Die Revolution und das Glatteis

Bergedorfer Zeitung, 27. November 1918 (gekürzter Auszug aus den Bekanntmachungen)

Diese revolutionäre Maßnahme des Arbeiter- und Soldatenrats wird alle Mieter von Parterrewohnungen, Läden etc. erfreut haben, denn von nun an brauchten sie bei Schnee und Glatteis nicht mehr den Bürgersteig mit abstumpfenden Mitteln zu bestreuen. Zuständig war von nun an der Hauswirt, und so zeigte sich die neue Ordnung auch im Kleinen.

Bergedorfer Zeitung, 27. November 1918 (gekürzter Auszug aus den Bekanntmachungen)

Die Freude währte aber nur gut eine Woche, dann gab es eine neue Bekanntmachung des Rats zum selben Thema und die Rückkehr zur alten Ordnung: die Streupflicht kehrte gemäß der Straßenordnung zu den Parterremietern zurück.

 

Die genauen Abläufe dieses Hin-und-Her sind nicht auszumachen.

Da der Arbeiter- und Soldatenrat „die Ausübung der politischen Gewalt im Hamburger Staatsgebiet übernommen“ sowie Bürgerschaft und Senat (vorübergehend) abgesetzt hatte (Bekanntmachung des Rats, BZ vom 13. November), konnte er natürlich auch die Streupflicht neu regeln. Zwar galt grundsätzlich: „Die Gesetze bleiben in Kraft.“ (Bekanntmachung des Rats, BZ vom 14. November), aber der Rat erließ insgesamt 142 Verordnungen (Walther Lamp’l, S. 16-19), die auch geltende Gesetze änderten (zur Streupflicht ist in Lamp’ls Zusammenstellung dieser Verordnungen allerdings nichts zu finden). In diesem Sinne konnte er problemlos die Streupflicht nach § 69 der Straßenordnung anders zuweisen, und für eine Rücknahme lagen somit keine zwingenden Gründe vor.

Bergedorfer Zeitung, 13. November 1918

Bergedorfer Zeitung, 14. November 1918

 

 

 

 

 

 

In den Plenarsitzungen des Arbeiter- und Soldatenrats hat es zur Bestreuung der Bürgersteige offenbar keine Debatte gegeben und auch entsprechende Beschlüsse sind den Protokollen nicht zu entnehmen. Etwaige Einsprüche der wieder eingesetzten „alten“ Institutionen Senat und Bürgerschaft hätte der Rat durch sein Vetorecht (Bekanntmachung des Rats, BZ vom 19. November) wegwischen können. Möglicherweise wurde die Änderung von einer der Kommissionen des Rats vorgenommen, über deren Tätigkeit nur wenig bekannt ist (Volker Stalmann 2013, S. 61ff.) – eventuell handelte es sich um eine Eigenmächtigkeit der Nachrichten- und Presseabteilung des Rats, die „täglich auf eigene Faust allerlei Bekanntmachungen und Aufrufe [veröffentlichte], von denen die Mitglieder der Exekutive nie eine Ahnung hatten“ (Paul Neumann, S. 38).

Die „Aussichten für die Witterung“, die regelmäßig in der BZ zu finden waren, nannten in diesem Zeitraum nur für den 30. November „Temperatur nahe Gefrierpunkt; leichte Niederschläge wahrscheinlich“ (BZ vom 29. November), sonst war es bis 6. Dezember wärmer. Witterungsbedingte Unfälle gab es in jenen Tagen offenbar nicht, und es muss offen bleiben, wodurch der Arbeiter- und Soldatenrat auf das Bekanntmachungs-Glatteis geriet.

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Wandel in Bergedorf, Revolution in Geesthacht

Bergedorfer Zeitung, 21. November 1918

Zwei Wochen nach der Revolution war die Macht in Bergedorf neu verteilt – folgt man der Zeitungsberichterstattung: konsensual. Die bürgerliche Mehrheit in der Stadtvertretung beschloss einstimmig, den Magistrat um drei (ehrenamtliche) Mitglieder zu erweitern und den Sozialdemokraten Wilhelm Wiesner zum besoldeten Ratmann zu befördern. Damit hatte die SPD eine komfortable Mehrheit in der Exekutive der Stadt, und auch der örtliche Arbeiterrat wird zufrieden gewesen sein, denn mit Carl Storbeck zog der Vorsitzende des Arbeiter- und Soldatenrats in die Verwaltungsspitze ein, ebenso wie Friedrich Frank, Gewerkschaftssekretär und Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats (siehe den Beitrag Die Revolution organisiert sich).

Bergedorfer Zeitung, 15. November 1918

Warum waren die bürgerlichen Stadtvertreter (alle!) bereit, auf die Mehrheit im Magistrat zu verzichten? Zum einen hatte es Vorgespräche Bürgermeister Wallis mit der örtlichen SPD-Führung gegeben (BZ vom 25. November), und Walli wies seine Gremien darauf hin, dass ohne Änderungen der Mehrheit „die neue politische Gewalt im Wege der Dekretierung“ eine grundlegend andere Verwaltung einführen und dem Bürgertum einiges zumuten würde (BZ vom 21. November).

Zum anderen hatten die Stadtvertreter wohl über die Grenzen geblickt und gesehen, was in Geesthacht bereits passiert war: dort hatte der Arbeiter- und Soldatenrat für seine Tätigkeit von Gemeindevorstand und Gemeindeversammlung 3.000 Mark gefordert und auch bekommen (BZ vom 13. November 1918). Das hielt die Revolutionäre aber nicht davon ab, anschließend die kommunalen Gremien schlicht aufzuheben (korrumpierbar war der Rat also nicht) – nur ein Mitglied von Vorstand und Vertretung, Rudolf Messerschmidt, beließ man im Amt, um durch diesen die Geschäfte der Verwaltung weiterführen zu lassen. Auch in Reinbek setzte der dortige Arbeiter- und Soldatenrat die Gemeindevertretung ab (BZ vom 18. November 1918), was aber schon am nächsten Tag wieder rückgängig gemacht wurde (BZ vom 19. November 1918).

Einen ähnlichen Machtwechsel wollten die Bergedorfer Politiker in ihrer Stadt offenbar vermeiden, und das gelang ihnen: alle behielten ihre Ämter, es kamen nur neue Amtsinhaber dazu, was zu einer neuen Mehrheit im Magistrat führte. Ob die Stadtvertretung dann auf Tauchstation geschickt wurde oder ob sie freiwillig abtauchte, ist nicht bekannt – ihre nächste Sitzung fand erst am 28. Februar 1919 statt (BZ vom 1. März 1919). Bis dahin konnte der Magistrat frei schalten und walten.

Übrigens: Ende November setzte der von der USPD dominierte Geesthachter Arbeiter- und Soldatenrat eine neue Gemeindevertretung ein (BZ vom 28. November), die (nach vermutlich deutlich hörbarem Zähneknirschen) von der Landherrenschaft auch anerkannt wurde (BZ vom 10. Dezember). Ob der Rat damit seine Legitimationsbasis verbreitern oder sich von Aufgaben und Verantwortung entlasten wollte, ist unbekannt. Zu tun gab es offenbar genug: für Schreibarbeiten suchte der Soldatenrat „zwei schreibgewandte junge Mädchen sowie ein junges Mädchen für die Schreibmaschine“ (Anzeige in der BZ vom 18. November) – auch Revolution bedarf offenbar einer Verwaltung.

Die Aktivitäten des Geesthachter Rates schilderte August Ziehl (S. 30-32), Schriftführer des Rates, in seinen später verfassten Erinnerungen; auch historische Analysen liegen vor, z.B. von Stefan Kroll (S. 103-114) und in knapper Form zuletzt von Ortwin Pelc (S. 103f.). Vergleichbares Schrifttum zu Bergedorf fehlt.

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Tanz in allen Sälen, mit Musik und Bohnerwachs

Bergedorfer Zeitung, 23. November 1918

Endlich durfte wieder öffentlich getanzt werden: eine Woche nach der Revolution in Hamburg hatte der Arbeiter- und Soldatenrat das praktisch seit Kriegsbeginn geltende Verbot von Tanzveranstaltungen aufgehoben (BZ vom 14. November), und schon am nächsten Tag kündigte Bahlmanns Gasthof auf dem Zollenspieker für den 17. November einen „großen Ball“ an, am Tag danach taten dies Lokale in Bergedorf, Sande und Geesthacht (BZ vom 15. und 16. November). Am dann folgenden Sonntag hatten die Tänzer die Qual der Wahl, wie die Inserate belegen, und für den 1. Dezember wurde noch mehr Tanzmusik bei Kränzchen, Bällen und dergleichen angeboten, wieder allein vier Mal in der Stadt Bergedorf (BZ vom 30. November).

Bergedorfer Zeitung, 2. Dezember 1918

Doch es war zunächst nur ein kurzes Vergnügen: der Hamburger und der Bergedorfer Arbeiter- und Soldatenrat setzten das Tanzverbot wieder in Kraft: der Kohlenmangel erforderte es, die Versorgung der Lebensmittel- und Verkehrsbetriebe sowie der öffentlichen Anstalten hatte Priorität, und deshalb wurde auch die Polizeistunde vorverlegt (BZ vom 30. November). Ob sich die Kohlenversorgung in der Woche danach entscheidend verbesserte oder ob es Protest gegeben hatte, berichtete die BZ nicht, aber am 7. Dezember druckte sie die Bekanntmachung, dass wieder getanzt werden durfte. Die Gastronomen hatten offenkundig vorher davon Wind bekommen, denn in derselben Ausgabe der Zeitung gab es zehn Ankündigungen von Tanzvergnügen im Raum Bergedorf (BZ vom 7. Dezember).

Bergedorfer Zeitung, 23. November 1918

Nach Jahren ohne Bohnerwachs werden die Saalböden rau und stumpf gewesen sein, was auch P. Zeyn als Problem erkannt hatte: er wandte sich an die Saalbesitzer und bot Abhilfemittel an. Vermutlich machte er dabei ein gutes Geschäft.

 

Bergedorfer Zeitung, 14. Dezember 1918

Bessere Zeiten sollten jetzt auch für die Musiker beginnen, die bei all diesen Veranstaltungen aufspielten: in einer Versammlung, zu der der „Zentralverband der Zivilmusiker Deutschlands“ eingeladen hatte (BZ vom 10. Dezember), beschlossen sie, künftig den Hamburger Tarif zu verlangen.

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Die Tätigkeit des Arbeiter- und Soldatenrats und die Gerüchte

Bergedorfer Zeitung, 19. November 1918

Es waren vor allem Alltagsthemen, die den Bergedorf-Sander Arbeiterrat bewegten: Arbeitszeit, Wohnungsfürsorge, Lebensmittelverteilung, Arbeitslosenfürsorge und Arbeitsnachweis. Die ersten Aktionen waren die Erfassung der Zahl der Arbeitnehmer in den

BZ, 16. November 1918

Betrieben und die Einführung des Achtstundentags (BZ vom 11. und 16. November); ansonsten beschränkte der Rat sich auf „Mitwirkung“ an den städtischen Maßnahmen, wie es im Bericht Friedrich Tonns heißt (BZ vom 14. Dezember). Die Aktivitäten der Stadt waren auch durchaus im Sinne des Rats: Hauseigentümer wurden verpflichtet, alle für Teilung geeigneten sowie leerstehenden Wohnungen zu melden, ebenso alle Räume, die für Wohnzwecke geeignet waren (BZ vom 16. November). Ein Arbeiterausschuss für die städtischen Arbeiter, d.h. eine Art Personalrat, wurde geschaffen und ein Kredit über 100.000 M für Maßnahmen gegen Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit aufgenommen, die Einrichtung eines Fürsorgeamts wurde in Angriff genommen (BZ vom 21. November), und ab Jahresende inserierte der „Öffentliche Arbeitsnachweis“ als „Städtisches Arbeitsamt Bergedorf“ (BZ vom 31. Dezember).

Einige bis dahin städtische Kompetenzen wurden vom Arbeiter- und Soldatenrat übernommen, so die Festlegung der Polizeistunde und das Verbot von Tanzveranstaltungen (siehe den Beitrag Tanz in allen Sälen), auch die Ausstellung von Waffenscheinen (z.B. BZ vom 2. und 3. Dezember). Der Soldatenrat verfügte über Sicherheitsmannschaften, die die Polizei verstärkten und insbesondere bei der Diebstahlbekämpfung mehrfach erfolgreich waren (z.B. BZ vom 13. und 15. November sowie 30. und 31. Dezember).

Zu kämpfen hatte der Arbeiter- und Soldatenrat daneben mit Gerüchten und anonymen Anschuldigungen (auch gegen den Bürgermeister), gegen die er sich öffentlich zur Wehr setzte:

Bergedorfer Zeitung, 18. November 1918

Bergedorfer Zeitung, 6. Dezember 1918

 

 

 

 

 

 

 

 

Ob hinter diesen und anderen Anschuldigungen politische Absichten steckten oder ob die Urheber nur jemandem eins auswischen wollten, bleibt offen – jedenfalls gab es außer den hier wiedergegebenen Artikeln noch drei Bekanntmachungen des Arbeiter- und Soldatenrats, dass anonyme Zuschriften nicht bearbeitet würden (BZ vom 16., 19. und 26. November). Das Anschwärzen und Gerüchtestreuen war aber kein auf Bergedorf begrenztes Problem: der Geesthachter Rat hatte sich ebenso gegen Verleumder zu wehren und wollte diese sogar „an den Pranger stellen“ (BZ vom 5. Dezember), was aber hoffentlich nur metaphorisch gemeint war.

BZ, 3. Dezember 1918

Ansonsten: der Arbeiter- und Soldatenrat sollte ordnungsgemäß verwaltet werden, wie die nebenstehende Anzeige belegt – das Geld kam aus der Stadtkasse (BZ vom 26. Februar 1919). Das mehrfache Erscheinen solcher Anzeigen zeigt aber auch, dass wohl manche Requisitionen oder Bestellungen in rein privatem Interesse erfolgten.

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Die Revolution organisiert sich

Bergedorfer Zeitung, 13. November 1918

Hier Hamburg, da Preußen: das spielte in diesen Revolutionstagen keine Rolle, und durch Bekanntmachungen des Bergedorfer Arbeiter- und Soldatenrates vom 13. November erfuhr man, dass der Rat das preußische Sande in seinen Zuständigkeitsbereich aufgenommen hatte und nun als „Arbeiter- und Soldatenrat Bergedorf-Sande“ firmierte. Dieser war fast rund um die Uhr zu sprechen (was bald nur im Schichtdienst erledigt werden konnte, denn der Rat führte mit sofortiger Wirkung den Achtstundentag ein, BZ vom 16. November 1918). Er requirierte Waren und Sachen, auch kooperierte er mit den örtlichen Polizeibehörden, stellte Posten auf und patrouillierte beide Gemeinden (siehe hierzu auch den Beitrag Die Tätigkeit des Arbeiter- und Soldatenrats). Vermutlich hatte er rote Armbinden – ob es wie in der Stadt Hamburg eine „Armbindenhierarchie“ des Arbeiter- und Soldatenrats (BZ vom 16. November) gab, ist nicht überliefert. Auf jeden Fall gab es Ausweise und Stempel – dem Museum für Hamburgische Geschichte ist es gelungen, im  Staatsarchiv Hamburg einen Bergedorf-Sander Stempelabdruck ausfindig zu machen:

Stempel des Arbeiter- und Soldatenrats Bergedorf-Sande mit Unterschrift des Vorsitzenden Storbeck

Eine vom Arbeiter- und Soldatenrat Hamburg empfohlene Gestaltung eines Stempels   hätte im Raum Bergedorf wohl Verwirrung gestiftet, denn das Hand-in-Hand-Symbol ähnelte dem der Vereinsbrauerei Bergedorf, das im Beitrag Bier für die Welt zu sehen ist.

Korpsverordnungsblatt für das IX. Armeekorps, herausgegeben vom Arbeiter- und Soldatenrat Hamburg, 24. November 1918 (Nr. 7), S. 21, Dok-Nr. 38

Bergedorfer Zeitung, 14. November 1918

Der Arbeiterrat war nur „provisorisch“, und so rief er zur Wahl von „Betriebsdelegierten“ auf, die dann den Arbeiterrat wählen und diesen damit legitimieren sollten, wobei sowohl Frauen als auch Männer wahlberechtigt waren. Diese Wahl wollte die Ortsgruppe Bergedorf-Sande des Deutschen Metallarbeiter-Verbands nicht dem Zufall überlassen; sie organisierte für den Vorabend der Wahl eine Versammlung ihrer Betriebsdelegierten und Arbeiter-Ausschussmitglieder (siehe den Beitrag Die Frauen und der Vaterländische Hilfsdienst) – der hiesige Geschäftsführer der Organisation war Friedrich Frank, der spätere Bergedorfer Bürgermeister (siehe Bergedorfer Personenlexikon, S. 71-73).

Mit dem Wahlergebnis (siehe unten) dürfte Frank zufrieden gewesen sein, nicht nur, weil er gewählt wurde (auch in die „Exekution“, richtiger wohl „Exekutive“), sondern weil sich mit ihm eine Reihe weiterer Bergedorfer Sozialdemokraten im Rat fand: der Geschäftsführer der Allgemeinen Ortskrankenkasse Friedrich Tonn wurde 1919 für die SPD ins Stadtparlament gewählt, H. G. W. Pappenhagen war SPD-Mitglied (BZ vom 6. November 1917) und auch Karl Storbeck gehörte der SPD an (siehe die Zusammenstellung bei Uwe Plog, S. 139f.). Wilhelm Reins kandidierte 1919 als Gemeindevertreter für die SPD in Sande, Beinsen für die USPD Sande (BZ vom 25. Februar 1919).  Über Parteizugehörigkeiten anderer Mitglieder des Arbeiterrats war nichts in Erfahrung zu bringen, aber dass (mindestens) fünf von acht Mitgliedern der Exekutive SPD-Mitglieder waren und dass entsprechend dem Vorschlag des provisorischen Rates einstimmig gewählt wurde, spricht dafür, dass die SPD alles unter Kontrolle hatte.

Bergedorfer Zeitung, 19. November 1918

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Kriegsende: die Pulverfabrik entlässt ihre Arbeiter

Bergedorfer Zeitung, 16. November 1918

„Fast ganz“ musste die Pulverfabrik Düneberg ihren Betrieb einstellen: der Krieg war ja zu Ende. Für die meisten Beschäftigten bedeutete dies die Entlassung, wobei Arbeiterinnen, soweit sie nicht bei Reinigungsarbeiten eingesetzt werden konnten, ausnahmslos die Kündigung erhielten.

Die Produktion war bereits einige Tage vorher eingestellt (BZ vom 8. November), dann kurzzeitig am 11. November wieder aufgenommen worden (BZ vom 9. November),  aber nun war es definitiv vorbei. 16.000 Arbeiterinnen und Arbeiter wurden entlassen (BZ vom 18. November). In den folgenden Wochen gab es in Hamburg und Bergedorf mehrere Protestversammlungen der Entlassenen und Verhandlungen des Hamburger Arbeiterrats mit der Leitung der Fabrik, auch mit den Direktoren in Berlin (BZ vom 18., 20. und 21. November sowie 5. und 19. Dezember), die zu einem Teilerfolg führten: auch im Januar wurde noch Lohn ausgezahlt, 1,4 Millionen Mark für 14 Tage (BZ vom 3. Januar 1919).

Manche Entlassenen werden sich gar nicht beeilt haben, ihre „Schlusszahlung“ und ihre Papiere zu erhalten, denn so konnten sie laut Bekanntmachung weiter Lebensmittel in der Konsumanstalt der Fabrik einkaufen. Die Vorräte müssen beachtlich gewesen sein, denn noch kurz vor Weihnachten waren dort Lebensmittel vorhanden, deren Beschlagnahme und Verteilung an die Allgemeinheit durch den Arbeiter- und Soldatenrat gefordert wurde (BZ vom 21. Dezember 1918). Laut den Erinnerungen des Schriftführers des Geesthachter Arbeiter- und Soldatenrats August Ziehl (S. 31) erfolgte die Beschlagnahme auch – doch die Hamburger, damit auch die Geesthachter, hatten nichts davon, denn, so Ziehl, die Waren wurden dem Arbeiterrat in Ratzeburg überwiesen: Düneberg gehörte ja nicht zu Hamburg, sondern zum Kreis Herzogtum Lauenburg.

Bergedorfer Zeitung, 16. November 1918

Der Bergedorfer Zeitung war übrigens die Meldung über die Massenentlassungen genauso viele Zeilen wert wie die über die Auszeichnung des Leiters der Düneberger Trifabrik mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse am weiß-schwarzen Bande.

 

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Das Neue Hansa-Kino und die Revolution

Bergedorfer Zeitung, 12. November 1918

Zugegeben: Ferdinand Lassalle war kein Revolutionär – aber man kann es als revolutionär bezeichnen, dass das Bergedorfer Neue Hansa-Kino diesen Film zur Vorführung brachte, denn es zeigt, wie sich die Verhältnisse wandelten.

Während der Kriegsjahre hatte sich der Kinobetreiber Wilhelm Kuntz mehr als seine „patriotische Pflicht“ getan und wiederholt sein Haus für Wohltätigkeitsvorstellungen zur Verfügung gestellt: z.B. zugunsten des Roten Kreuzes, der Hindenburg-Spende und der Kolonialkriegerspende (BZ vom 31. August 1914, 29. September 1917 und 17. August 1918) – doch in erster Linie war er wohl Geschäftsmann.

Im Herbst 1914 warb er intensiv mit „den neuesten Bildern vom Kriegsschauplatz“ („Eiko-Woche“ – der Link führt zu einem Ausschnitt), ab 1915 allerdings mit stark abnehmender Frequenz, denn diese Wochenschauen mit oftmals gestellten Szenen oder Aufnahmen aus dem Hinterland erfüllten immer weniger die Erwartungen des Publikums (siehe hierzu und zum folgenden das detailreiche Buch von Wolfgang Mühl-Benninghaus, passim), das im Kino Unterhaltung und Ablenkung vom Kriegsalltag suchte: Detektivserien, Beziehungsdramen und Spielfilme aller Art mit bekannten Schauspielern wie Henny Porten, Fern Andra oder Waldemar Psylander standen im Vordergrund, die (weiterhin gezeigten) Kriegsbilder wurden in Kauf genommen. Beliebt waren offenbar auch die Aufklärungsfilme, auf die schon im Beitrag Die ungenannte Seuche eingegangen wurde.

Während der Kriegsjahre hatte sich Kuntz nach den Vorgaben der Politik richten müssen und auch Filme des Bild- und Filmamtes, das direkt der Obersten Heeresleitung unterstand, gezeigt. Im November 1918 nutzte er die neugewonnene Freiheit, um den kurz vor Kriegsende gedrehten Lassalle-Film mit mehreren Anzeigen anzupreisen und durch Lassalle-Zitate dessen politische Vorstellungen bekannter zu machen. Es gelang ihm sogar, im redaktionellen Teil der Bergedorfer Zeitung eine Empfehlung zum Besuch dieses Films über den großen Vorkämpfer für die Freiheit der Arbeiter unterzubringen – die Zeiten hatten sich eben geändert.

Bergedorfer Zeitung, 14. November 1918

Bergedorfer Zeitung, 18. November 1918

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alles änderte sich aber dann doch nicht: in der folgenden Woche kehrte das Hansa-Kino mit einem „dramatischen Schauspiel“ und einem „Drama aus dem Kunstleben“ zum üblichen Programmschema zurück (BZ vom 18. November 1918).

 

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Die Revolution erreicht Bergedorf

Bergedorfer Zeitung, 7. November 1918

Die Ereignisse überschlugen sich: „Blutige Krawalle in Kiel“ (5. November 1918), „Ruhestörungen in Hamburg“ (6. November), „Die aufständische Bewegung – Ein Aufruf des Hamburger Arbeiter- und Soldatenrats“ (7. November) lauteten Schlagzeilen der Bergedorfer Zeitung, und spätestens vor Redaktionsschluss am 7. November traf in Bergedorf eine Abordnung des Arbeiter- und Soldatenrats aus Hamburg ein, die hier offenbar für Ruhe sorgen wollte: Kundgebungen und „Straßenansammlungen“ sollte es nicht geben, „Ausschreitungen und Plünderungen“ sollten mit „sofortigem Erschießen“ bestraft werden.

Die nächsten zwei Tage brachten dann weitere Informationen:

Bergedorfer Zeitung, 8. November 1918

Bergedorfer Zeitung, 9. November 1918

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bergedorfer Zeitung, 8. November 1918

Das Kommando von 30 Mann übernahm also für den Hamburger Arbeiter- und Soldatenrat die Verwaltung der Stadt Bergedorf. Dem beugte sich Bürgermeister Walli: per Anzeige appellierte er an die Männer und Frauen Bergedorfs, Besonnenheit zu bewahren und sich den Anordnungen des Hamburger Arbeiter- und Soldatenrats, der ja die Ordnung aufrechterhalten wolle, zu fügen: „Die Organe der Behörde unterstützen den Arbeiter- und Soldatenrat in diesem Bestreben.“ (BZ vom 8. November 1918) Das klang alles sehr harmlos und friedlich, aber die Maßnahmen wie die Vorzensur, die die Revolutionäre über „Flugschriften“ ausüben wollten, nächtliche Ausgangssperre, Verdunklung und Androhung des Standrechts mit Erschießungen waren doch sehr weitgehend.

Im Gegensatz zu Hamburg war die Revolution in Bergedorf unblutig: zwar fielen Schüsse, aber niemand wurde davon getroffen, und über standrechtliche Erschießungen wurde auch in den nächsten Wochen nicht berichtet.

Schon am nächsten Tag näherte man sich der kleinstädtischen Ruhe und Normalität weiter an, wie der Artikel vom 9. November zeigt – die BZ führte dies auf die Mitwirkung des „sozialdemokratischen Organisationen“ in der Leitung des Hamburger Arbeiter- und Soldatenrats zurück, die ebenso in Bergedorf stattfand: war die erste Bekanntmachung am 8. November unterzeichnet mit „Der Hamburger Arbeiter- und Soldatenrat für Bergedorf. I. A.: Hopf“, so zeichnete am 9. November „Der Arbeiter- und Soldatenrat für Bergedorf“ und dann am darauffolgenden Montag, dem 11. November „Für den Arbeiterrat: Storbeck – Für den Soldatenrat: Thies“. (Karl) Storbeck war einer der Führer des Bergedorfer Gewerkschaftskartells und von 1918 bis 1920 sozialdemokratischer Ratmann in Bergedorf (siehe die Zusammenstellung bei Uwe Plog). Die Vorsitzenden des Soldatenrats waren laut Alfred Dreckmann (S. 40) „Kurt Thies und ein aus Kiel stammender Matrose Vorhöfer“. Vorhöfer zeichnete in der folgenden Zeit ebenfalls manchmal Bekanntmachungen (z.B. BZ vom 16. November), aber weitere biographische Informationen liegen nicht vor.

Bergedorfer Zeitung, 11. November 1918

Im Portici befand sich das Büro des Soldatenrats – der Wirt dieses Lokals hatte Erfahrung mit der Unterbringung von Soldaten, wie aus dem Beitrag Der Ausbau der Bahnstrecke Bergedorf – Geesthacht ersichtlich. Das Büro des Arbeiterrats befand sich in der Gaststätte des SPD-Stadtvertreters Christian Piel, Am Pool 11 (heute: Am Pool 41), das in der Weimarer Republik zum Zentrum der SPD und der Gewerkschaften wurde (siehe Bergedorf im Gleichschritt, S. 40f.). Die SPD ist dort noch heute zu finden; die Gewerkschaften haben 2017 ein anderes Quartier am Serrahn bezogen, und die Gastwirtschaft ist seit einiger Zeit geschlossen.

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In ernster Zeit: das Kriegsanleihethermometer

Bergedorfer Zeitung, 31. Oktober 1918

Bergedorfer Zeitung, 2. November 1918

 

 

 

 

 

 

Eine ernste Zeit war es wirklich, in der Ferdinand Ohly, der Direktor der Hansa-Schule, seine Schüler aufforderte, Geld für die neunte Kriegsanleihe zu geben. Die Luisenschule hatte offenbar ein Kriegsanleihethermometer, das mit den Zahlungsversprechen stieg, und die ebenfalls private Elisabethschule forderte ihre Schülerinnen auch zur Zeichnung auf. Dies geschah per Zeitungsanzeige, da die Schulen wegen der Grippe geschlossen waren.

Anzeige in der BZ, 24. September 1918

Die Werbung für die Kriegsanleihe hatte im September begonnen, als die BZ dreispaltige Schlagzeilen mit Kriegserfolgen druckte: „Im August 565 feindliche Flugzeuge abgeschossen (9. September), „Französische und englische Angriffe gescheitert“ (11. September), „Paris mit 22.000 Kilo Bomben beworfen“ (16. September).

Anzeige in der BZ, 5. November 1918

Ende Oktober gab es andere Überschriften: „Rücktritt Ludendorffs“ (28. Oktober) und „Das Ende des Zweibundes“ (29. Oktober). Ein ungenannter Kommentator stellte  fest: „Dieser Krieg ist verloren!“ (30. Oktober), und die neue Reichsregierung unter Prinz Max von Baden diskutierte, ob die Abdankung des Kaisers einen erträglicheren Frieden bringen würde (2. November). Die Werbung für die Kriegsanleihe ging dennoch weiter.

Wann genau die Zeichnungen der Schülerinnen und Schüler erfolgten, ist nicht zu klären, und auch nicht die Höhe der Beträge, denn detaillierte Angaben fehlen: nur die Gesamtsumme für die Stadt Bergedorf fand sich in der Zeitung: über 3,4 Millionen Mark (BZ vom 7. November). Auf die achte Kriegsanleihe (Bergedorfer Ergebnis: über 4 Millionen Mark) hatten Luisenschülerinnen 30.300 Mark, Hansaschüler 25.014,50 Mark, Elisabethschülerinnen 4.616 Mark und die Schülerinnen und Schüler der drei Stadtschulen 6.500 Mark gezeichnet (BZ vom 19. April 1918) –unterschiedliche Zahlungskraft wird dabei sicher eine Rolle gespielt haben, vielleicht aber auch Zahlungsbereitschaft.

Am 10. November 1918 druckte die BZ die  Waffenstillstandsbedingungen. Sie wurden am 11. November unterzeichnet.

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Flaschenrecycling 1918

Bergedorfer Zeitung,   2. November 1918

Kaum jemand wird 1918 seine geleerten Weinflaschen einfach in den Hausmüll geworfen haben (Glascontainer oder Pfandregale gab es ja noch nicht), denn man konnte sie verkaufen, zum Beispiel an Hans Schultes aus Altona, der die Flaschen abholte, was die Sache ja noch bequemer machte. Zweiundzwanzigmal inserierte Schultes in jenem Jahr in der Bergedorfer Zeitung – wenn er von der Zeitung keinen Rabatt erhielt, war das durchaus kostenintensiv: für „Reklame“ war pro Petitzeile eine Mark zu bezahlen (für Anzeigen aus dem Leserkreis nur 30 Pfennig pro Petitzeile), eine Schultes-Anzeige kostete also etwa 14 Mark, macht insgesamt gut 300 Mark Insertionskosten.

Daraus kann man schließen, dass die Bergedorfer – Krieg hin, Krieg her – ein trinkfreudiges Völkchen waren, was auch durch einige Annoncen bestätigt wird: das „Waldhaus“ am Möörkenweg an der Bille (siehe die Karte 1904, dort Nr. 31) bot 500 Weinflaschen zum Verkauf, nicht zu identifizierende Inserenten aus der Brauerstraße mehrere hundert (BZ vom 11. April, 2. August und 23. November 1918).

Möglicherweise waren diese Flascheneigner nicht mit den gebotenen Preisen zufrieden, obwohl Schultes mehr zahlen wollte als andere Flaschensammler: die Firma Flaschen-Engros Wessel Meylink kaufte zu 15 Pfennig, Otto Danielsen 18 Pfennig (BZ vom 12. April und 29. Oktober); eine Hamburger „Flaschenzentrale“ nannte ihre Preise ebenso wenig wie die lokalen Aufkäufer Oehr und Knüppel (BZ vom 10. Januar, 13. April und 8. Oktober).

Bergedorfer Zeitung,   4. Juni 1918

Vorsichtige Leute haben an ihren Flaschen aber festgehalten und konnten dann von einem besonderen Angebot Gebrauch machen: wer den Markenessig Surol kaufen wollte, musste seine Flasche(n) mitbringen, wenn sie bzw. er denn wusste, wo der Essig aufgefahren wurde – die Anzeige verriet den Anbieter und den genauen Ort jedenfalls nicht, wenn man auch den Bergedorfer Markt vermuten darf.

Bergedorfer Zeitung, 27. August 1918

Ob wirklich Surol in die Flaschen gefüllt wurde? Das war nicht völlig sicher, und vielleicht deshalb verkaufte August Gerhus die Produkte des königlichen Hoflieferanten Kühne in Originalflaschen und ließ sich dabei die Flaschen extra bezahlen.

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