Es war vieles neu bei dieser Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919: weit mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten waren Erstwähler, denn erstmals durften nach dem neuen Reichswahlgesetz vom 30. November 1918 Frauen wählen, die die Mehrheit der stimmberechtigten Bevölkerung stellten. Außerdem war das Mindestalter von 25 auf 20 Jahre herabgesetzt worden und im Gegensatz zum Reichstagswahlrecht 1869 – 1912 (§ 3) waren z.B. Empfänger von Armenunterstützung nicht ausgeschlossen, auch Soldaten durften nun wählen, ebenso in Deutschland wohnhafte Deutsch-Österreicher (Bekanntmachung des Wahlamts Hamburg, BZ vom 15. Januar 1919). Vermutlich werden also nicht nur Frauen diese Anzeige aufmerksam gelesen haben.
Für heutige Wähler überraschend: der Stimmzettel war mitzubringen – jede Partei hatte im Vorfeld der Wahl Stimmzettel verteilt und gab sie für Vergessliche auch vor dem Wahllokal aus (wofür viele Helferinnen und Helfer benötigt wurden, siehe die DVP-Anzeige unten). Ein Schreibstift war dagegen nicht erforderlich, denn der Stimmzettel wurde unverändert in den Wahlumschlag gesteckt und dann abgegeben – Streichungen hätten die Stimme ungültig gemacht.
Im Kaiserreich hatte nur ein einziger Name auf diesem Stimmzettel gestanden, denn in jedem Wahlkreis war nur ein Abgeordneter zu wählen (mit absoluter Mehrheit der Stimmen – wurde diese nicht erreicht, fand eine Stichwahl statt). 1919 gab es weniger Wahlkreise, aber in jedem der Wahlkreise wurden entsprechend der Einwohnerzahl mehrere Abgeordnete gewählt, und zwar nach dem Prinzip der gebundenen Parteilisten. Die Sitze wurden entsprechend den Stimmenanteilen auf die Parteien verteilt (Verhältniswahlsystem): wenn z.B. eine Partei Anspruch auf zwei Sitze hatte, waren die ersten zwei auf der Liste gewählt.
Update 15.01.2019: Auf einen Tweet der Stabi erhielt ich als Antwort den Hinweis, dass nach der Wahlordnung zur Nationalversammlung (§ 42) Streichungen durchaus zulässig waren und der „Wahlwerbeausschuss“ in diesem Punkt also danebenlag. Praktische Folgen hatte eine Streichung aber nicht, da ausschließlich die Gesamtzahl der Stimmen für jeden Wahlvorschlag erfasst wurde, weshalb eine geringere Stimmenzahl für einen einzelnen oder mehrere Kandidaten die Listenreihenfolge nicht veränderte. Formal wäre noch ein weiterer Fehler des „Wahlwerbeausschusses“ anzumerken: eine Stimme war auch dann gültig, wenn sich mehrere gleichlautende Stimmzettel in einen Umschlag befanden – das brachte aber nichts, weil dies (natürlich) nur als eine Stimme gewertet wurde.
Hamburg bildete übrigens zusammen mit Bremen und dem Regierungsbezirk Stade den Wahlkreis 37, in dem 12 Sitze zu vergeben waren.
Wenn damit die Frage „Wie wähle ich?“ beantwortet ist, so bleibt die weitere und genau so wichtige Frage „Was wähle ich?“ – In zahllosen Veranstaltungen in den Wochen vor der Wahl hatten die Parteien Werbung für ihre Kandidaten (und ihr Programm) betrieben, die wohl alle in der Bergedorfer Zeitung angekündigt wurden, was den Anzeigen-Verantwortlichen der BZ Richard Wagner sehr gefreut haben dürfte. Über die Versammlungen wurde in aller Regel so ausführlich berichtet, dass selbst eine Auswahl der Berichte, die ja ausgewogen sein müsste, den Rahmen des Blogs sprengen würde.
Dieser Anzeigenblock gibt einen Eindruck des Wahlkampfs, zeigt aber auch, dass nicht alle Veranstalter an Wahlen dachten.
Aus dem am 21. Januar erscheinenden folgenden Beitrag ist dann zu erfahren, wie in der Landherrenschaft Bergedorf gewählt wurde.