: einstimmig erklärten Magistrat und Bürgervertretung, dass es keinen Wahlkampf geben und die Vertretung der Sozialdemokraten gestärkt werden solle – Letzteres ein besonderes Anliegen Bürgermeister Wallis, der dies mit der loyalen Erfüllung der Vaterlandspflichten durch die Arbeiter und die gute Zusammenarbeit mit den Bergedorfer Sozialdemokraten im Krieg begründete. Die bürgerlichen Vertreter konnte er offenbar mit der vagen Ankündigung beruhigen, dass sich Mittel und Wege finden würden, um eine „bedenkliche und das Allgemeinwohl schädigende Majorisierung durch die Sozialdemokratie“ zu verhindern (siehe ebenfalls BZ vom 13. Dezember 1916). Ob Walli dabei an eine weitere Einschränkung des Wahlrechts dachte? Entsprechende Beschlüsse (ein Zwei-Klassen-Wahlrecht mit Extra-Wahlrecht für Grundeigentümer) hatte es in Bergedorf 1911 gegeben; sie scheiterten aber am Einspruch des Senats, wie bei Uwe Plog (S. 122) nachzulesen ist.

Die so gut vorbereitete „Wahl“ mit bürgerlich-liberal-sozialdemokratischem Kandidatenkartell unterblieb übrigens. Erst nach Kriegsende, am 13. April 1919, wurde wieder gewählt: mit dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht errang die SPD 12 von 25 Sitzen, weitere zwei fielen an die KPD, sechs an die Bürgerliste, vier an die DDP und einer an die Grundeigentümer. Wilhelm Wiesner wurde Bürgermeister, Walli Senatssyndikus (siehe Bergedorfer Personenlexikon).

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Bargeldlos zum siegreichen Kriegsende

Bergedorfer Zeitung, 18. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 18. Dezember 1916

Mit allen, aber auch wirklich allen Mitteln sollte der Krieg gewonnen werden: auf den Schlachtfeldern durch die Soldaten, in der Wirtschaft durch den Vaterländischen Hilfsdienst und allgemein durch den bargeldlosen Zahlungsverkehr, um die vom Gegner betriebene „Entwertung des deutschen Geldes im Ausland“ zu bekämpfen: das Mittel dazu sollte das Postscheckkonto sein, und Bargeld sollte möglichst aus dem Verkehr gezogen werden. Nicht erwähnt wurde (natürlich), dass man damit auch dem Schwarzhandel und Schiebungen zu Leibe rücken wollte, die ja in der Regel bar abgewickelt werden.

Bergedorfer Zeitung, 28. September 1916

Bergedorfer Zeitung, 28. September 1916

Eine diesem Ziel dienende Maßnahme war die Abschaffung der erst 1909 eingeführten (Stempel-)Steuer auf Schecks (Hue de Grais, S. 54), die die Bergedorfer Bank in einer großen Anzeige am 28. September verkündete. Schecks setzen aber das Vorhandensein eines Kontos voraus, von dem aus auch Überweisungen getätigt werden können, und in Hamburg gab es zu der Zeit gerade 50.000 Bankkonten und 12.000 Postscheckkonten, wie der Bankassessor Froelich in einem Vortrag vor dem Bergedorfer Grundeigentümerverein darlegte (siehe BZ vom 4. November 1916): Froelich pries die Vorteile der Nutzung von Konten gegenüber Bargeld für die Nutzer (Schutz vor Diebstahl, Brandschäden, Verlieren) wie für das Reich, das so weniger Banknoten produzieren müsse, was zur „Vereinfachung unserer Geldwirtschaft“ führe, was wiederum vaterländische Pflicht sei. (Auch heute noch, trotz 139 Millionen Kredit- und Debitkarten, wird in Deutschland gern bar bezahlt, was Banken und Handel gar nicht recht ist, wie die Frankfurter Allgemeine kürzlich schrieb.)

Dem bargeldlosen Verkehr standen allerdings gewichtige Hindernisse entgegen: das Postscheckkonto bedurfte einer Mindesteinlage, die trotz Absenkung auf 25 Mark im Mai 1917 (siehe BZ vom 15. Mai 1917) sicher für manche kaum aufzubringen war. Außerdem waren Überweisungen zwischen Banken und Postscheckkonten nur indirekt über die Reichsbank möglich (siehe BZ vom 4. November 1916).

Bergedorfer Zeitung, 1. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 1. Dezember 1916

Nicht nur Banknoten waren knapp: auch an Münzgeld mangelte es schon seit längerer Zeit. Das Reich versuchte nicht nur, das Goldgeld einzusammeln (siehe z.B. den Beitrag Gold gab ich für Papiergeld), sondern ersetzte auch die Silbermünzen immer mehr durch „Darlehenskassenscheine“, denn die Edelmetalle wurden für die Bezahlung von Importen benötigt. Das Metall der kleinen Münzen (siehe Wikipedia, mit Abbildungen), brauchte die Rüstungsindustrie: die 25-Pfennig-Stücke aus Nickel wurden schon 1915 von der Post einbehalten und an die Reichsbank abgeliefert; die 5-Pfennig-Stücke aus Kupfernickel wurden durch solche aus Eisen ersetzt (siehe BZ vom 21. Juli und 4. September 1915), allerdings nicht in ausreichendem Maße, sodass das Kleingeld knapp wurde (siehe BZ vom 16. November 1915). Auch die „Groschen“ zu 10 Pfennigen verschwanden zusehends aus dem Verkehr (siehe BZ vom 27. Oktober und 1. Dezember 1916), und im November 1916 genehmigte der Bundesrat die Herstellung von 1-Pfennig-Stücken aus Aluminium, die die kupfernen Münzen ersetzen sollten (siehe BZ vom 24. November 1916).

Ganz ohne Bargeld ging es eben doch nicht.

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Was schenkt man bloß zu Weihnachten?

Hier eine Auswahl von Angeboten aus der Bergedorfer Zeitung vom Dezember 1916:

Bergedorfer Zeitung, 6. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 6. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 9. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 9. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 13. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 13. Dezember 1916

 

 

 

 

 

Bergedorfer Zeitung, 15. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 15. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 12. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 12. Dezember 1916

 

 

Bergedorfer Zeitung, 9. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 9. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 15. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 15. Dezember 1916

Nach diesen Inseraten zu urteilen waren Bergedorfs Geschäfte auf die verschiedensten Wünsche und Geschenkideen eingestellt, von Federboas über Uhren bis zu Ausrüstungsgegenständen für Soldaten und Kriegsspielzeug, und allen Sammelbemühungen zum Trotz (siehe den Beitrag Gold gab ich für Papiergeld) warb ein Goldschmied immer noch für die Produkte aus seinem Gold- und Silberwaren-Lager.

Wenn man allerdings mit den Inseraten vom Dezember 1914 vergleicht (siehe den Beitrag Kontraste zu Weihnachten), so fällt auf, dass kaum Angebote für den Weihnachtsschmaus gemacht wurden. „Flußlachs in Gallert“ klang noch einigermaßen attraktiv, ansonsten wurden grüne Heringe, Elbfische, eingelegte Gurken, Kriegsmus und Scheibenhonig offeriert, und ein Schlachter aus Sande wies darauf hin, dass er mehrere Pferde geschlachtet hatte. Im Übrigen war man auf die kargen Rationen der Lebensmittelkarte (ohne Extra-Rationen zu Weihnachten) angewiesen oder bei entsprechender Zahlungskraft auf den Schwarzmarkt.

Dass alle werblichen Maßnahmen des Einzelhandels nur einen Teil der Bevölkerung ansprachen, wird aus der Annonce des Vaterländischen Frauenvereins für Geesthacht und Umgegend deutlich: in dem Spendenaufruf heißt es in aller Klarheit: „Die Zahl der Bedürftigen ist sehr viel größer als sonst.“

Bergedorfer Zeitung, 15. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 15. Dezember 1916

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Granatendrehen und andere Kriegsarbeit in Bergedorf und Sande

Bergedorfer Zeitung, 7. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 7. Dez. 1916

Kriegsproduktion gab es nicht nur in Bergedorfs Nachbarschaft, in der Pulverfabrik Düneberg und der Dynamitfabrik Krümmel, sondern auch in Bergedorf selbst, wie die Anzeige der „Bergedorfer Maschinen-Fabrik von Alb. Lüdtke & v. Oertzen“ (am Grabendamm/Weidenbaumsweg) belegt, die Frauen zur Bearbeitung von Granaten suchte. Vor dem Krieg hatte die Firma vor allem Ziegeleimaschinen hergestellt, verlegte sich dann aber auf dieses neue Geschäftsfeld Militäraufträge, wie auch andere Betriebe der in Bergedorf/Sande starken Metallbranche und weiterer Branchen.

Die lokalgeschichtliche Literatur (siehe Bergedorfer Industrie I und Bergedorfer Industrie II, Angaben teilweise ergänzt und präzisiert aus dem Bergedorfer Adressbuch 1915 und dem Hamburger Adressbuch 1918) nennt außerdem die „Feinmechanische Werkstatt G. & G. Henning G.m.b.H. Bergedorf“ (Brookstraße 4 und 11), die „Molkerei-Maschinen-Fabrik Gebr. Preiss“ (Kampchaussee 41a), die „Hamburg-Bergedorfer Stuhlrohr-Fabrik von Rud. Sieverts“ (Kampstraße 25) als Betriebe, die (auch) Granatendreherei betrieben. (Eine Fotografie von Frauen beim Granatendrehen druckte 1916 die Pforzheimer Zeitung – „Der eiserne Film. Bilder aus Deutschlands Kriegsschmiede“ von 1917 zeigt die Herstellung von Granaten durch Frauen und Männer.)

Sieverts produzierte zudem Weidenkörbe für Munitionstransport, ebenso die benachbarte „Hanseatische Stuhlrohrfabriken Rümcker & Ude AG“ (Weidenbaumsweg 33). Die „Nagelfabrik Bergedorf“ (Nachbarin des Bergedorfer Eisenwerks, Wilhelmstraße 32/34 in Sande) erhöhte ihre Produktion von Hufnägeln. Die Ende 1916 gegründete „Hanseatische Motorengesellschaft m.b.H.“ (Weidenbaumsweg o. Nr.) stellte Motoren für Feldbahnen, Schützengrabenwagen und die Kriegsmarine her. Zünderschrauben und Taucherpumpen kamen aus der „Metallgießerei und Armaturenfabrik F. Haase“ (Neue Straße 21); die „Metallwarenfabrik Meyer & Niss G.m.b.H Bergedorf bei Hamburg“ (Kampchaussee 73), Anbieter vor allem von Heizöfen und (Petroleum-)Kochern, hatte in geringem Umfang Heeresaufträge (siehe BZ vom 11. März 1917), die Asbestprodukte der „Deutschen Kap-Asbest-Werke“ (Kampchaussee 9) wurden vor allem von der Kriegsmarine zu Isolierungs- und Brandschutzzwecken eingesetzt. Auch die „Norddeutsche Kugelringschmierlager-Werke“ (Kampdeich o. Nr.) suchte Munitions-Arbeiter und -Arbeiterinnen (siehe BZ vom 3. und 24. Mai 1917), die Firma „Hermann Krosch, Inh. Friedrich Stamp“ (Kampstraße 9) benötigte Schlosser „für Heereslieferungen“ (siehe BZ vom 20. April 1917). Die Eisen- u. Metallgießerei Otto Henning (Kampdeich) hingegen lehnte Rüstungsaufträge ab und wurde von der Metallversorgung ausgeschlossen.

Eine Spitzenstellung auf dem Gebiet der Rüstungsproduktion nahm ein Betrieb an der Hamburger Straße in Sande (etwa Höhe Grandkoppel) ein, der heute den meisten Sandern, Lohbrüggern und Bobergern unbekannt sein dürfte: die „Hermann Weiffenbach Munitions- und Pyrotechnische Fabrik Ges.m.b.H.“, die immer wieder vor allem Arbeiterinnen suchte, Anfangslohn 30 Pfennige pro Stunde (siehe z.B. BZ vom 28. September 1916, 8., 15. und 27. Januar sowie 21. März 1917), und laut Rudolf George/Christel Oldenburg während des Krieges 200 bis 300 Männer und Frauen beschäftigte. Nach George/Oldenburg, die auch über die Nachkriegsgeschichte der Gebäude und des Geländes als Wohngebiet schreiben, kam es dort mehrfach zu Explosionen, sodass am Ende des Krieges nur noch drei oder vier von acht Füllstationen existierten.

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Die Sander Schriftstellerin Thea Kahle

Bergedorfer Zeitung, 8. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 8. Dezember 1916

Nahezu vergessen ist heute die Sander Autorin Thea Kahle, deren erster Roman „Sonne“ 1908 in der „Deutschen Roman-Zeitung“, 45. Jahrgang, 2. Band, erschienen war. Ende 1916 erfolgte die Veröffentlichung ihres zweiten Romans als eigenständige Publikation im Verlag von Richard Mühlmann in Halle (nicht Hamburg, wie die BZ schrieb): „Judas Simon Ischarioth“.

Titelblatt

Titelblatt

Im Zentrum des Romans steht Judas, einer der zwölf Jünger Jesu. Das Bild des getreuen Anhängers, der seinen Schwager mit der Verwaltung seines Wohlstands und der Fürsorge für Frau und Kinder beauftragt, um Jesu folgen zu können, bekommt aber bald Risse: er erkennt, dass er nicht der Lieblingsjünger ist und dass Jesus nicht die weltliche Herrschaft und damit die Befreiung Israels von den Römern anstrebt, womit seine Hoffnung auf eine führende Rolle in diesem neuen Reich sich zerschlägt. Seine Enttäuschung steigert sich in Hass, der schließlich zum Verrat führt, den Judas noch vor der Kreuzigung Jesu bereut, was ihn letztlich in den Selbstmord treibt.

Eine theologische Debatte zum Judasbild Thea Kahles kann in diesem lokalhistorischen Blog nicht geführt werden, und auch Literaturkritik soll hier nicht geleistet werden. Es wäre aber schon von Interesse zu wissen, ob Thea Kahle das Motiv des Friedensfürsten, als der Jesus in ihrem Roman häufig bezeichnet wird, in bewusster Auseinandersetzung mit dem für sie aktuellen Krieg wählte, doch dazu bedürfte es näherer Kenntnis der Autorin und weiterer Werke aus ihrer Feder.

An ihren Roman „Sonne“ heranzukommen, ist schwierig: das „nördlichste“ Exemplar befindet sich in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel. „Judas Simon Ischarioth“ ist in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg vorhanden – und wer diesen Titel bei einem bekannten Internet-Versender als Suchbegriff eingibt, stößt sogar auf einen Nachdruck von 2010, der bei Kessinger Legacy Reprints erschienen ist – ein Verlagshaus (in Whitefish, Flathead County, Montana, USA), das das „print on demand“ copyrightfreier Bücher betreibt – nach Wikipedia ein Geschäftsmodell, das Bücher der „public domain“ entzieht, indem eine neue ISBN-Nummer beantragt wird, sodass – schwupps – wieder Copyright vorhanden ist, natürlich bei dem Reprint-Verleger …

Thea (Dorothea) Kahle war laut Hamburger Lehrerverzeichnis 1920/21 (S. 166) Lehrerin an der Hilfsschule Rosenallee 37 in Hammerbrook. Sie wohnte in Sande, Waldstraße 31 (heute Höperfeld).

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Kriegs-Weihnachtsbäume und die Einzelkerze

Bergedorfer Zeitung, 5. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 5. Dezember 1916

Zwar fehlt in dieser kleinen Anzeige des Bergedorfer Einzelhändlers Carl Denker (laut Bergedorfer Adressbuch 1915: Papierhandlung und Buchbinderei, Sachsenstraße 8) die Angabe „versandfertig“, aber so werden es die Leser und Leserinnen wohl verstanden haben: wer also ein Familienmitglied im Kriegsdienst hatte, konnte bei Denker die Komplettausstattung „Weihnachtsfest“ ordern: Tannenbäumchen, Schmuck und Kerzen an die Front, was bei Absender wie Empfänger (und auch beim Anbieter) festliche Befriedigung hervorrufen sollte. Ob das alles so eintrat?

Bergedorfer Zeitung, 11. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 11. Dezember 1916

Damit wären die Soldaten mit besserer Weihnachtsdekoration versehen gewesen als die BZ-Leser, die dem Appell vom 11. Dezember folgten und ihren häuslichen Weihnachtsbaum mit nur einer einzigen Kerze versahen, was allerdings „die Bedeutung und die Feierlichkeit des Vorganges“ sogar vertiefen und verinnerlichen sollte: in Friedenszeiten wären Verschwendung und Luxus mit Weihnachtskerzen „sicher berechtigt“ (?); die Beschränkung auf ein einzelnes Licht im Jahre 1916 dagegen würde den „Ernst der Zeit in heilsame Erinnerung“ bringen und wäre den Kindern später „eine wertvolle Erinnerung für ihr ganzes Leben“.

Auch hier kann man fragen, auf welche Resonanz dieser Vorschlag traf – man kann aber auch angesichts der verbreiteten Not vermuten, dass in vielen Familien eine Kerze ohne Weihnachtsbaum schon das Maximum dessen war, was man sich leisten konnte. Deutlich wird in jedem Falle, dass Kerzen knapp und daher sicher teuer waren und der Mangel an Beleuchtungsmitteln vielen Menschen und der Wirtschaft erhebliche Einschränkungen bescherte, und das nicht nur zu Weihnachten.

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Die Fressordnung im Ersten Weltkrieg und die Einkommen in Bergedorf

Bergedorfer Zeitung, 1. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 1. Dezember 1916

Überraschen kann die Meldung über diese Verzehr-Hierarchie oder Fressordnung angesichts der Nahrungsmittelknappheit eigentlich nicht, und sie lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Militärschlachtungen“ sorgten für die Versorgung der Soldaten mit Fleisch – Rippen und Knochen, die bei den Schlachtungen „abfielen“, waren für die Zivilbevölkerung.

Unter der Zivilbevölkerung hatten wiederum die Schwerarbeiter, „für deren kräftige Ernährung im Interesse unserer Rüstung“ gesorgt werden sollte, Vorrang gegenüber anderen: sie erhielten die Rippen der geschlachteten Tiere – für die „unbemittelte Bevölkerung“ blieben die Knochen, aus denen durch Auskochen ja noch Fett zu gewinnen war. Die ausgekochten Knochen waren dann wieder abzugeben, damit „auf technischem Wege“ das restliche Fett herausgezogen werden konnte.

Der Artikel gibt nicht an, warum dieses Knochenbezugsrecht nur für die „unbemittelte Bevölkerung“ gelten sollte: hätte diese sich sonst wegen hoher Preise gar kein Fett mehr leisten können, oder ging man davon aus, dass die Besserverdienenden sich über Pensionsschweine, extra teures Wildbret und den Schwarzmarkt ausreichend versorgen konnten?

Es lohnt aber, einen genaueren Blick auf die Einkommensgrenze zu werfen: als unbemittelt galt, wessen Jahreseinkommen bis zu 2.500 Mark betrug. Zur Einordnung: bei der Bürgervertreterwahl 1914 hatten von knapp 16.000 Einwohnern Bergedorfs nur 2.600 das Wahlrecht, das ein Einkommen von mindestens 1.400 Mark im Jahr erforderte (Uwe Plog, S. 121f.). Zwar waren während der Kriegszeit Löhne und Gehälter deutlich gestiegen, doch es dürften nur wenige gewesen sein, deren Einkommen über 2.500 Mark lag. Angaben über die Einkommensverteilung waren nicht auffindbar, sodass einige Beispiele genügen müssen: Bergedorfer Lehrerinnen mit einem Jahreseinkommen von unter 1.500 Mark erhielten eine zehnprozentige „Kriegsteuerungszulage“, das Monatsgehalt des Maschinisten des Sander Wasserwerke wurde von 130 Mark auf 165 Mark erhöht (siehe BZ vom 31. Oktober und 5. Dezember 1916). Die Entlohnung eines Nachtwächters der Bergedorfer Wach- und Schließgesellschaft stieg binnen eines Jahres von 4,50 Mark pro Schicht auf 5,50 Mark (siehe BZ vom 16. Dezember 1915 und 30. Oktober 1916).

Um auf ein Jahreseinkommen von über 2.500 Mark zu kommen, hätte ein Arbeiter bei einem 10-Stunden-Arbeitstag und Sechs-Tage-Woche (siehe die Angaben zur Wochenarbeitszeit bei Wikipedia) einen Stundenlohn von deutlich über 80 Pfennigen erzielen müssen – das erreichten nicht einmal die „Ofenarbeiter“ des Bergedorfer Gaswerks, deren Lohn 1916 von 7 Mark auf 8 Mark pro Schicht stieg.

Wenn man es positiv sieht, kann man sagen, dass also fast alle Bergedorfer Anspruch auf auszukochende Knochen hatten – aus anderer Perspektive muss man zu dem Ergebnis kommen, dass fast ganz Bergedorf „unbemittelt“ war.

 

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