Die Gewerkschaften und der Kleinwohnungsbau

Bergedorfer Zeitung, 7. April 1917

Das Gewerkschaftskartell Bergedorf-Sande, über dessen Aktivitäten im Vorjahr hier berichtet wird, gehörte zur sozialdemokratischen Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, aus der der heutige Deutsche Gewerkschaftsbund hervorgegangen ist. Die damalige Mitgliederzahl in Bergedorf-Sande konnte der BZ-Leser nur über einen weiteren Bericht über das Geesthachter Kartell erschließen: die Geesthachter Gewerkschaften hatten  631 Mitglieder und die Einnahmen des Kartells beliefen sich auf 467,33 Mark (siehe BZ vom 21. März 1917) – die Einnahmen in Bergedorf-Sande lagen mit 924,83 Mark fast doppelt so hoch, sodass man auch eine etwa doppelt so hohe Mitgliederzahl vermuten kann.

Wenn dem Artikel über Tarifauseinandersetzungen und eventuelle Streiks nichts zu entnehmen ist, kann das an der BZ und der Pressezensur gelegen haben – vielleicht gab es sie im „ruhigen“ Bergedorf des Jahres 1916 aber auch nicht, denn alle Gewerkschaften, nicht nur die sozialdemokratischen, hatten sich dem Burgfrieden angeschlossen und wollten für die Dauer des Krieges auf Streiks verzichten – auch auf die traditionellen Kundgebungen am 1. Mai sollte wie schon in den beiden Vorjahren verzichtet werden (siehe BZ vom 28. April 1917).

Aber es blieben ja noch andere Felder der Gewerkschaftsarbeit: das Erteilen von (vermutlich arbeitsrechtlichen) Auskünften, die Bildungstätigkeit mit Bibliothek und Theaterabenden, und die Überprüfung der Zustände in den Herbergen (siehe Zu Gast in Bergedorf), in denen Anfang 1917 ja eine Ansteckungsquelle für die Pockenerkrankungen (siehe den Beitrag Die schwarzen Blattern in Geesthacht und Bergedorf) gesehen worden war.

Auch das „recht reformbedürftige Wohnungswesen der inneren Stadt“ wurde thematisiert und die Forderung nach „Kleinwohnungsbau“ erhoben. Darauf lohnt ein genauerer Blick:

„Ein Großteil der Arbeiterwohnungen aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg war in dunklen Kellern, Hinterhäusern und Mansarden belegen. Zudem waren sie meist völlig überbelegt.“ Mit diesen Worten beschreibt Geerd Dahms (S. 10) die Situation in der Bergedorfer Altstadt, in der wegen des Krieges und der bereits 1912 beschlossenen Schaffung einer „Durchbruchstraße“ mit Flächensanierung der westlichen Altstadt (vgl. ebd., S. 11) kaum noch in die Häuser investiert wurde – ein größerer Kontrast zum Konzept des Kleinwohnungsbaus (siehe hierzu Fritz Schumacher, Die Kleinwohnung (1917)) mit Blockrandbebauung, Räumen unmittelbar am Licht, Querlüftungsmöglichkeit und Wohnungs-WC ist kaum vorstellbar.

Bereits 1916 hatte der Bergedorfer Architekt Hermann Distel (siehe auch Bergedorfer Personenlexikon) vor der Geesthachter Gemeindevertretung hierüber referiert, und 1917 entstanden in Geesthacht, unmittelbar neben dem Bahnhof, drei solcher Kleinwohnungshäuser, die die BGE für Bahnarbeiter bei Distel in Auftrag gegeben hatte. Zwei dieser Häuser stehen heute noch und lassen die wohnungsbaulichen Neuerungen gut erkennen.

Aber die Gewerkschafter mussten lange warten, denn der moderne Wohnungsbau hielt in größerem Maßstab erst weit nach Kriegsende in Bergedorf Einzug, teilweise auf Kosten der Altstadt: dem Bau der Vierlandenstraße (Durchbruchstraße I, Baubeginn 1928) lag der städtebauliche Entwurf Distels zugrunde,  und das Büro Distel zeichnete die Pläne für mehrere prägende Neubauten dort – siehe hierzu und zu Distels weiterem Schaffen die Monographie von Peter Pawlik.

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