Schulstreik statt Schulfrieden in Sande

BZ, 20. Dezember 1922

Dicke Luft an der Knabenschule – Eltern hatte zu einem Schulstreik aufgerufen, d.h. sie schickten ihre Söhne nicht zur Schule. Es gab andererseits Eltern, „die mit dem Streik nicht sympathisieren“, und der Elternbeirat forderte zum Schulbesuch auf, da der Unterricht am 21. Dezember wieder stattfinden sollte – am 20. Dezember hatte der Hausmeister (einem Beschluss des Schulausschusses der Gemeindevertretung entsprechend) die Öffnung der Schule verweigert, sodass kein Unterricht stattfinden konnte. Für den 21. Dezember verfügte dann aber der Landrat, dass die Schule geöffnet zu sein hätte (BZ vom 29. Dezember 1922). Am 22. Dezember begannen die Weihnachtsferien.

Die hier erkennbare Spaltung beschränkte sich nicht auf die Elternschaft, sie erstreckte sich auch auf das Lehrerkollegium, der Hausmeister war involviert, und natürlich hatte das Ganze eine Vorgeschichte, die durchaus politischer Natur war.

Die der SPD angehörenden Lehrer der Knabenschule und ein Großteil der Eltern wollten den „alten“ Rektor Dau loswerden, mit dem es seit 1919 offenbar ebenso heftig wie häufig Konflikte gab. Dau wiederum stellte gegen Hans Schnack, einen seiner Lehrer, Strafantrag wegen einer falschen Behauptung über eine politische Äußerung Daus, und das Amtsgericht Reinbek verurteilte den Lehrer zu einer Geldstrafe (BZ vom 6. und 8. Juli sowie 25. Oktober 1922).

Im Sommer waren die Elternbeiräte neu gewählt worden, und daraus resultierte der nächste Konflikt: der Wahlvorstand hatte für die Wahl die „bürgerliche“ Liste für die Knabenschule nicht zugelassen – das aber war ein Formfehler, der zur Aufhebung der Wahl führte. Zur somit fälligen neuen Wahl im November unterließ es dann die SPD, eine Kandidatenliste einzureichen – somit war die bürgerliche Liste gewählt, wogegen wieder die SPD protestierte (BZ vom 3. und 25. November sowie 22. Dezember 1922), und es kam zum Streik.

BZ, 29. Dezember 1922

Der Beschluss dazu und zu weiteren Forderungen wurde in Elternversammlungen getroffen, zu denen der abgesetzte Elternrat eingeladen hatte, und über Weihnachten entspannte sich die Lage: Rektor Dau ging nach Schleswig (freiwillig? unfreiwillig?) und Lehrer Schnack wurde nach Altona versetzt, der Streik wurde nach den Ferien nicht fortgeführt (BZ vom 4., 11. und 12. Januar 1923). Ob das genügte, einen Schulfrieden herzustellen oder zumindest einen Waffenstillstand, womöglich nur eine Feuerpause,  ist hier nicht zu klären. Die tieferliegenden Konflikte zwischen den Vertretern der „alten“ und der „neuen“ Ordnung in Sande bestanden jedenfalls fort.

 

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Der Torlattendiebstahl

BZ, 23. Dezember 1922

Zwar endet manches Fußballspiel torlos, also 0:0, aber es darf nicht torlos angepfiffen werden: es müssen zwei Tore von 2,44 m Höhe und 7,32 m Breite vorhanden sein. Und da stand die Bergedorfer Turnerschaft von 1860 vor einem Problem, denn ihre Torlatten auf dem Frascatiplatz waren kurz vor Weihnachten geklaut worden. (Hoffnung auf Wiederbeschaffung des Diebesguts hatten die Sportler offenbar nicht, denn die Belohnung war nur auf die Ermittlung des Diebes ausgesetzt.)

Zwei Spiele waren für den 24. Dezember auf dem Frascatiplatz angesetzt – ob sie durchgeführt werden konnten, war der BZ nicht zu entnehmen. Ein Ausweichen auf einen anderen Platz war unmöglich, denn alle Plätze waren am frühen Heiligabend belegt, wie dem Sportteil der BZ vom selben Tage zu entnehmen war. Da aber für Silvester und Neujahr weitere Spiele auf dem „Fras“ angekündigt wurden (BZ vom 30. Dezember 1922), kann man wohl davon ausgehen, dass spätestens nach Weihnachten Ersatzlatten beschafft worden und montiert waren.

Die Fußballbegeisterung muss jedenfalls groß gewesen sein: nicht nur Heiligabend, sondern auch am Ersten und Zweiten Weihnachtsfeiertag und an Silvester und Neujahr herrschte auf Bergedorfs „Spielplätzen“ reger Betrieb.

 

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Die Kartellpreise der Bergedorfer Gastwirte

BZ, 21. Oktober 1922

BZ, 8. November 1922

Der Verein Bergedorfer Gastwirte hatte nicht, zumindest nicht primär, die Geselligkeit als Vereinszweck, sondern die Festlegung von Mindestpreisen für den Ausschank diverser alkoholischer und alkoholfreier Getränke, damit man sich nicht einem unnötigen Preiswettbewerb aussetzte.

 

 

BZ, 11. November 1922

Wenn also zwei Wirte durchaus respektabler Häuser in einer großen Anzeige erklärten, dass sie dem Verein nicht angehörten, dann kann man vermuten, dass sie günstiger anboten als ihre Kollegen, weil sie eben nicht an die Festlegungen des Vereins gebunden waren – die damaligen Preise von Portici und Bahnhofs-Hotel waren allerdings nicht zu ermitteln.

 

 

BZ, 10. November 1922

Der Wirte-Verein hatte Bergedorf zu einem teuren Pflaster gemacht, wie auch die BZ bemerkte. Die Hamburger Wirte waren um einiges zurückhaltender: sie verlangten 120 Mark für einen Rumgrog, die Bergedorfer um die Hälfte mehr. Die Aufforderung „Erkläret mir, Graf Oerindur …“ war vor hundert Jahren eine durchaus gebräuchliche Floskel, wenn man Aufklärung über einen widersprüchlich erscheinenden Sachverhalt suchte. Die Aufklärung blieb aber aus, die organisierten Wirte Bergedorfs äußerten sich zunächst nicht und setzten ihre Preise auch nicht mehr in die Zeitung.

BZ, 20. Dezember 1922

Im Dezember dann bezeichneten sie die Unterschiede als „einleuchtend“: da die Bierbrauer jetzt einen entfernungsabhängigen Transportkostenzuschlag erhoben, musste man in Bergedorf teurer ausschenken – das erklärt aber nicht, warum der Grog so viel teurer war.

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Braune Kuchen

BZ, 16.12.1922

Braune Kuchen: ein damals nahezu unverzichtbarer Teil der Weihnachtsbäckerei. Nicht nur jeder Bäcker, sondern auch jede backfreudige Hausfrau wird ein Rezept dafür gehabt haben. Die Angaben in der BZ halfen ja auch nicht wirklich weiter, weil für die würzenden Zutaten keine Mengenangaben gemacht wurden, und außerdem hätte die Hausfrau die Mehl-, Sirup- und anderen Angaben ja erst noch auf die für die eigene Familie passenden Mengen herunterrechnen müssen – auch für eine große Familie dürften sieben Pfund braune Kuchen ziemlich viel gewesen sein.

Interessant ist aber der Vergleich des Vorkriegspreises mit dem im Dezember 1922 aktuellen: 3,12 Mark zu etwa 3.000 Mark. Das nennt man eben Inflation.

Direkt unter diesem Artikel zu den braunen Kuchen berichtete die BZ unter der Überschrift „Die Unterernährung des deutschen Volkes“ über eine Ärztetagung in Berlin, woraus hier ein Satz zitiert sei: „Der Mehrzahl der Deutschen seien die notwendigen Nahrungsmittel nur noch in völlig ungenügendem Maße zugänglich.“ Eine Minderheit konnte sich zum Fest bei Erdmann mit Leckereien und Süßigkeiten eindecken.

BZ, 14. Dezember 1922

 

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Die Kriegsgedenktafeln in Sande

BZ, 18. November 1922

Die politische Gemeinde Sande hatte ihre Entscheidung über die Errichtung eines Kriegerehrenmals auf bessere Zeiten vertagt (siehe den Beitrag über die schwierigen Ehrenmale), doch die Kirchengemeinde oder zumindest ihr Vorstand wollte darauf nicht warten und plante die „Beschaffung von Kriegsgedenktafeln“ mit den Namen der Gefallenen, wie sie „in fast allen Gemeinden“ schon vorhanden waren.

Die nötigen Mittel sollten über ein Kirchenkonzert aufgebracht werden – laut Anzeige in derselben Ausgabe der BZ sollte der Eintritt 30 Mark kosten. Dem Bericht zufolge war der große Kirchenbau bis auf den letzten Platz besetzt, und es hieß: „Der finanzielle Ertrag des Abends dürfte ein recht bedeutender sein“, aber es seien weitere Zuwendungen nötig, um die Tafeln, obwohl „ohne jeden Luxus“, herstellen lassen zu können (BZ vom 27. November 1922).

BZ, 2. Dezember 1922

Der Kirchenvorstand war optimistisch und bat um „baldigste“ Aufgabe der Namen der Gefallenen – man wollte also schnell handeln, damit die Einnahmen nicht zum Opfer der Inflation würden, aber wahrscheinlich geschah das doch: im Februar 1923 sollte eine Haussammlung „zwecks Beschaffung von Mitteln für Gedenktafeln in der Kirche für unsere Gefallenen“ durchgeführt werden (Anzeige in der BZ vom 30. Januar 1923). Einen Bericht über den pekuniären Erfolg der Aktion gab es nicht.

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Die Weihnachtsbäume und das perfide Albion

BZ, 6. Dezember 1922

Warum gab es in Bergedorf keine Weihnachtsbäume? Weil die Engländer sich „das ureigenste Symbol des deutschen Weihnachtsfestes“ aneigneten, den für sie günstigen Wechselkurs rücksichtslos ausnutzten und unzähligen deutschen Kindern schiffsladungsweise die Bäume entrissen. (Nebenbei bemerkt: es waren deutschstämmige Mitglieder des britischen Königshauses, die bereits im frühen 19. Jahrhundert den Weihnachtsbaum als Brauch nach Großbritannien „importierten“, wie es in der englischsprachigen Ausgabe von Wikipedia unter Christmas tree heißt.)

BZ, 8. Dezember 1922

Ein weiterer Grund für das Ausbleiben der Weihnachtsbäume dürften die hohen Transportkosten gewesen sein, was die Reichsbahn (sicher nicht ohne Druck aus der Politik) veranlasste, die Tarife für dieses Handelsgut um 30 Prozent abzusenken, sogar bis nach dem Fest.

BZ, 12. Dezember 1922

Dennoch musste man mit hohen Preisen rechnen, was in Bergedorf auch „Selbstversorger“ auf den tannenbestandenen Gojenberg trieb, vermutlich in größerer Zahl als hier in der BZ beschrieben. Ob am 12. Dezember in Bergedorf wirklich noch keine Weihnachtsbäume zu erwerben waren, muss allerdings bezweifelt werden: ab dem 11. Dezember wollte ein Anbieter aus der Brunnenstraße den Verkauf aufnehmen (Anzeige in der BZ vom 9. Dezember), und am 13. Dezember hatte dann auch der Lokalredakteur wahrgenommen, dass man auf dem Brink Bäume kaufen konnte, zu allerdings stolzen (Papiermark-)Preisen:

BZ, 9. Dezember 1922

BZ, 13. Dezember 1922

 

Anzeigen weiterer Händler (aus Sande, Curslack, Neuengamme und Geesthacht) folgten – soweit Preise genannt wurden, lagen sie zwischen 130 und 400 Mark (Anzeigen vom 13., 14., 16., 18. und 21 Dezember) – und es gab auch einen regionalen Großanbieter: die Gutsverwaltung Glinde wollte Bäume an Wiederverkäufer abgeben (BZ vom 18. Dezember).

Es war den Engländern also nicht gelungen, den Markt leerzukaufen.

 

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Die teuren Zeitungen

BZ, 2. Dezember 1922

Die „Bergedorfer Zeitung“ bürgerlich-konservativ – das „Bergedorf-Sander Volksblatt“ eine Zeitung der SPD. 1919 war man kräftig über einander hergezogen, siehe den Beitrag Das Bergedorf-Sander Volksblatt, 1921 nicht minder, siehe den Beitrag über den Kleinkrieg der Lokalpresse. Ende 1922 agierten beide gemeinsam und setzten im Gleichtakt das Monats-Abonnement für den Dezember auf 350 Mark fest: beide Blätter litten unter der Inflation.

Im Dezember 1921 hatte die BZ noch 16,50 Mark für den Monat gekostet, im Juli 1922 dann 25 Mark, danach ging es rapide bergauf: 150 Mark im November 1922, und im Dezember mehr als das Doppelte davon. Am 20. Dezember gab die BZ ihren Januar-Preis von 600 Mark bekannt und korrigierte diesen am 30. Dezember auf 700 Mark. (Das Volksblatt verlangte im Juli 20 Mark; weitere Angaben liegen nicht vor.)

BZ, 28. Oktober 1922

Immerhin waren beide Zeitungen nur Inflationsgeschädigte, nicht Inflationsopfer: am 28. Juli 1922 meldete die BZ, dass 226 Tageszeitungen und Zeitschriften eingegangen waren, Ende August stellte die „Neue Hamburger Zeitung“ ihr Erscheinen ein und wurde mit dem „Hamburger Anzeiger“ verschmolzen (BZ vom 22. August). Das Zeitungssterben ging weiter, aber sowohl die Bergedorfer Zeitung als auch das Bergedorf-Sander Volksblatt überstanden die Inflationszeit.

 

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Der steigende Gaspreis und der Windfall-Profit

BZ, 30. November 1922

Das Gaswerk Bergedorf war rigoros: der Gasverbrauch wurde monatlich abgelesen, und wer nicht sofort den Ableser bezahlte, musste innerhalb von fünf Tagen den fälligen Betrag entrichten – sonst wurde der Gashahn zugedreht.

Zwar wussten die Gaskunden, wann bei ihnen abgelesen wurde, aber sie konnten nur ahnen, was sie würden bezahlen müssen: meist erst nach etwa zwei Dritteln der monatlichen Verbrauchsperiode gab das Gaswerk bekannt, welcher Preis für den laufenden Monat zu zahlen war, und kündigte eine Preiserhöhung für den folgenden Monat an (siehe z.B. vom 19. Juli, 12.August, 21. September, 23. Oktober, 24. November und 21. Dezember 1922).

Das Leucht- und Kochgas hatte im Dezember 1921 noch 2,65 Mark pro Kubikmeter gekostet – im Juli 1922 waren es 9,50 Mark, im November 1922 dann 75 Mark – für den Dezember wurde eine Warnung in die Zeitung gesetzt: für den Dezember sei „mehr als das Doppelte des Preissatzes für Monat November zu erwarten“ (BZ vom 12. Dezember 1922). Tatsächlich wurden es 160 Mark, also gut das Sechzigfache des Vorjahrespreises.

Über vorgenommene Absperrungen war in der BZ nichts zu finden, und auch Magistrat und Bürgervertretung rührten sich nicht: die Steigerungen wurden offenbar stillschweigend hingenommen, obwohl die Stromtarife nur auf das Fünfzigfache gestiegen waren (BZ vom 31. Dezember 1921 und 15. November 1922), und das hatte einen Grund.

BZ, 28. Oktober 1922 (Auszug: Sitzung von Magistrat und Bürgervertretung)

Zwischen der Stadt und dem privaten Gaswerksbetreiber war im Herbst ein Nachtrag zum Konzessionsvertrag abgeschlossen worden, sodass nun die Stadt 2,5 Prozent der Bruttoeinnahmen aus dem Gasverkauf erhielt, rückwirkend ab 1. April 1920 – auch 2,5 Prozent der Einnahmen aus dem Gasverkauf in Sande und Geesthacht kamen Bergedorf zugute. Für den Monat Oktober wurde mit einer Einnahme von einer Viertelmillion gerechnet (BZ vom 24. Oktober 1922), und wenn man die hochrechnet, so floss für Dezember mehr als eine Million Mark in die Stadtkasse, was man sicher als Windfall-Profit bezeichnen kann. Aber der Windfall wurde durch die Inflation wieder weggeweht.

 

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Schulreformgedanken: Koedukation und lateinische Schrift

BZ, 23. November 1922

„Gemeinsame Erziehung von Knaben und Mädchen in der Schule“ gab es schon lange in der Landherrenschaft Bergedorf, aber nur gezwungenermaßen: in manchen der kleinen Dorfschulen reichte die Schülerzahl nicht für die ansonsten übliche Trennung nach Geschlechtern (siehe hierzu die Geschichte des hamburgischen Landschulwesens (S. 174)). In Bergedorf war es 1856 sogar als Fortschritt empfunden worden, dass mit dem Bezug der neuerbauten Stadtschule am Brink endlich Mädchen und Knaben getrennt unterrichtet werden konnten (ebd., S. 207-233), 1922 verteilt auf zwei und zwei Schulen.

Zur Regel wollten die Repräsentanten der Bergedorfer Schulen die Koedukation allerdings nicht machen. Nur wenn Eltern und Lehrer dies wünschten, sollte entsprechend genehmigt werden. Immerhin, so der zweite Punkt der Entschließung, sollte die Bildung von Mädchen nicht daran scheitern, dass „Fortbildungs-, Berufs- und höhere Schulen“ nur Knaben offenstanden – das war für die Hansaschule nicht neu: dort waren 1920 einige Mädchen in die Oberstufe aufgenommen worden, weil sie sonst keine Möglichkeit gehabt hätten, in Bergedorf das Abitur zu erreichen (siehe den Beitrag zu Mädchen an der Hansaschule).

Bis zur vollen Koedukation an den staatlichen Schulen sollte es noch lange dauern; sie blieb auf Versuchsschulen wie z.B. die Hamburger Lichtwarkschule beschränkt. Dort hatte die Koedukation sogar ehestiftende Wirkung unter den Klassenkameraden Helmut Schmidt und Hannelore (Loki) Glaser.

BZ, 7. November 1922

Ein weiteres Reformvorhaben betraf die Schrift, die in der Schule gelehrt werden sollte: Käthe Alpers, laut Hamburgischem Lehrerverzeichnis 1922/23 (S. 180) Lehrerin an der Mädchenschule Birkenhain, referierte vor ihren Kolleginnen und Kollegen im Verein der Landschullehrer, wobei sie sich auf Fritz Kuhlmanns Schrift „Schreiben in neuem Geiste“ bezog: der Schulunterricht müsse mit der lateinischen Schrift beginnen und erst zuletzt die deutsche Schrift lehren, die bis dahin Standard war. Wenn der Berichterstatter schrieb, dass Frau Alpers‘ Ausführungen „die ungeteilte Aufmerksamkeit der Versammlung“ fanden, so kann man dies durchaus als höfliche Umschreibung einer Zurückweisung interpretieren.

Es dauerte noch fast zwanzig Jahre bis zur Streichung der deutschen Schrift aus dem Lehrplan (siehe den Artikel Ausgangsschrift auf Wikipedia). Kuhlmanns Konzept einer Grundschrift, aus der eine individuelle Schreibschrift sich entwickeln sollte, ist im 21. Jahrhundert als Schulversuch im Einsatz.

Überstürzt wurden die Reformen also nicht eingeführt.

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Der Ausbau des Fersenwegs

BZ, 25. November 1922

Der Senat hatte hohe Erwartungen an den Ausbau des Fersenwegs: dort sollten sich Gemüsebauern ansiedeln und Hamburg mit frischen Lebensmitteln versorgen. Das war aber recht optimistisch.

Der Fersenweg, der Kirchwärder in ost-westlicher Richtung durchzieht, existiert seit über 500 Jahren: laut Ernst Finder (S. 315) ist er bereits in der sogenannten Pfannenstielschen Karte von 1546 verzeichnet. Über die Jahrhunderte war er ein einfacher Feldweg, aber nun hatte Hamburg großes vor. Man strebte an, den „durchgehenden Verkehr aus dem Lande auf dem Fersenweg und Landscheideweg über die Ochsenwärder Landstraße und den Elbdeich in Moorfleth nach Hamburg durch Ausbau der Feldwege Fersenweg und Landscheideweg zu ermöglichen“, wie es im Wegeprogramm der Landherrenschaften hieß (BZ vom 7. August 1922).

Die Begeisterung darüber hielt sich in Grenzen: für Kirchwärders Gemeindevorsitzenden Heinrich Grube war die Pflasterung der Deiche dringender und nötiger, seine Gemeindevertretung war aber mit dem Plan einverstanden (BZ vom 27. Oktober und 6. November 1921). Auch in einem Ausschuss der Hamburger Bürgerschaft wurde kontrovers diskutiert: die Befürworter meinten, dass dort „Hunderte von Gemüsebauern sich ansiedeln“ könnten, zu beiden Seiten der Wege befinde sich ja „ausschließlich Acker- und tiefliegendes Weideland“. Die Gegner erwarteten, dass die Hamburger Marschbahn die Transportaufgaben übernehmen würde und die Wege somit „vollständig entbehrlich“ seien (BZ vom 30. März 1921).

In Kirchwärder erwartete man sogar die Schaffung einer „breiten Fahrstraße“ (BZ vom 2. April 1921), doch das war zu optimistisch: der Ausbau erfolgte in einer Breite von ca. drei Metern, sodass Begegnungen von Pferdefuhrwerken und von Lastkraftwagen nicht ohne Inanspruchnahme der Bankette möglich waren, und folglich wurde der Süderquerweg, nicht der Fersenweg, zur Ost-West-Hauptstraße Kirchwärders, mit Anschluss an den Ochsenwärder Landscheideweg.

Zu rosig hatte man auch die gartenbauliche Zukunft gesehen: wie man heute noch feststellen kann, blieb die Zahl der Gemüsebauern sehr überschaubar – offenbar war das schwere, tiefliegende Land doch nicht so gut für den Gartenbau geeignet.

Fersenweg (westlicher Teil) im September 2022

Die Straßenbreite beträgt übrigens bis heute etwa drei Meter, es sind allerdings Ausweichbuchten vorhanden. Und rechtzeitig vor dem hundertsten Geburtstag hat der westliche Teil des Fersenwegs, also zwischen Kirchwerder Landweg und Durchdeich, eine neue Asphaltdecke erhalten, unter der sich altes Pflaster verbirgt.

 

 

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