Die Arbeiterzüge der Bergedorf-Geesthachter Eisenbahn

Bergedorfer Zeitung, 5. Februar 1916

Bergedorfer Zeitung, 5. Februar 1916

Übervolle Züge kennen die Bergedorferin und der Bergedorfer auch heute, allerdings auf der S-Bahn-Strecke nach Hamburg, denn Richtung Geesthacht gibt es ab Bergedorf nur gelegentlich Verkehr mit einer Museumsbahn, der fahrplanmäßige Verkehr der Bergedorf-Geesthachter Eisenbahn (BGE) wurde 1953 eingestellt. Auf den verbliebenen Teilen der Strecke bietet die Arbeitsgemeinschaft Geesthachter Eisenbahn e.V. einen Museumsbahnbetrieb an, z.T. mit Originalfahrzeugen (siehe die Abbildungen dort).
Im Februar 1916 eröffnete dieser Leserbrief eine erbitterte Debatte: „A. B.“ beklagte die fehlende Heizung, mangelnde Sauberkeit und Instandhaltung der Züge sowie deren Überfülltheit: „zusammengepreßt wie die Heringe“ seien die Fahrgäste – und das ist glaubwürdig. Mehrere Autoren haben sich mit der Geschichte der BGE befasst: Jürgen Opravil, Hans Egon Metzger und Olaf Krüger, und die drei Publikationen ergänzen einander: nach Krüger (S. 100) beförderte die BGE im Geschäftsjahr 1913/14 rund 550.000 Personen, im folgenden 880.000 und 1915/16 dann 1,6 Millionen. Der Bestand an Personenwagen hatte sich laut Opravil (S. 107) von 20 im Jahre 1912 auf 25 im Jahr 1915 und 28 im darauffolgenden Jahr erhöht: der Zunahme des Personenverkehrs um 291 Prozent stand eine Erhöhung der Transportkapazität nur um 25 bzw. 40 Prozent gegenüber. Die zusätzlich beschafften Wagen waren solche der „III. Klasse zur Arbeiterbeförderung“, wie sie bei Metzger (S. 18f.) ebenso abgebildet sind wie die der II. Klasse (S. 16f.), und die Klassenunterschiede waren eklatant: Holzbänke und viele Stehplätze (versus Polstersitze in kleinen Abteilen in der II. Klasse) sorgten für den Massentransport zu den Fabriken in Düneberg und Geesthacht. Unter der fehlenden Heizung mussten die Fahrgäste wohl klassenübergreifend leiden, denn die Heizkesselwagen waren für die Lazarettzüge abgezogen worden (siehe BZ vom 27. Dezember 1915 und wieder am 23. September 1916).
Der Schlusssatz des Leserbriefes öffnet dann eine politische Dimension: „Wir leben im Burgfrieden und Nörgeln ist nicht angebracht, aber hier soll und muß es heißen: Fort mit dem Schlendrian, bessere Zustände für die Fahrgäste!“ Mit anderen Worten: ohne die  Burgfriedensvereinbarung hätte der Briefschreiber es nicht beim Appell zur Besserung per Leserbrief belassen, sondern zu Protesten aufgerufen, und die Bezugnahme auf den Burgfrieden macht es wahrscheinlich, dass der Autor dem gewerkschaftlich-sozialdemokratischen Lager zuzurechnen ist.

Bergedorfer Zeitung, 9. Februar 1916

Bergedorfer Zeitung, 9. Februar 1916

Die Retourkutsche kam wenige Tage später in massiver Form: die BGE bemühe sich, aber es fehle an Bediensteten, und so seien „kleine Mißstände“ unvermeidlich. Dem Beschwerdeführer wurde empfohlen, „den von mir neun Monate im Schützengraben innegehabten Platz zu übernehmen, den er wohl schon nach Verlauf von einigen Tagen gern wieder verlassen möchte, um mit einer anderen Gesinnung nach hier zurückzukehren.“ Mit anderen Worten: Herr A.B. sollte froh sein, dass er nicht an der Front zu sein hatte, wo ihm seine „Gesinnung“ ausgetrieben würde. Dem entgegnete ein weiterer Teilnehmer an dieser Leserbrief-Debatte (siehe BZ vom 9. Februar 1916), dass man sich die Gesinnung, die „solche geradezu ungeheuerlichen Zustände ermöglicht“, merken wolle – da ist der drohende Unterton unverkennbar.
Die Kontroverse im „Sprechsaal“ ging weiter, bis die BZ am 11. Februar 1916 lapidar verkündete: „Wir schließen hiermit die Auseinandersetzungen über diese Angelegenheit.“ Gründe wurden nicht genannt – hatte die Redaktion oder hatte die Zensurbehörde die Befürchtung, dass eine Fortsetzung die Stimmung weiter anheizen würde?
Was bewirkten die Leserbriefe? Nichts. Erst 1917 standen 17 zusätzliche Personenwagen zur Verfügung (Opravil, S. 107), aber die die Fahrgastzahlen stiegen im Geschäftsjahr 1917/18 auf acht Millionen (Krüger, S. 100). Die Heringe wurden noch enger gepackt.

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