Jugend 1918: Züchtigung per Leserbrief

Bergedorfer Zeitung, 4. Mai 1918

Wie kann man „Pöbel in Glacéhandschuhen“ züchtigen? Mit einem Leserbrief? Das versuchte jedenfalls „Kn.“, weil er und seine Mitreisenden in der Bahn sich von einer Gruppe Jugendlicher belästigt fühlten: die waren erst zu laut und zeigten sich dann so ungeschliffen und rüpelhaft, dass man zunächst vermutete, es wären Pulverarbeiterinnen und -arbeiter (!), was aber offenbar durch die Kleidung der jungen Leute widerlegt wurde.

Der Leserbriefschreiber nannte dies einen „ganz seltenen Einzelfall“, doch andererseits hätte er „in der Bahn unglaublich viele Rücksichtslosigkeiten und Ungeniertheiten bei unserer Jugend“ erlebt und Erwachsene, die nicht dagegen vorgingen. Zwar fehle in der jetzigen Zeit oft „die väterliche Aufsicht im Hause“, doch könne man den Krieg allein für den Mangel an Kinderstube nicht verantwortlich machen.

Der Leserbrief scheint nichts bewirkt zu haben, aber vielleicht waren es ja andere Personen aus „dieser Kriegsjugend“, die wenige Wochen später durch ihr Verhalten auffielen: „halbwüchsige Burschen mit ihren ‚Bräuten‘“ trieben mit Gebrüll, Geschrei, Gekreisch und Gelächter bis ein Uhr nachts am Kaiser-Wilhelm-Platz und im Schlosspark ihren Unfug, und dagegen müsse die Polizei vorgehen, meinte der BZ-Redakteur (BZ vom 27. Mai 1918).

Nach Ansicht eines Hamburger Rechtsanwalts, der sich auf ein Urteil aus Jena berief, hätte sogar jedermann Maßnahmen ergreifen können: die Allgemeinheit habe ein Recht auf Zucht und Ordnung und daraus abgeleitet das Recht, Kinder anderer Leute zu züchtigen (BZ vom 25. Juni 1918). Wahrscheinlich dachte er dabei nicht an Leserbriefe.

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