Kontrovers ging es nicht zu bei der Hauptversammlung des „Liberalen Vereins“ Bergedorf – dennoch ist der Bericht interessant, weil es auch um politische Reformen ging.
Solange sich Fortschritt in engen Grenzen hielt, waren die Liberalen dafür, siehe den Beitrag Das Wahlrechtsreförmchen in Bergedorf: gemeinsam mit Bürgermeister Walli hatte man das Bergedorfer Zensuswahlrecht leicht abgemildert, was auch als ein Kooperationssignal an die Sozialdemokraten vor Ort zu verstehen war, ebenso wenige Monate vorher die Wahl zweier Ratmänner, nämlich eines Liberalen und eines SPD-Vertreters, siehe den Beitrag Neue Ratmänner und Wahlen zur Bürgervertretung. Die eigentlich schon für den Januar 1917 geplanten Wahlen zur Bürgervertretung waren abgesagt worden, da man sich nicht über die Sitzvergabe hatte einigen können – Kampfwahlen sollten vermieden werden.
Sogar über die Ortsgrenzen hinaus befürworteten Bergedorfs Liberale eine „gemeinsame Arbeit der fortschrittlich gesinnten Parteien, von den Sozialdemokraten bis in die Reihen des Zentrums“: man zählte sich zur „Fortschrittspartei“ (eigentlich Fortschrittliche Volkspartei) und zu den Hamburger Vereinigten Liberalen und forderte „den freiheitlichen Aufbau“ des Staates Hamburg: zwar war das damals geltende Wahlrecht für die Hamburger Bürgerschaft anders als das preußische Dreiklassenwahlrecht, jedoch waren die Wirkungen durchaus vergleichbar, wie bei Hans Wilhelm Eckardt (S. 53ff.) nachzulesen ist – und in seiner Osterbotschaft hatte Kaiser Wilhelm II. die Abschaffung der Klassenwahl zum preußischen Abgeordnetenhaus und eine Reform des Herrenhauses für die Zeit nach dem Krieg angekündigt, was auch die Rufe nach Veränderungen in Hamburg verstärkte.
Die Forderung nach drei Bürgerschaftssitzen für Bergedorf erscheint zunächst plausibel: die Bürgerschaft hatte 160 Abgeordnete – 1916 hatte Hamburg 874.776 Einwohner, also entfiel rechnerisch auf knapp 5.500 Einwohner ein Bürgerschaftsmandat, und Bergedorf hatte knapp 15.643 Einwohner (nicht 17.000, wie es im Artikel heißt; siehe Statistik des hamburgischen Staates, Band 28 (1919), S. 79 – 81). Die Rechnung lässt allerdings unberücksichtigt, dass die Hälfte der Abgeordneten von privilegierten Wählern bestimmt wurde, nämlich den Grundeigentümern und „Notablen“ (siehe Eckardt, ebd.).
Übrigens ging die Forderung der Bergedorfer Liberalen nach mehr Sitzen tatsächlich in die Beratungen der Bürgerschaft über eine Wahlrechtsreform ein: der Abgeordnete (und spätere Bürgermeister) Carl Wilhelm Petersen legte sie als Eingabe vor, doch fand sie keine Berücksichtigung: das im Juli 1917 geänderte Wahlgesetz hatte als einzigen Inhalt die Beseitigung des 1906 eingeführten Zweiklassenwahlrechts, also die Rücknahme des „Wahlrechtsraubs“ (siehe Stenographischer Bericht über die Sitzungen der Bürgerschaft zu Hamburg im Jahre 1917. Zur Entwicklung des Wahlrechts bis 1918/19 siehe die Aufsätze von Jörg Berlin und Volker Ullrich) – als Fortschritt wird man das kaum bezeichnen können, und das taten die Liberalen auch nicht.