Das Geduldspröbchen und die Hungerunruhen

Bergedorfer Zeitung, 16. März 1917

Bittere Ironie, vielleicht sogar Sarkasmus im Lokalteil der Bergedorfer Zeitung, mit unverhohlener Kritik an einer Reichsbehörde? Man mag es gar nicht glauben, aber eine Online-Recherche in den Zeitungen bei The European Library (Stichworte: Gemüsekonserven, Sauerkraut; Zeitraum: März 1917) lieferte keinen Artikel, der hier einfach übernommen wurde, sondern nur wertfreie Meldungen zur bevorstehenden Verteilung der Konserven. Also darf man vermuten, dass dieses Stück in der Verantwortung der BZ entstand und publiziert wurde. Mutig.

Der Sachverhalt ist ja schnell erklärt: das Kriegsernährungsamt, dem laut Bundesarchiv am Kriegsende 105 Organisationen bzw. Firmen zugeordnet waren, wollte die ihm unterstehende Verteilung von Gemüsekonserven an die Bevölkerung nun in die Wege leiten – aber erst nach einer Bestandserhebung beim Groß- und Einzelhandel, dem bis zur Freigabe seiner Bestände der Verkauf untersagt blieb. Solche Bestandserhebungen konnten viel Zeit in Anspruch nehmen, was der Autor offensichtlich wusste und zum Anlass nahm, im Schlusssatz seines Artikels das Kriegsernährungsamt mit Hohn und Spott zu übergießen.

Seine Befürchtungen bewahrheiteten sich: nach der wöchentlich in der BZ abgedruckten Liste zur „Lebensmittelversorgung in Bergedorf“ gab es von März bis Ende Juni neben Kartoffeln und Steckrüben an Grünwaren:
(BZ vom 28.04.1917)      500 Gramm Gemüsekonserven
(BZ vom 26.05.1917)      100 Gramm Dörrsteckrüben
(BZ vom 09.06.1917)        75 Gramm Dörrgemüse
(BZ vom 16.06.1917)    1000 Gramm Gemüsekonserven
(BZ vom 23.06.1917)    Sauerrüben beliebig.
Die ersten Erzeugnisse aus der neuen Ernte – frische Erbsen in Schoten, in beliebiger Menge, und Frühzwiebeln – kamen ab dem 1. Juli zur Verteilung (siehe BZ vom 30.06.1917).

Wenige Wochen zuvor hatten viele Hamburger gegen die miserable Versorgungslage nicht nur mit Worten protestiert: am 22. Februar 1917 wurden (wie schon im August 1916) in Barmbek Brotgeschäfte geplündert, und die Hungerunruhen weiteten sich schnell auf „fast alle Hamburger Stadtteile und benachbarte Gemeinden“ aus und konnten nur durch massiven Miltäreinsatz niedergeschlagen werden, wie Uwe Schulte-Varendorff (S. 24, mit weiteren Literaturhinweisen) schreibt. Bergedorf wird in seiner Aufzählung nicht genannt, was für sich genommen nichts besagt: Bergedorf und die Landherrenschaften werden von der Hamburger Geschichtsschreibung häufig übersehen, und dass die Bergedorfer Zeitung über derartige Unruhen in Deutschland nicht berichtete, hatte sie mit den anderen Zeitungen gemein, weil die Zensur solche Meldungen unterdrückte, denn sie passten nicht in das Bild des einigen Vaterlandes und des opferbereiten Volkes.

In der Stadt Bergedorf waren die Rationen jedenfalls nicht größer als in der Stadt Hamburg oder im übrigen Gebiet der Landherrenschaften, z.T. sogar kleiner (siehe z.B. BZ vom 24, Februar 1917). Gehungert wurde also auch hier. Ob sich die „Tumulte“ vom Vorjahr wiederholten (siehe den Beitrag Eine Protestkundgebung bei Bürgermeister Walli), muss offenbleiben.

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