Der Weltkrieg, Bergedorf und die Gabelsberger Kurzschrift

Bergedorfer Zeitung, 11. Juni 1918

„Auch der Weltkrieg hat für uns Gutes“ – so die sehr interpretationsbedürftige Themenstellung einer Rede, die anlässlich der Hundertjahrfeier der Gabelsbergerschen Stenographie gehalten wurde: wen meinte der Redner Fr(anz) Hoppe aus Bergedorf z.B. mit dem Wort „uns“, die Deutschen insgesamt oder nur die Gabelsbergerschen Stenografen? Und worin lag das Gute dieses Krieges? Diese Fragen müssen offenbleiben, da die BZ keine Redeinhalte wiedergab.

Die nach ihrem Erfinder Franz Xaver Gabelsberger benannte Kurzschrift war damals das in Deutschland am weitesten verbreitete Stenografie-System, das von Millionen beherrscht wurde – und im Bereich des Nordischen Verbands Gabelsbergerscher Stenographen war Bergedorf offenbar eine Hochburg: mit dem Gerichts-Assistenten Hoppe (siehe Bergedorfer Adressbuch 1915) stellte man den Verbandsvorsitzenden, und bei den Jubiläumswettbewerben errangen die Bergedorfer sechs der 17 ersten Preise, nur drei gingen nach Hamburg (und einer nach Sande).

Bergedorfer Zeitung, 4. September 1918

Wie viele Bergedorfer Vereinsmitglieder waren, ist unbekannt – aber 1917 hatte es 25 Beitritte gegeben (BZ vom 12. Januar 1918), wahrscheinlich wegen des Kursangebots (und vielleicht spielte Hoppe mit seinem Thema hierauf an). Die Teilnehmer an den Kursen (und vielleicht auch die Mitglieder) werden 1918 fast ausschließlich Frauen gewesen sein, die immer stärker in Büroberufe hineindrängten (und billigere Arbeitskräfte waren als Männer): wiederholt suchten Firmen Kontoristinnen (mit Schreibmaschine und Stenografie) oder auch Stenotypistinnen – nur einmal gab es eine geschlechtsneutrale Anzeige des Amtsgerichts Bergedorf, und eine Stellenanzeige explizit für einen männlichen Kontoristen gab es ebenfalls nur einmal (BZ vom 16. September 1918).

Bergedorfer Zeitung, 19. September 1918

Die Bergedorfer Gabelsberger waren aber nicht die einzigen Kursanbieter: häufig erschien die nebenstehende Anzeige, aus der man nichts über das System erfuhr, das gelehrt wurde – viermal gab es Anzeigen von jungen Mädchen, die die Stenografie von Stolze-Schrey erlernen wollten (BZ vom 12. März, 31. Oktober, 2. November und 12. Dezember 1918).

Es gab also einen Wettbewerb der Systeme, der bis 1924, dem Jahr der amtlichen Einführung der Deutschen Einheitskurzschrift andauerte. Der „Stenographen-Zentralverein Gabelsberger e.V.“ mit Sitz in München existiert auch heute noch, während die Bergedorfer Ortsgruppe wohl eingegangen ist. Historiker müssen hoffen, dass die Kenntnis der alten Kurzschriften überlebt, um in diesen verfasste Quellen weiterhin erschließen zu können.

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Pantoffeln, Tennisschuhe oder Ballschuhe für alle!

Bergedorfer Zeitung, 11. Juni 1918

Angesichts des schon mehrfach beschriebenen Mangels an Schuhzeug wird jede Leserin und jeder Leser der BZ die Titelzeile des Artikels und den ersten Satz mit großer Freude gelesen haben: ohne Bedarfsprüfung sollte man einen Sonderschuhbedarfsschein erhalten können!

Beim Lesen des zweiten Satzes wird Ernüchterung eingekehrt sein, denn Straßenschuhe oder -stiefel waren in dieser Aktion nicht enthalten. Man musste sich zudem entscheiden, was man dringender brauchte: Pantoffeln bzw. Hausschuhe, um zumindest in der eigenen Wohnung keine allzu kalten Füße zu bekommen, oder Sport- bzw. Leinenschuhe, die man jedenfalls bei gutem Wetter für draußen nehmen konnte, oder eben edle „Ball- oder Gesellschaftsschuhe“, die bestimmt nicht für die Straße taugten und wegen des geltenden Tanzverbots nicht zweckentsprechend eingesetzt werden konnten? Man möge selbst abwägen, wofür man sich entschieden hätte.

Einen großen Vorteil dürfte all dieses Schuhwerk gehabt haben: da es schon 1916 oder früher produziert worden war, war die Sohle vielleicht aus echtem Leder – eine fußfreundliche Alternative zu den Holzschuhen, die es in zwei behördlich definierten Modellen gab: die „preußische Form“ war niedrig, „holländisch“ bezeichnete die hohe Form. Für Männerschuhe der hohen Form galt ein Höchstpreis von 6,80 Mark, ggf. mit Zuschlag für Buchenholz von 0,55 Mark (BZ vom 6. Mai und 19. Juni1918). Eine Chance auf richtige Lederschuhe hatten nur Personen, „denen die Benutzung von Kriegsschuhwerk die Ausübung des Berufes unmöglich machen oder Leben und Gesundheit gefährden würde.“ (BZ vom 4. Mai 1918) – und offenbar auch die Träger von Maßschuhen, die am Ende des Artikels oben erwähnt wurden.

Eine Innovation, über die die BZ am 5. Juli 1918 berichtete, konnte sich langfristig nicht durchsetzen: eine Dortmunder Genossenschaft hatte „Schuhwerk aus Blech“ zum Patent angemeldet. Bequem werden die auch nicht gewesen sein.

 

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Straßenreinigung und wilde Müllkippen

Bergedorfer Zeitung, 1. Juni 1918

Bergedorfer Zeitung, 1. Juni 1918

Die kriegszeitliche Verwilderung der Sitten hatte offenbar nicht nur die Jugend erfasst (siehe den Beitrag Züchtigung per Leserbrief), sondern große Teile der Bevölkerung: aus Bergedorf, Sande und Geesthacht kamen sehr ähnliche Klagen über mangelnde Straßenreinigung und wilde Müllkippen, wie aus den hier wiedergegebenen Artikeln und Bekanntmachungen zu entnehmen ist.

Bergedorfer Zeitung, 17. Juni 1918

Bergedorfer Zeitung, 27. August 1918

Interessant ist dabei, wie sehr sich die Bekanntmachungen im Tonfall unterschieden: zwei Gemeinden setzten auf „verschärfte Kontrolle“ (Sande) und „unnachsichtliche“ (sic!)Bestrafung (Bergedorf), während Geesthacht auf den „oft bewährten Gemeinsinn der Bevölkerung“ vertraute und seinen Appell entschuldigend mit den „Kriegsverhältnissen“ begründete, die der Gemeinde die wohl vorher übliche „planmäßige Reinigung der Straßen unseres Ortes“ unmöglich machten. Auch Bergedorf hatte offenbar eine kommunale Straßenreinigung, wie sich aus § 5 der  Straßen-Polizei-Ordnung für die Stadt Bergedorf schließen lässt, aber vielleicht funktionierte die jetzt genauso wenig, denn Unrat und Kehricht wurden in Gräben und in der Landschaft verteilt, wie es in dem obigen Bericht heißt. In Sande waren es die Anlieger, die die Straße sauberhalten mussten.

In welchem Ausmaß die unterschiedlichen Bekanntmachungen Erfolg hatten, ist nicht überliefert. Die Tradition der vorschriftswidrigen Abfallentsorgung hat sich jedenfalls in allen genannten Orten bis heute erhalten.

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Die „freiwillige“ Anzugabgabe

Bergedorfer Zeitung, 2. Juni 1918

Drei Millionen Männeranzüge fehlten nach offiziellen Angaben im Deutschen Reich – zwar hatte die Kriegsrohstoffabteilung Stoffe für 1,35 Millionen Anzüge „in Aussicht gestellt“, das Kriegsministerium 500.000 getragene Uniformen, aber die fehlende Million sollte die Bevölkerung aufbringen, natürlich freiwillig. Benötigt wurden sie für Arbeiter der Rüstungsindustrie, der Landwirtschaft, der Eisenbahnen und des Bergbaus (BZ vom 13. April 1918), und nun sollten „Anzüge für unsere Heimarmee“ auch in Bergedorf und Umgegend gesammelt werden. Die Anzeige richtete sich „an die wohlhabenden Bewohner“, die alte Anzüge entbehren konnten – der Erfolg war offenbar nur mäßig, denn in den folgenden Wochen gab es mehrfach Meldungen und Bekanntmachungen, die im Ton zunehmend schärfer wurden und bei Nichtablieferung sogar Zwangsmaßnahmen androhten (siehe z.B. BZ vom 13. Juni; soviel zur Freiwilligkeit). Die Behörden wiesen ergänzend darauf hin,  dass die Aktion nicht nur „den gutbezahlten Rüstungsarbeitern“, sondern Arbeitern in allen kriegswichtigen Bereichen zugutekommen sollte und dass es keine Benachteiligung der Landarbeiter geben würde (BZ vom 20. Juli und 3. August) – offenbar waren entsprechende Gerüchte im Umlauf.

Bergedorfer Zeitung, 12. August 1918

Anzüge brauchten aber nicht nur Arbeiter, sondern auch Angestellte: der „Bund der Festbesoldeten“ forderte deshalb eine Befreiung von der Ablieferung, wenn das Einkommen unter 6.000 M im Jahr lag (BZ vom 2. August). Ferner litt auch die Jugendkompagnie Bergedorf unter Mangel an uniformähnlicher Kleidung – ihr Führer Georg Raven rief dazu auf, abgelegte Jungmannen-Kleidung zur Verfügung zu stellen (BZ vom 12. August). (Ansonsten war 1918 von der Jugendwehr nur wenig in der BZ zu lesen: sie war vor allem im Ernteeinsatz tätig, worauf in einem späteren Beitrag eingegangen wird.)

Bergedorfer Zeitung, 31. Juli 1917

Die reichsweite Aktion wurde schließlich verlängert (BZ vom 15. Juli), doch zwei Wochen vor dem Schlusstermin 15. August lagen die Landherrenschaften Bergedorf, der Geest- und der Marschlande weit unter dem Soll von 1030 Anzügen – nur 489 Anzüge waren eingeliefert worden (BZ vom 31. Juli). Eine Endabrechnung brachte die BZ leider nicht und auch über Beschlagnahmen oder Enteignungen war nichts zu erfahren. Man kann aber davon ausgehen, dass der Bedarf bei weitem nicht gedeckt wurde: im Oktober erfuhren die Leser, dass die Kommunalverbände ein Drittel der gesammelten Anzüge „für bedürftige entlassene Krieger“ hatten zurückstellen müssen (BZ vom 22. Oktober); als dann nach Kriegsende in größerem Ausmaß Soldaten entlassen wurden, hieß es, dass ihnen „unentgeltlich ein Entlassungsanzug (soweit der Vorrat reicht), sonst Uniform“ gestellt würde (BZ vom 16. November 1918), und bei diesen Kleidungsstücken handelte es sich eben nur zum Teil um Neuware (BZ vom 29. November 1918). Mancher wird also einen „instandgesetzten, aber noch brauchbaren Anzug“, eventuell ergänzt mit „ausgesonderten Uniformstücken“ als Friedensbekleidung empfangen haben.

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Die rätselhafte Spanische Krankheit

Bergedorfer Zeitung, 28. Mai 1918

Zugegeben: der Bergedorf-Bezug dieser Meldung liegt nicht auf der Hand, aber die „unerklärliche Krankheit“, die in Spanien große Teile der Bevölkerung erfasst hatte, erreichte auch Bergedorf. Wann genau sie hier zuerst auftrat, ist nicht bekannt, denn nach Verschärfung der Zensurbestimmungen war es den Zeitungen verboten, lokale Gesundheitszahlen zu veröffentlichen (siehe Marc Hieronimus (S. 73)), und zudem gab es den „Komment“, dass die Zeitungen nichts publizierten, was die Öffentlichkeit beunruhigen könnte (siehe Eckard Michels (S. 12)). Eine rätselhafte Krankheit im fernen Spanien war in der Hinsicht kein Problem.

Bergedorfer Zeitung, 3. Juli 1918

Dabei gab es Anlass genug, sich Sorgen zu machen: die Krankheit, die bald als hochansteckende Influenza, also Grippe, identifiziert wurde, breitete sich schnell in Europa aus. Sie war zuerst Anfang März in einem Ausbildungslager der US Army in Kansas ausgebrochen und über Truppentransporte nach Frankreich gelangt, um Anfang Mai die deutschen Truppen dort und wenig später Deutschland zu erreichen (Michels, S. 5ff.). Dann ließen sich Zeitungsmeldungen nicht mehr unterdrücken: in Hamburg waren offenbar vor allem die „Fräuleins vom Amt“ in den Fernsprechvermittlungen betroffen, aber schon zwei Tage danach hieß es, dass „die auch in Hamburg jetzt massenhaft auftretende Grippe die Krankenhäuser überfüllt“ habe (BZ vom 5. Juli).

Bergedorfer Zeitung, 6. Juli 1918

Kurz darauf berichtete die Bergedorfer Zeitung, dass auch in Bergedorf und Umgebung Fälle registriert worden seien – die Angaben zur Verbreitung („vereinzelt“) und Schwere („leichte Form“) dürften im Sinne des oben genannten „Komments“ geschönt gewesen sein, wenn man dem Medizinhistoriker Wilfried Witte (S. 11) folgt: „Überall, wo die Grippe ankam, blieb sie eine Woche virulent, verursachte meist plötzliche und heftige Krankheitssymptome, um dann wieder zu verziehen. …. In fünf Monaten hatte die Grippe die Erde umrundet.“ Sie machte sich aber bald auf eine zweite und sehr viel tödlichere Tour, siehe den Beitrag Die Rückkehr der Grippe.

UPDATE Oktober 2021:
Bis September 1922 ist im Medizinhistorischen Museum Hamburg die Ausstellung „Pandemie. Rückblicke in die Gegenwart“ zu sehen, die mit Pest und Cholera sowie der „Spanischen Grippe“ historische Pandemien ebenso thematisiert wie die aktuelle Corona-Pandemie, jeweils mit besonderem Fokus auf Hamburg.

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Die Badesaison eröffnet

Die Bergedorfer Zeitung meldete in diesen Mai-Tagen durchgehend warmes Wetter – da war die Saisoneröffnung der (städtischen) Bergedorfer Badeanstalt am 15. Mai zur rechten Zeit gekommen. Die am anderen Billeufer etwas stromauf gelegene (von dem Fleischbeschauer Johannes Sievers privat betriebene) Sander Badeanstalt nahm erst gut eine Woche später ihren Betrieb auf:

Bergedorfer Zeitung, 18. Mai 1918

Bergedorfer Zeitung, 22. Mai 1918

In beiden Einrichtungen galt Geschlechtertrennung mit getrennten Badezeiten, wobei in Sande die Erwachsenen zwei Stunden mehr zur Verfügung hatten als Knaben und Mädchen. Dafür herrschte in Sande Badezeitgleichheit der Geschlechter – in Bergedorf hatte die männliche Bevölkerung wochentags zwei Stunden mehr zur Verfügung als die weibliche (1915 waren es noch drei Stunden Unterschied gewesen, siehe den Beitrag Bergedorfs Bille-Bad).

 

In Bergedorf wurde auch für Schwimmkurse geworben – Schulschwimmen gab es damals noch nicht, und der Nichtschwimmeranteil dürfte in jener Zeit deutlich höher gewesen sein; daher waren Badeunglücke keine Seltenheit: allein in dieser Woche berichtete die Bergedorfer Zeitung über zwei Sander Jugendliche, die in der Bille ertrunken waren, und in der Elbe bei Geesthacht gab es sogar vier Ertrunkene. Der Betreiber des Sander Flussbades wies zwar in seiner Anzeige darauf hin, dass jeder auf eigenes Risiko bade, aber in einem von der BZ genannten Fall konnte er einen Ertrinkenden retten (BZ vom 22., 23. und 24. Mai 1918).

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Delikatessen 1918

Es gab sie also doch: Delikatessen, nicht rationiert, und in Geesthacht wurde sogar eine Verkäuferin für Kolonialwaren und Delikatessen gesucht:

Leider weiß man nichts über das Gewicht der Gänseleber-Pasteten, die August Gerhus zu stolzen Preisen anbot, ebensowenig über das seines Krebs- oder Krabben-Extrakts, und auch die Zusammensetzung der Doseninhalte ist ungeklärt – mancher wird da überlegt haben, ob er nicht lieber frischen Spargel kauft (Höchstpreis für die beste Sorte: 1,35 M/Pfd im Kleinhandel, BZ vom 17. Mai 1918) und mit Kartoffeln, Schinken und zerlassener Butter bzw. Sauce Hollandaise ein qualitativ gutes Mahl auf den Tisch bringt.

Spargel und Gerhus‘ Angebote unterlagen keiner Rationierung, aber die Spargelfreunde mussten auch auf ihre sonstigen Lebensmittelrationen schauen: aktuell gab es in der Stadt Bergedorf pro Woche für den Normalverbraucher 30 g Butter, 40 g Margarine und sieben Pfund Kartoffeln – da musste man auf butterhaltige Zutaten verzichten. Ob es auf Fleischkarte überhaupt Schinken gab, kann bezweifelt werden, wobei die im gesamten Gebiet der Landherrenschaften gleich bemessene Fleischration sowieso sehr schmal war: mit 150 g (mit Knochen) bzw. 120 g (ohne Knochen) bzw. 300 g „Frischwurst, Eingeweide usw.“ musste jeder eine Woche lang auskommen.  Komplettiert wurde die Versorgung dann durch 1950 g Brot und 200 g Zucker sowie 500 g Marmelade, zudem in Bergedorf 80 g Grieß (BZ vom 18. Mai 1918). Möglicherweise gab es noch Steckrüben oder Sauerkohl, wenn man denn eingelegt hatte, aber an Frühgemüse standen außer Spargel nur Rhabarber und Spinat zur Verfügung – die Ernährungslage war weiterhin trostlos und nicht wesentlich anders als z.B. im Frühjahr 1916 (siehe den Beitrag Kein Radrennen) und im Steckrübenwinter 1916/17.

 

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Maikäfer und Nachtigallen

Bergedorfer Zeitung, 18. Mai 1918

Der Appell „Sammelt Maikäfer!“ war nicht einfach Ausfluss der nahezu allumfassenden Sammelwut, er sollte einen doppelten Zweck verfolgen: Schädlingsbekämpfung und Futtermittelgewinnung.

Vielleicht drohte 1918 ein Maikäferjahr zu werden, d.h. ein Jahr, in dem die Blätter fressenden Tierchen in Massen auftreten, und man wollte sichergehen, dass die Baumfrüchte nicht in ihrem Wachstum durch Blättermangel des Baumes beeinträchtigt werden. Die Sorge um die Blätter, die ja auch als Tabakersatz dienten, und die Bäume hatte aber nicht nur mit den Ernteaussichten zu tun – Laub war auch aus anderen Gründen begehrt, worauf in einem späteren Beitrag eingegangen wird.

Die gefangenen Maikäfer sollten dann einer sinnvollen Nutzung zugeführt werden: als Hühnerfutter (roh) oder als Schweinefutter (geröstet). Überraschenderweise fehlte in der BZ der Hinweis, dass man aus ca. 30 Maikäfern bereits eine Suppe herstellen kann. Man kann sie auch rösten und kandieren und als Süßspeise verzehren, was man in Teilen Deutschlands damals auch tat, wie beim Bundeszentrum für Ernährung (dort auch weitere Links) nachzulesen ist.

Bergedorfer Zeitung, 15. Mai 1918

Die Nachtigall hingegen sollte nicht im Topf landen, sondern singen, was sie ja in jenen Tagen endlich auch wieder (sogar im Villenviertel) tat. Die sarkastischen Spekulationen des Redakteurs über das längere Ausbleiben der Töne – Lebensmittelrationierung oder die Überzahl patriotischer Gesänge – werden bestimmt nicht allen Zeitungslesern gefallen haben.

Die Nachtigall stand wie andere Singvögel (mit Ausnahme des Sperlings) unter der Protektion des Vogelschutzgesetzes von 1908, weil „die gefiederten Sänger … im Kampf gegen allerlei Schädlinge“ halfen und sicher auch Maikäfer fraßen (ungeröstet).

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Die Lebensbedingungen der Kriegsgefangenen in der hiesigen Landwirtschaft

Bergedorfer Zeitung, 13. Mai 1918

Natürlich durften Kriegsgefangene sich nicht frei bewegen: sie waren ja Gefangene, aber die in der Landwirtschaft beschäftigten Gefangenen wurden nicht rund um die Uhr von den „Wachtkommandos“ beaufsichtigt, denn abends sollte der Arbeitgeber (bzw. die Arbeitgeberin) dafür sorgen, dass sie „durch eine zuverlässige Person zur Unterkunftsstelle gebracht“ wurden. Wo die Kriegsgefangenen untergebracht waren, war der BZ meist anlassbezogen zu entnehmen: in Curslack gab es eine wohl eigens für sie errichtete Baracke (in die eingebrochen wurde, BZ vom 15. März 1917), auf dem Ost-Krauel gab es ein Lager (einer der Gefangenen ertrank beim Baden in der Elbe, BZ vom 19. Juni 1917), ebenso in Kirchwärder. In Kirchwärder gab es mindestens zwei Lager in Gastwirtschaften: bei Timmann in Seefeld (von wo drei russische Kriegsgefangene entwichen, BZ vom 5. Oktober 1916 und 14. Juni 1917) und bei Reimers auf dem Hitscherberg (BZ vom 4. Februar 1916), für Ochsenwärder wurden sogar acht Lager genannt (BZ vom 5. Februar 1916). Über die Unterkunftsbedingungen war nichts zu erfahren.

Für die Kriegsgefangenen gab es geregelte Arbeitszeiten – auf wessen Betreiben die Landherrenschaften diese festsetzten, bleibt offen. Man darf vermuten, dass die Wachtkommandos an dieser Regelung ein besonderes Interesse hatten: so konnten sie abends leichter feststellen, ob jemand fehlte.

Da die Länge der Frühstücks- und Vesperpause nicht genannt wurde, kann man die Netto-Arbeitszeit nur schätzen: es dürften etwa zehneinhalb bis elf Stunden gewesen sein, mit maximal einer Überstunde pro Tag. Der Sonntagvormittag war nicht frei – wenn „unaufschiebbare Arbeiten“ und die „üblichen leichten Verrichtungen“ erledigt werden mussten, konnte die Wochenarbeitszeit 70 Stunden ohne weiteres erreichen, wenn nicht überschreiten. Damit lag sie deutlich über dem im produzierenden Gewerbe üblichen 10-Stunden-Tag, dürfte aber den in der Landwirtschaft gewöhnlichen Zeiten entsprochen haben.

Bergedorfer Zeitung, 6. April 1918

Im April 1918 druckte die Bergedorfer Zeitung eine Bekanntmachung „betreffend die Abgabe von Lebensmitteln für Kriegsgefangene“: wenn man den Ersatzkaffee mitrechnet, belief sich die Ration auf 9.665 Gramm – für zwei Monate! Es ist zu vermuten, dass zu diesen 160 Gramm Lebensmitteln pro Tag noch Kartoffeln und weiteres Gemüse aus dem Selbsterzeuger-Betrieb des landwirtschaftlichen Arbeitgebers hinzukamen, eventuell auch Brot, Brotaufstrich und Fleisch, doch sicher ist das nicht. Die Zivilbevölkerung erhielt in jenen Tagen 1.950 Gramm Brot oder 1.365 Gramm Mehl, 3.500 Gramm Kartoffeln, 200 Gramm Fleisch, 200 Gramm Zucker, 250 Gramm Marmelade o.ä., 60 – 70 Gramm Butter und/oder Margarine und 60 Gramm Grieß, Nudeln o.ä. mit Extra-Zuteilungen für Schwerarbeiter – für eine Woche (BZ vom 6. April 1918), alles weitere richtete sich nach dem Einkommen.

Der Normalzustand war Hunger, wenn auch in unterschiedlichem Maße.

Anmerkung:
In der aktuellen Ausgabe (Band 103/2017) der Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte befasst sich Sebastian Merkel in seinem Aufsatz „Kriegsgefangen auf Hahnöfersand. Ein Hamburger Arbeitslager und -kommando während des Ersten Weltkrieges“ u.a. mit den selben Fragen wie dieser Beitrag und kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Merkel bezeichnet den regionalgeschichtlichen Kenntnisstand zum Thema als unzulänglich: „In der hiesigen Stadtgeschichtsschreibung treten sie [die Kriegsgefangenen] nahezu nicht in Erscheinung.“ (S. 88).

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Schwieriger Paketversand – Die „Hilfe für deutsche Kriegsgefangene“

Bergedorfer Zeitung, 14. Mai 1918

Den deutschen Kriegsgefangenen in anderen Ländern dürfte es ähnlich ergangen sein wie denen, die in Deutschland in Gefangenschaft waren (zu letzteren siehe den Beitrag Die Lebensbedingungen der Kriegsgefangenen in der hiesigen Landwirtschaft), und über die deutschen war aus der Bergedorfer Zeitung fast ausschließlich dann etwas zu erfahren, wenn die „Hilfe für deutsche Kriegsgefangene, Ortsausschuß Bergedorf“ ein Inserat platzierte oder eine Meldung lancierte.

Bergedorfer Zeitung, 16. Februar 1918

Neben Spendenappellen fanden sich in der BZ Annoncen der Bergedorfer Hilfe für deutsche Kriegsgefangene, in denen meist die Vermittlung von Paketen angeboten wurde, d.h. ein Besteller zahlte den erforderlichen Betrag, der an eine nicht genannte Stelle überwiesen wurde, die dann für den Inhalt und den Versand über ein neutrales Land sorgte – ein Verfahren, das sich in Bergedorf ein Schwindler zunutze machte, der sich mit dem von ihm eingesammelten Geld absentierte (BZ vom 17. Juli 1918).

Der Versand war aber offenbar schwierig, die Bedingungen änderten sich laufend: wenige Tage nach dem Angebot auf Paketvermittlung nach Russland meldete die BZ, dass „mit Rücksicht auf die Zustände in Rußland“ keine Geldüberweisungen dorthin möglich seien und generell die Post vollständig unterbrochen sei (BZ vom 20. Februar 1918) – erst Monate später konnten wieder (offene) Briefe und Postkarten sowie Pakete geschickt werden (BZ vom 11. und 22. Juni 1918). Auch nach England und Frankreich gab es Unterbrechungen des Versands der Einheitspakete mit Lebensmitteln und Rauchwaren (BZ vom 25. März 1918), nach England konnten zeitweise nur Zigarren und Zigaretten, aber keine Lebensmittel, nach Frankreich nur Lebensmittel, geschickt werden, wie die Anzeige vom 14. Mai belegt.

Bergedorfer Zeitung, 28. Juni 1918

Die Nachfrage nach den Diensten der Bergedorfer Hilfsorganisation war so groß, dass die Arbeit nicht mehr nur ehrenamtlich geleistet werden konnte: per Anzeige suchte der Vorsitzende des Ortsausschusses, Hermann Berndt, eine qualifizierte Teilzeitkraft für die anfallenden Schreibarbeiten.

Zu tun gab es sicher genug, obwohl man nicht weiß, wie viele Pakete vermittelt wurden – der Ortsausschuss versorgte selbst mittellose Gefangene, die keine Angehörigen hatten bzw. deren Familien solche Pakete nicht bezahlen konnten. Das Geld dafür hatte er aus Spenden, über deren Herkunft regelmäßig in „Gabenverzeichnissen“ Rechenschaft abgelegt wurde: im ersten Quartal 1918 kamen 3.986,13 Mark zusammen (damit insgesamt seit 1916: 25.568,63 Mark), u.a. aus den öffentlichen Kassen Bergedorfs, Geesthachts und Sandes sowie mehrerer Gemeinden aus der Landherrenschaft, aber auch von zahlreichen Kleinspendern (BZ vom 4. Mai 1918). Der ansehnlich erscheinende Betrag relativiert sich, wenn man die einzig verfügbare Angabe zum Preis eines Pakets heranzieht: laut Inserat sollten „Weihnachtspakete mit Eß- und Rauchwaren für deutsche Gefangene in England“ 20 Mark pro Paket kosten (BZ vom 3. Oktober 1918).

Auch Kriegsgefangene in Deutschland wurden mit Gaben aus der Heimat bedacht, wie bereits dem Beitrag Die Saatkartoffeln und die Sabotage zu entnehmen war.

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