Die Fressordnung im Ersten Weltkrieg und die Einkommen in Bergedorf

Bergedorfer Zeitung, 1. Dezember 1916

Bergedorfer Zeitung, 1. Dezember 1916

Überraschen kann die Meldung über diese Verzehr-Hierarchie oder Fressordnung angesichts der Nahrungsmittelknappheit eigentlich nicht, und sie lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Militärschlachtungen“ sorgten für die Versorgung der Soldaten mit Fleisch – Rippen und Knochen, die bei den Schlachtungen „abfielen“, waren für die Zivilbevölkerung.

Unter der Zivilbevölkerung hatten wiederum die Schwerarbeiter, „für deren kräftige Ernährung im Interesse unserer Rüstung“ gesorgt werden sollte, Vorrang gegenüber anderen: sie erhielten die Rippen der geschlachteten Tiere – für die „unbemittelte Bevölkerung“ blieben die Knochen, aus denen durch Auskochen ja noch Fett zu gewinnen war. Die ausgekochten Knochen waren dann wieder abzugeben, damit „auf technischem Wege“ das restliche Fett herausgezogen werden konnte.

Der Artikel gibt nicht an, warum dieses Knochenbezugsrecht nur für die „unbemittelte Bevölkerung“ gelten sollte: hätte diese sich sonst wegen hoher Preise gar kein Fett mehr leisten können, oder ging man davon aus, dass die Besserverdienenden sich über Pensionsschweine, extra teures Wildbret und den Schwarzmarkt ausreichend versorgen konnten?

Es lohnt aber, einen genaueren Blick auf die Einkommensgrenze zu werfen: als unbemittelt galt, wessen Jahreseinkommen bis zu 2.500 Mark betrug. Zur Einordnung: bei der Bürgervertreterwahl 1914 hatten von knapp 16.000 Einwohnern Bergedorfs nur 2.600 das Wahlrecht, das ein Einkommen von mindestens 1.400 Mark im Jahr erforderte (Uwe Plog, S. 121f.). Zwar waren während der Kriegszeit Löhne und Gehälter deutlich gestiegen, doch es dürften nur wenige gewesen sein, deren Einkommen über 2.500 Mark lag. Angaben über die Einkommensverteilung waren nicht auffindbar, sodass einige Beispiele genügen müssen: Bergedorfer Lehrerinnen mit einem Jahreseinkommen von unter 1.500 Mark erhielten eine zehnprozentige „Kriegsteuerungszulage“, das Monatsgehalt des Maschinisten des Sander Wasserwerke wurde von 130 Mark auf 165 Mark erhöht (siehe BZ vom 31. Oktober und 5. Dezember 1916). Die Entlohnung eines Nachtwächters der Bergedorfer Wach- und Schließgesellschaft stieg binnen eines Jahres von 4,50 Mark pro Schicht auf 5,50 Mark (siehe BZ vom 16. Dezember 1915 und 30. Oktober 1916).

Um auf ein Jahreseinkommen von über 2.500 Mark zu kommen, hätte ein Arbeiter bei einem 10-Stunden-Arbeitstag und Sechs-Tage-Woche (siehe die Angaben zur Wochenarbeitszeit bei Wikipedia) einen Stundenlohn von deutlich über 80 Pfennigen erzielen müssen – das erreichten nicht einmal die „Ofenarbeiter“ des Bergedorfer Gaswerks, deren Lohn 1916 von 7 Mark auf 8 Mark pro Schicht stieg.

Wenn man es positiv sieht, kann man sagen, dass also fast alle Bergedorfer Anspruch auf auszukochende Knochen hatten – aus anderer Perspektive muss man zu dem Ergebnis kommen, dass fast ganz Bergedorf „unbemittelt“ war.

 

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