Die Gewerkschaften und der Kleinwohnungsbau

Bergedorfer Zeitung, 7. April 1917

Das Gewerkschaftskartell Bergedorf-Sande, über dessen Aktivitäten im Vorjahr hier berichtet wird, gehörte zur sozialdemokratischen Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, aus der der heutige Deutsche Gewerkschaftsbund hervorgegangen ist. Die damalige Mitgliederzahl in Bergedorf-Sande konnte der BZ-Leser nur über einen weiteren Bericht über das Geesthachter Kartell erschließen: die Geesthachter Gewerkschaften hatten  631 Mitglieder und die Einnahmen des Kartells beliefen sich auf 467,33 Mark (siehe BZ vom 21. März 1917) – die Einnahmen in Bergedorf-Sande lagen mit 924,83 Mark fast doppelt so hoch, sodass man auch eine etwa doppelt so hohe Mitgliederzahl vermuten kann.

Wenn dem Artikel über Tarifauseinandersetzungen und eventuelle Streiks nichts zu entnehmen ist, kann das an der BZ und der Pressezensur gelegen haben – vielleicht gab es sie im „ruhigen“ Bergedorf des Jahres 1916 aber auch nicht, denn alle Gewerkschaften, nicht nur die sozialdemokratischen, hatten sich dem Burgfrieden angeschlossen und wollten für die Dauer des Krieges auf Streiks verzichten – auch auf die traditionellen Kundgebungen am 1. Mai sollte wie schon in den beiden Vorjahren verzichtet werden (siehe BZ vom 28. April 1917).

Aber es blieben ja noch andere Felder der Gewerkschaftsarbeit: das Erteilen von (vermutlich arbeitsrechtlichen) Auskünften, die Bildungstätigkeit mit Bibliothek und Theaterabenden, und die Überprüfung der Zustände in den Herbergen (siehe Zu Gast in Bergedorf), in denen Anfang 1917 ja eine Ansteckungsquelle für die Pockenerkrankungen (siehe den Beitrag Die schwarzen Blattern in Geesthacht und Bergedorf) gesehen worden war.

Auch das „recht reformbedürftige Wohnungswesen der inneren Stadt“ wurde thematisiert und die Forderung nach „Kleinwohnungsbau“ erhoben. Darauf lohnt ein genauerer Blick:

„Ein Großteil der Arbeiterwohnungen aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg war in dunklen Kellern, Hinterhäusern und Mansarden belegen. Zudem waren sie meist völlig überbelegt.“ Mit diesen Worten beschreibt Geerd Dahms (S. 10) die Situation in der Bergedorfer Altstadt, in der wegen des Krieges und der bereits 1912 beschlossenen Schaffung einer „Durchbruchstraße“ mit Flächensanierung der westlichen Altstadt (vgl. ebd., S. 11) kaum noch in die Häuser investiert wurde – ein größerer Kontrast zum Konzept des Kleinwohnungsbaus (siehe hierzu Fritz Schumacher, Die Kleinwohnung (1917)) mit Blockrandbebauung, Räumen unmittelbar am Licht, Querlüftungsmöglichkeit und Wohnungs-WC ist kaum vorstellbar.

Bereits 1916 hatte der Bergedorfer Architekt Hermann Distel (siehe auch Bergedorfer Personenlexikon) vor der Geesthachter Gemeindevertretung hierüber referiert, und 1917 entstanden in Geesthacht, unmittelbar neben dem Bahnhof, drei solcher Kleinwohnungshäuser, die die BGE für Bahnarbeiter bei Distel in Auftrag gegeben hatte. Zwei dieser Häuser stehen heute noch und lassen die wohnungsbaulichen Neuerungen gut erkennen.

Aber die Gewerkschafter mussten lange warten, denn der moderne Wohnungsbau hielt in größerem Maßstab erst weit nach Kriegsende in Bergedorf Einzug, teilweise auf Kosten der Altstadt: dem Bau der Vierlandenstraße (Durchbruchstraße I, Baubeginn 1928) lag der städtebauliche Entwurf Distels zugrunde,  und das Büro Distel zeichnete die Pläne für mehrere prägende Neubauten dort – siehe hierzu und zu Distels weiterem Schaffen die Monographie von Peter Pawlik.

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Arbeitspflicht für die Jugend und die Fahnenflucht aus der Landwirtschaft

Bergedorfer Zeitung, 10. April 1917

Man konnte jetzt (seinem Gutsherrn) nicht mehr entkommen: wer in der Land- oder Forstwirtschaft arbeitete, durfte laut dieser Verordnung nicht in eine andere Beschäftigung wechseln, denn trotz des Einsatzes von Kriegsgefangenen (siehe den Beitrag Kriegsgefangene in Ochsenwerder) waren dort Arbeitskräfte äußerst knapp. Die Agrarproduktion durfte auf keinen Fall weiter absinken, damit das Heer versorgt und die städtische Bevölkerung (einigermaßen) ruhig gehalten werden konnte. Und so konnte nun „jede männliche oder weibliche Person“ verpflichtet werden, zum „jeweils am Orte üblichen Lohn“ bei einem Bauern, Gärtner oder Forstwirt zu arbeiten –  acht Wochen vorher hatte der Chef des Kriegsamts, General Groener, es noch mit einem patriotischen Appell versucht: „wer um wenige Groschen mehr Verdienst vom Pfluge weg zur Stadt eilt, begeht Fahnenflucht“ (siehe BZ vom 13. Februar 1917), aber das hatte wohl nicht ausreichend Wirkung gezeigt.

Für Jugendliche war diese neue Verordnung noch rigoroser: 15- bis 17-jährige, die sich „ohne feste Arbeit oder arbeitslos umhertreiben“, konnten jetzt von der Polizei „zu geeigneter Arbeit“ herangezogen werden – bei Arbeitsverweigerung konnten sie „in Verwahrung genommen“ werden. Da das Reich mit derartigen Maßregeln immer nur auf vorhandene Missstände reagierte, kann man vermuten, dass Jugendarbeitslosigkeit und „Umhertreiben“ solche Ausmaße angenommen hatten, dass man glaubte, sie auf diese Art bekämpfen zu müssen. Berichte über solche Umtriebe waren der Bergedorfer Zeitung allerdings nicht zu entnehmen.

Bemerkenswert ist der § 5 der Verordnung, denn er sicherte den Minderjährigen den Tariflohn zu, wenn ein Tarifvertrag bestand – dann aber war die Lohnhöhe kein Kündigungsgrund.

Verstöße gegen die Verordnung konnten mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft werden – die Rechtsgrundlage dafür bildete immer noch das preußische Gesetz über den Belagerungszustand von 1851 (mit Ergänzung von 1915).

 

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Reklamationen

Bergedorfer Zeitung, 29. März 1917

Wer heute den Begriff „Reklamation“ benutzt, will in aller Regel etwas beanstanden, weil es nicht im einwandfreien Zustand ist. Im ersten Weltkrieg konnten auch Personen „reklamiert“ werden, und diese werden sich in den meisten Fällen sogar darüber gefreut haben, denn eine erfolgreiche Reklamation führte dazu, dass man zumindest zeitweilig vom Militärdienst beurlaubt wurde.

Für derartige Freistellungen gab es natürlich ein geordnetes (Militär-)Verwaltungsverfahren (das aber häufiger geändert wurde), und damit eröffnete sich einigen Bergedorfern ein neues Tätigkeitsfeld, nämlich das Verfassen entsprechender „Gesuche“ auf Reklamation. Besonders intensiv betrieb dies offenbar der „Bureauvorsteher Fr. Giersig“, der ab September 1916 etwa monatlich in der BZ seine Dienste „in Rechts-, Militär- und behördl. Angelegenheiten“ ab 6 Uhr abends und sonntags anbot (siehe z.B. BZ vom 30. September 1916 und 7. April 1917).

Wenn Industriebetriebe kriegswichtige Güter herstellen sollten, hatten sie gute Aussichten, ihre zum Militär einberufenen Mitarbeiter per Reklamation zurückzuerhalten. Dies geschah offenbar in so großem Maße, dass die BZ von einem „gewaltigen Reklamiertenheer“ schrieb, das noch in der Heimat sei (siehe BZ vom 26. April 1917). Zwar war die Freistellung – vom Arbeiter bis zum Betriebsleiter – auf jeweils drei Monate begrenzt, aber Verlängerungen waren möglich, wie das Beispiel des Bergedorfer Bürgermeisters Walli zeigt: auch er zählte zu den Reklamierten (siehe BZ vom 23. Juni 1917), und in seinem Fall waren die Verlängerungen kein Problem, denn er brauchte überhaupt nicht in den Krieg zu ziehen.

Soldaten aus der Landwirtschaft waren schon 1915 zur Ernte und 1916 zur Frühjahrsbestellung vom Militär beurlaubt worden (siehe BZ vom 17. Juli 1915 und 7. März 1916), was bei den Nicht-Landwirten und deren Familien wohl Neidgefühle hervorrief. Dieser negativen Stimmung wurde mit der Ankündigung begegnet, dass nach den Bauern und Gärtnern „die anderen Berufszweige“ Urlaub erhalten sollten, wenn sie mindestens ein Jahr ununterbrochen „im Felde“ gewesen waren (siehe BZ vom 26. September und 27. Dezember 1916). Offenbar geschah dies im folgenden Frühjahr auch: verheiratete Mannschaftsdienstgrade sollten „nach Möglichkeit berücksichtigt“ werden, dabei zuerst die älteren (siehe BZ vom 12. März 1917). Ende Mai 1917 wurden dann für den „Erholungsurlaub“ von Soldaten ohne Angehörige Quartiere gesucht, wobei die Urlauber ihren Gastgebern mit Arbeitsleistung zur Verfügung stehen sollten (siehe BZ vom 31. Mai 1917).

Im Laufe des Jahres 1917 änderten der hilfsbereite Herr Giersig und seine Kollegen den Text ihrer Inserate, sodass von „Militärangelegenheiten“ und „Reklamationen“ nicht mehr die Rede war, sondern zum Teil nur noch von „schriftlichen Arbeiten“ (so Claus Garbers aus Kirchwärder in der BZ vom 2. November 1917) bzw. pauschal „Gesuchen“ (wiederum Fr. Giersig, BZ vom 4. November 1917). Potentielle Kunden werden das schon richtig interpretiert haben, und die Zahl der Reklamierten stieg bis Kriegsende weiter an, wie Herfried Münkler (S. 570) schreibt.

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Die Furien von Bergedorf und andere Gesetzesbrecher

Bergedorfer Zeitung, 23. März 1917

Einen Polizisten mit einem Schirm zu schlagen war auch vor hundert Jahren natürlich nicht erlaubt. Einen Polizisten zu beleidigen war nach dem Urteil des Bergedorfer Schöffengerichts sogar schlimmer: das wurde mit einer höheren Geldstrafe belegt.

Was hatte zwei verheiratete Frauen dazu gebracht, wie Furien verbal bzw. tätlich auf die Staatsgewalt loszugehen? Es war die miserable Versorgungslage: nur ausnahmsweise kamen Rippen zum Verkauf an die Zivilbevölkerung (siehe den Beitrag Die Fressordnung im Ersten Weltkrieg …), und entsprechend war dann der Andrang: „einige Hundert“ umfasste die wartende Menge in der Bahnstraße, und je weiter hinten man stand, umso größer wird die Sorge gewesen sein leer auszugehen und ebenso die Erregung (wie schon im Vorjahr beim Butterverkauf, siehe den Beitrag Szenen beim Butterverkauf).

Man muss sich eigentlich wundern, dass derartige Vorkommnisse nicht in jeder Woche berichtet wurden – Gesetzesverstöße waren meist Fälle von Diebstahl: Kaninchen (3x), Hühner (2x), Schweine (4x), Kartoffeln (2x), sonstige Lebensmittel (5x) und auch Textilien (4x) wurden gestohlen: im Zeitraum vom 20. bis 26. März 1917 berichtete die BZ über insgesamt derartige 23 Fälle (12 aus Bergedorf, 5 aus Geesthacht, 4 aus Sande, je einer aus Curslack und Boberg). Im Jahr zuvor hatte es im korrespondierenden Zeitraum 7 Diebstahlsmeldungen gegeben, 1915 sogar nur zwei. Auch wenn der Betrachtungszeitraum nicht repräsentativ sein sollte – die Steigerungsrate ist auffällig und spiegelt die Zunahme von Mangel und Not.

Die Aufklärungsrate bei Diebstahl und Einbruch scheint sich von der heutigen kaum unterschieden zu haben – nur in wenigen Fällen kamen Täter vor Gericht.

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Das Geduldspröbchen und die Hungerunruhen

Bergedorfer Zeitung, 16. März 1917

Bittere Ironie, vielleicht sogar Sarkasmus im Lokalteil der Bergedorfer Zeitung, mit unverhohlener Kritik an einer Reichsbehörde? Man mag es gar nicht glauben, aber eine Online-Recherche in den Zeitungen bei The European Library (Stichworte: Gemüsekonserven, Sauerkraut; Zeitraum: März 1917) lieferte keinen Artikel, der hier einfach übernommen wurde, sondern nur wertfreie Meldungen zur bevorstehenden Verteilung der Konserven. Also darf man vermuten, dass dieses Stück in der Verantwortung der BZ entstand und publiziert wurde. Mutig.

Der Sachverhalt ist ja schnell erklärt: das Kriegsernährungsamt, dem laut Bundesarchiv am Kriegsende 105 Organisationen bzw. Firmen zugeordnet waren, wollte die ihm unterstehende Verteilung von Gemüsekonserven an die Bevölkerung nun in die Wege leiten – aber erst nach einer Bestandserhebung beim Groß- und Einzelhandel, dem bis zur Freigabe seiner Bestände der Verkauf untersagt blieb. Solche Bestandserhebungen konnten viel Zeit in Anspruch nehmen, was der Autor offensichtlich wusste und zum Anlass nahm, im Schlusssatz seines Artikels das Kriegsernährungsamt mit Hohn und Spott zu übergießen.

Seine Befürchtungen bewahrheiteten sich: nach der wöchentlich in der BZ abgedruckten Liste zur „Lebensmittelversorgung in Bergedorf“ gab es von März bis Ende Juni neben Kartoffeln und Steckrüben an Grünwaren:
(BZ vom 28.04.1917)      500 Gramm Gemüsekonserven
(BZ vom 26.05.1917)      100 Gramm Dörrsteckrüben
(BZ vom 09.06.1917)        75 Gramm Dörrgemüse
(BZ vom 16.06.1917)    1000 Gramm Gemüsekonserven
(BZ vom 23.06.1917)    Sauerrüben beliebig.
Die ersten Erzeugnisse aus der neuen Ernte – frische Erbsen in Schoten, in beliebiger Menge, und Frühzwiebeln – kamen ab dem 1. Juli zur Verteilung (siehe BZ vom 30.06.1917).

Wenige Wochen zuvor hatten viele Hamburger gegen die miserable Versorgungslage nicht nur mit Worten protestiert: am 22. Februar 1917 wurden (wie schon im August 1916) in Barmbek Brotgeschäfte geplündert, und die Hungerunruhen weiteten sich schnell auf „fast alle Hamburger Stadtteile und benachbarte Gemeinden“ aus und konnten nur durch massiven Miltäreinsatz niedergeschlagen werden, wie Uwe Schulte-Varendorff (S. 24, mit weiteren Literaturhinweisen) schreibt. Bergedorf wird in seiner Aufzählung nicht genannt, was für sich genommen nichts besagt: Bergedorf und die Landherrenschaften werden von der Hamburger Geschichtsschreibung häufig übersehen, und dass die Bergedorfer Zeitung über derartige Unruhen in Deutschland nicht berichtete, hatte sie mit den anderen Zeitungen gemein, weil die Zensur solche Meldungen unterdrückte, denn sie passten nicht in das Bild des einigen Vaterlandes und des opferbereiten Volkes.

In der Stadt Bergedorf waren die Rationen jedenfalls nicht größer als in der Stadt Hamburg oder im übrigen Gebiet der Landherrenschaften, z.T. sogar kleiner (siehe z.B. BZ vom 24, Februar 1917). Gehungert wurde also auch hier. Ob sich die „Tumulte“ vom Vorjahr wiederholten (siehe den Beitrag Eine Protestkundgebung bei Bürgermeister Walli), muss offenbleiben.

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Von Landwirtschaft und Sommerzeit

Bergedorfer Zeitung, 7. März 1917

Man bekommt einen ganz guten Einblick in die Probleme der Landwirte und damit der Nahrungsmittelversorgung: zwar sollten mineralische Dünger zur Verteilung kommen, aber es bestand „große Knappheit an Düngemitteln“, wie der Vorsitzende des Landwirtschaftlichen Vereins der Hamburger Marsch, Henry Christian Bieber, sagte. Die Wichtigkeit des Düngens für den Ertrag war den Bauern (und Gärtnern) klar: „Wo niks ropp kummt, kummt ok niks rünner!“ zitiert Werner Schröder (S. 70) eine alte Vierländer Weisheit. Entsprechend galt und gilt das auch für das Vieh: minderwertiges und knappes Futter führt zu weniger Milch- und Fleischproduktion usw. Kleie, damals ein gebräuchliches Futtermittel, sollte erst im April und auch nur in „geringen Mengen“ zur Verfügung stehen.

Auch aus diesem Bericht wird deutlich, dass staatliche Lenkung der Wirtschaft, die „Zentralleitung der Zwangsbewirtschaftung in Berlin“, kein Allheilmittel war und Probleme vielfach verschärfte: da zu wenig Kartoffeln da waren, bekamen die Menschen ersatzweise Steckrüben; die Tiere, die sonst u.a. mit Steckrüben (und Kartoffeln) gefüttert wurden, bekamen Zuckerrüben, und damit fehlte es an Zucker für die menschliche Ernährung (siehe den Beitrag Die Kartoffeln und der Steckrübenwinter).

Der am Ende des Artikels genannte „gelinde Zwang“ der Landherrenschaft zu gesteigertem Kartoffelanbau war gar nicht so gelinde: den Landgemeinden wurde auferlegt, zumindest die eigene Kartoffelversorgung sicherzustellen; Zuweisungen an Kartoffeln sollte es nicht geben (siehe BZ vom 16., 26. und 27. Februar 1917).

Leicht komisch mutet die Bestrebung an, in Sachen der bei den Landwirten unbeliebten Sommerzeit (siehe z.B. BZ vom 20. Januar 1917) nur eine Verschiebung von einer halben Stunde vorzunehmen und sich damit vom Rest Deutschlands zeitlich zu emanzipieren (man könnte sie als koreanische Lösung bezeichnen). Hätten die Bauern diesen Plan verwirklicht und sich zu Herren über die Zeit aufgeschwungen, hätten (ihrer Ansicht nach) auch die Landsturmmänner, die die in der Landwirtschaft tätigen Kriegsgefangenen (siehe den Beitrag Kriegsgefangene in Ochsenwerder) bewachten, ihre Uhren umstellen müssen.

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Treibriemen zu Schuhsohlen, Frauenhaar zu Treibriemen

Bergedorfer Zeitung, 28. Februar 1917

Bergedorfer Zeitung, 28. Februar 1917

Treibriemen waren in vielen Industriebetrieben ein unverzichtbares Mittel der Kraftübertragung, und da die Rüstungsproduktion an oberster Stelle der Güterherstellung rangierte, hatte deren ausreichende Versorgung mit Treibriemen Priorität gegenüber Schuhsohlen (für die Zivilbevölkerung). Auch brauchte man Leder für das Geschirr der Pferde beim Militär und im Transportwesen, und dann blieb eben nicht viel übrig für die Menschen im Lande. Dennoch gab es nicht genug Leder, und so wurden sogar Frauenhaare gesammelt, um daraus Treibriemen zu fertigen (siehe BZ vom 2. Februar 1917).

Der Artikel oben könnte zumindest einen Teil der Anfang 1917 häufigen Treibriemendiebstähle (siehe z.B. BZ vom 2. und 9. Januar, 7. Februar und 14. März 1917) erklären: Treibriemen wurden zu Schuhsohlen umgearbeitet, denn stabiles Leder brauchte man für die einen wie für die anderen. Im Juli wurden dann sogar die Schumacher verpflichtet, alle Personen, die ihnen Leder brachten, welches „seiner Beschaffenheit nach von Treibriemen herrühren kann“, bei der Polizei zu melden, wenn sie nicht ein Jahr Gefängnis riskieren wollten (siehe BZ vom 2. Juli 1917).

Bergedorfer Zeitung, 7. Februar 1917

Bergedorfer Zeitung, 7. Februar 1917

Natürlich wurden nicht nur Treibriemen gestohlen, wobei man unter den Dieben durchaus „Profis“ vermuten darf, sondern vor allem Lebensmittel (und Lebensmittelmarken), was dann in vielen Fällen Gelegenheitsdieben, die einer Versuchung nicht widerstehen konnten, zuzuschreiben war, wie nicht nur der nebenstehende Artikel zeigt, sondern ebenso die häufigen Berichte über Strafprozesse vor dem Amtsgericht Bergedorf.

Bergedorfer Zeitung, 28. Februar 1917

Bergedorfer Zeitung, 28. Februar 1917

Alle Bergedorferinnen und Bergedorfer, die mit durchgelaufenen Sohlen herumlaufen mussten, werden darauf gehofft haben, dass tatsächlich „Ausgleich durch Ersatzfabrikate rechtzeitig in die Wege geleitet“ worden war – vorerst musste man sich mit dem „Patent-Sohlenschoner ‚Antoria‘“ behelfen, den man bei Hartig Eggers, Sachsenstraße 18 und Brauerstraße 15/17, erwerben konnte, oder man wich auf Holzpantoffeln aus, die immer wieder angeboten wurden (siehe z.B. BZ vom 8. Oktober 1916 und 23. April und 9. Juni 1917). Aus welchem Material die genannten Sohlenschoner hergestellt wurden, ist nicht eindeutig zu klären; ein passendes deutsches Patent war mittels Online-Recherche beim Deutschen Patent- und Markenamt nicht auffindbar, wohl aber ein schweizerisches: am 23. Oktober 1916 hatte L. P. tho Seeth aus Altona sein Sohlenschoner-Patent beim Schweizerischen Amt für Geistiges Eigentum angemeldet. Die Vorrichtung bestand aus einer Metalleinfassung, die ein „Deckstück“ umschloss, das aus Leder oder Linoleum, getränktem Filz, Fiber oder Holz bestehen konnte, und die mit Schrauben o.ä. auf der Sohle befestigt wurde. Die Verwendung von Linoleum passt zu einer Meldung aus dem Vorjahr: von der Treppe eines Hauses in der Großen Straße war der Linoleumbelag heruntergeschnitten worden, „um aller Wahrscheinlichkeit nach zu Stiefel-Sohlen benutzt zu werden.“ (BZ vom 24. März 1916)

 

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Präventive Maßnahmen gegen Strumpflöcher

Bergedorfer Zeitung, 1. März 1917

Talkum ist vielfältig einsetzbar, wenn auch nicht ohne gesundheitliche Risiken, wie man aus Wikipedia erfährt – aber eine Anwendung wird dort im Artikel über Talkum nicht genannt: man sollte es in den Stiefel streuen und damit Löcher in den Strümpfen nicht entstehen lassen, wodurch man 80 Prozent der sonst benötigten Stopfwolle (im Artikel steht „Stoffwolle“, aber das scheint nicht passend) sparen konnte.

Angesichts der Knappheit an Wolle (siehe den Beitrag Teure Textilien …) könnte die Idee des angesehenen Chemikers Lassar Cohn keine schlechte gewesen sein, zumal es auch in Deutschland Talkum-Fundstätten gab und man einmal nicht auf Importe angewiesen war. Ob sie funktionierte? Jedenfalls findet man hundert Jahre später ähnlich lautende Empfehlungen im Internet, die aber vor allem der Bekämpfung des Fußschweißes dienen sollen.

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Geesthacht: die Vormittagssitzung der Gemeindevertretung

Bergedorfer Zeitung, 26. Februar 1917

Der Gasmangel (siehe den Beitrag Kein Gas …) traf Geesthacht noch härter als Bergedorf, denn hier gab es noch keine Elektrizität, und da die Gemeindevertretung nicht bei Kerzenschein sitzen wollte, musste das Treffen im Gemeindeamt eben auf den Vormittag verlegt werden. So nutzte man das Tageslicht zur Abarbeitung der vom Krieg geprägten Tagesordnung, die unter anderem die Umwidmung eines Klassenzimmers der Knabenschule zum Lebensmittellager beinhaltete.

Die Angebotskonditionen der im Februar eröffneten Kriegsküche (siehe den Beitrag Von der Kriegsküche zur Volksküche) entsprachen im Grundsatz denen in Bergedorf, wobei in Bergedorf die „Kriegerfamilien“ das Essen zum halben Preis erhielten – ob dies in Geesthacht genauso geregelt war, war der Zeitung nicht zu entnehmen, in der nur von einem Preisnachlass für „nachweislich Bedürftige“ berichtet wurde.

Auf geringere Resonanz als die Kriegsküche stieß die ebenfalls im Februar eröffnete Kinderkrippe, und dies lag offenbar nicht nur an der Regelung zur Abgabe der Lebensmittelkarten, denn Monate später war die Zahl der Krippenkinder auf gerade 30 gestiegen, was deutlich unter den Erwartungen der Gemeinde und der Sponsoren Pulverfabrik und Dynamitwerke lag (siehe BZ vom 7. Februar und 21. Juni 1917).

Dass für die Mitarbeiter der Gemeinde Teuerungszulagen bewilligt wurden, wird diese sicher erfreut haben. Wie wichtig die Aufgabe der Lebensmittelversorgung war, wird daraus deutlich, dass dem dafür zuständigen Beamten ein Jahresgehalt von 3.000 Mark gezahlt werden sollte – immerhin so viel wie dem Gemeindevorsitzenden Brügmann als erhöhte Aufwandsentschädigung bewilligt wurde. Im Gegensatz zu Bergedorf hatte die hamburgische Landgemeinde Geesthacht keinen hauptamtlichen Bürgermeister – dies auch im Gegensatz zum benachbarten preußischen Besenhorst, das im späten  Frühjahr den „Berufsgemeindevorsteher Bürgermeister Wohlers“ bekam, worin sich nach den Worten des Landrats Dr. Mathies die Entwicklung Besenhorsts von „einem stillen, ländlichen Orte … zu einer nicht unbedeutenden Industriegemeinde“ widerspiegelte. Allerdings resultierte dieses Wachstum Besenhorsts vor allem aus der Ansiedlung von Arbeitern auf von der Pulverfabrik erworbenem bzw. gepachtetem Gelände (siehe BZ vom 10. April und 13. Juni 1917).

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Der Kartoffelkönig von Ochsenwärder

Bergedorfer Zeitung, 15. Februar 1917

Bergedorfer Zeitung, 15. Februar 1917

 

 

 

Ansichtskarte von Bahlmann’s Etablissement, gelaufen 1907

 

 

 

 

 

 

 

Vermutlich wurde dieses Theaterstück nie in Ochsenwärder aufgeführt, denn das Publikum dort wäre sicher entrüstet gewesen: „So’n Lüüd as den Quappenkopp gifft dat hier nich.“ In Kirchwärder dagegen wird man sich bestimmt gern und königlich über den von einer plietschen Landsturmfrau hereingelegten Bauern aus dem Nachbardorf amüsiert haben, genauso über die Versorgungsmängel im Weltkrieg, die das Stück in vielen Facetten thematisiert und mit einer Liebesgeschichte verbindet.

Theaterzettel der Erstaufführung

Ihre Erstaufführung hatte diese „neueste große Lokalposse aus Hamburgs jetziger Zeit“ im Hamburger Ernst-Drucker-Theater, dem heutigen St. Pauli-Theater, am 8. März 1916 gehabt, wo sie bis zum 9. Februar 1917 en suite gespielt wurde, wie sich aus den in der Theatersammlung der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg befindlichen Theaterzetteln ergibt, danach noch einige Male am Sonntagnachmittag. Dem Autor Theodor Francke, der zum „Stamm“ des Hauses gehörte, gelangen mehrere solche Publikumserfolge: auch die nachfolgende „Hamster-Rieke aus dem Trampgang“ stammte aus seiner Feder und lief bis zum Januar 1918.

In einem privaten Archiv befindet sich das vermutlich einzige erhaltene Exemplar des Textes, ein Manuskript aus den Beständen der Direktion des Ernst-Drucker-Theaters. Demnach hatte das Stück fünf Akte, darunter „Der Balletverein der Scheuerfrauen“ – in Zollenspieker kam offenbar eine Bearbeitung (mit vier Akten und einer „Extra-Gesangseinlage“) zur Aufführung, über die keine Details bekannt sind. In der Annonce wird als Autor zwar ein „Fischer“ genannt, aber es dürfte sich doch um das Werk Franckes gehandelt haben.

Das in Sütterlin geschriebene Manuskript wurde der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg für eine Digitalisierung zur Verfügung gestellt und kann jetzt online eingesehen werden. Der leichteren Lesbarkeit halber wurde durch Simone Vollstädt und Bernd Reinert eine Transkription angefertigt, die über das Stabi-Blog aufgerufen werden kann: «Der Kartoffelkönig von Ochsenwärder». Dort findet man auch Links, die beim Verständnis der Zeitbezüge und mancher plattdeutschen Wendungen helfen.

Von herausragender Bedeutung für die Theaterliteratur war das Stück sicher nicht – eine 1917 in der von der Quickborn-Vereinigung herausgegebenen Zeitschrift Quickborn erschienene Kritik des Vierlanden-Malers und -Schriftstellers Hans Förster macht dies sehr deutlich:

Theaterkritik von Hans Förster, in: Quickborn, Jg. 10, 1916/17, S.

 

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