Die Frakturtype und die Zuchtsau

BZ, 18. Oktober 1920

Die Bergedorfer Zeitung wurde größtenteils in Fraktur gesetzt, und in einigen Schriftgrößen waren „f“ und „s“ nicht zu unterscheiden. So könnte der flüchtige Leser des 21. Jahrhunderts denken, dass hier eine „sinnige“ Zuchtsau zum Verkauf bzw. Tausch gestellt wurde, was aber nicht zu sinnvollen Interpretationen führt – egal, welche der für „sinnig“ im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache genannten Bedeutungen „zweckmäßig“, „geistreich, feinsinnig“ oder gar „von Zartgefühl zeugend“ man nimmt.

Das angebotene Tier war weder geistreich noch zartfühlend, sondern es war krank: es hatte Finnen – nach einer Schrift von Wilhelm Baumeister (1871) Larven des Einsiedlerbandwurms: „Aus solchem Fleisch entwickeln sich, wenn die Finnen nicht durch Räuchern, Salzen, Sieden, Braten alle und vollständig abgetötet sind, die Bandwürmer, namentlich im Menschen Taenia solium.“ (S. 151)

Dem Inserenten war klar, dass man solches Fleisch besser nicht essen sollte – warum sonst wollte er es gegen ein Schlachtschwein tauschen? Zur Zucht dürfte es auch kaum getaugt haben, denn nach Baumeister (ebd.) sind in der Regel auch die Nachkommen finnig und lassen sich nur unvollkommen mästen.

BZ 25. Juni 1920

Zum Glück gab es seit zwei Jahrzehnten aufgrund des Reichsfleischbeschaugesetzes eine Kontrolle des lebenden Schlachtviehs und des geschlachteten Viehs durch den zuständigen amtlich bestellten Fleischbeschauer u.a. auf Trichinen und Finnen; die Trichinenschau des geschlachteten Tieres konnte allerdings unterbleiben, wenn das Schlachtgut nur zum Verzehr im eigenen Haushalt verwendet wurde (BZ vom 5. November).

Seither ist die Zahl der entsprechenden bzw. resultierenden menschlichen Erkrankungen in Deutschland auf nahe Null zurückgegangen.

 

Veröffentlicht unter Bergedorf 1920 | Schreib einen Kommentar

Wenig Platz für die Fortbildung zur Hausfrau und Mutter

Bergedorfer Zeitung, 13. Oktober 1920

Da die im Vorjahr durch Gesetz beschlossene verpflichtende Fortbildungsschule in Bergedorf nicht über ein eigenes Gebäude verfügte, war sie zunächst als „Untermieter“ in den Stadtschulen Brauerstraße und Am Brink untergebracht gewesen, doch diese konnten nicht genügend Räume entbehren, sodass zum Schuljahresbeginn Ostern 1920 die Stadtschule Am Birkenhain als neues Quartier bezogen wurde (BZ vom 9. und 15. April). Auch dort blieb es beim Untermieterdasein: vier Klassenräume und ein Bureauraum wurden der Fortbildungsschule überlassen.

In diesen vier genannten Räumen wurde nun also der Fortbildungsunterricht für etwa 700 männliche und weibliche Jugendliche erteilt (BZ vom 11. Dezember), die wöchentlich nachmittags sieben Unterrichtsstunden hatten und auch zwei Stunden Leibesübungen (BZ vom 6. Oktober), deren Wichtigkeit der Gewerbeschulrat Thomae bei einer DNVP-Versammlung betonte: der Militärdienst sei ja fortgefallen (BZ vom 23. Oktober).

Schulsport sollten auch die Mädchen treiben (obwohl Thomaes Begründung auf sie nicht zutraf), von denen die wenigsten einen Lehrvertrag für einen Beruf gehabt haben dürften – die meisten waren als „Mädchen“ in Privathaushalten beschäftigt oder auch im Haushalt der Familie, und für sie sollte der Unterricht auf die „Erziehung … zur Hausfrau und Mutter“ ausgerichtet werden. Weibliche Jugendliche erhielten also Hauswirtschaftsunterricht, zu dem auch das Essenkochen gehörte – junge Männer konnten sich folglich bequem darauf verlassen, dass die häusliche Arbeit von der Frau erledigt würde, sie war ja entsprechend fortgebildet.

Die im Artikel erhobene Forderung nach einem eigenen Gebäude für die Fortbildungsschule war zweifellos berechtigt, um so mehr, als mit dem Beginn des nächsten Schuljahres die Gesamtschülerzahl auf etwa 1.000 in 40 „Abteilungen“ steigen würde (BZ vom 11. Dezember). Einen Neubau gab es zwar in den nächsten Jahrzehnten nicht, doch immerhin ein eigenes Quartier: 1927 räumte Bergedorfs Verwaltung die ehemalige Hansaschule und zog in das neue Rathaus (siehe die Beiträge zur Villa Hohentann und zum Bergedorfer Stadthaus). Aber vorerst blieb es eng an der Birkenhainschule.

Die Schule Am Birkenhain

 

Veröffentlicht unter Bergedorf 1920 | Schreib einen Kommentar

Kleinwohnungshäuser im Villenviertel

Bergedorfer Zeitung, 6. Oktober 1920

Nachdem im Vorjahr ein ambitioniertes Projekt zum Bau von 66 Wohnungen gescheitert war (siehe den Beitrag Der verzögerte Kleinwohnungsbau an der Brunnenstraße), war die Stadt Bergedorf nun bescheidener: der Bau von 12 Wohnungen wurde ausgeschrieben – aber unumstritten war das Vorhaben nicht.

Die Häuser sollten am Grasweg (heute: Grasredder) errichtet werden, auf einem Teil des der Stadt gehörenden Grundstücks, das in der BZ nach dem Vorbesitzer als „Bruntscher Park“ bezeichnet wurde – es wird sich um das auf der Karte 1904 eingezeichnete Flurstück Nr. 260 (eventuell mit den unbebauten Nachbargrundstücken) zwischen Grasweg und Brauerstraße gehandelt haben. Geplant waren drei Doppelhäuser mit jeweils vier Dreizimmerwohnungen plus Küche und 150 qm Gartenfläche; die Jahresmiete sollte 750 Mark betragen (BZ vom 9. und 11. September) und damit auch für Bezieher kleinerer Einkommen erschwinglich sein.

Bergedorfer Zeitung, 1. Oktober 1920

Das gefiel dem Bergedorfer Architekten Bruno Wieck gar nicht: er befürchtete, dass durch „Etagenhäuser“ und ihre Bewohner das „Landhausviertel“, d.h. das Villengebiet, entwertet, ja zerstört würde: er wollte das Viertel für „Hamburger Kaufleute, Bergedorfs beste Steuerzahler“ reservieren und eben mit „Landhäusern“, sprich Villen, bebauen, was ihm, der eindeutig pro domo sprach, sicher Aufträge verschafft hätte. Die Stadt solle den Bruntschen Park zu den erwartbar hohen Grundstückspreisen verkaufen und mit den Erlösen an anderer Stelle mehr als zwölf Kleinwohnungen für Nicht-Kaufleute bauen, die ja sowieso nicht in das Villenviertel passten.

Es wurde zwar nicht ausgesprochen, aber man kann davon ausgehen, dass die reformorientierten Kräfte in Magistrat und Bürgervertretung ein Signal setzen wollten, nämlich dass die feinen Leute in der feinen Gegend nicht länger unter sich bleiben sollten. Da hatte Wiecks Argumentation keine Chance.

Veröffentlicht unter Bergedorf 1920 | Schreib einen Kommentar

Der Aushangkasten der Bergedorfer Zeitung

Wer Käufer sucht, muss kundtun, was er verkaufen will – vor hundert Jahren war da die Bergedorfer Zeitung eine vielgenutzte Plattform: man schaltete eine Kleinanzeige (die Petitzeile kostete eine Mark). Wer aber seine Anschrift und ggf. seinen Namen nicht allgemein publiziert sehen wollte, konnte auf ein neues Angebot der BZ zugreifen: den Aushangkasten am Gebäude der Zeitung in Bergedorfs bester Geschäftslage.

Dieser Aushangkasten war für die Mitarbeiter der Geschäftsstelle des Blattes und für Kaufinteressenten eine angenehme Einrichtung: zuvor schlossen private Kleinanzeigen oft mit „Adresse zu erf. in der Gesch. d. Bl.“: wer die Anschrift des Inserenten erfahren wollte, musste also zu den Bürozeiten die Räume Am Markt 7 aufsuchen, und die Mitarbeiter erteilten die gewünschte Auskunft. Durch den Aushang wurde das Personal entlastet, und der Kasten konnte jederzeit in Augenschein genommen werden.

Und auch neugierige Bergedorfer hatten einen Vorteil, ohne die Zeitung gelesen zu haben: sie konnten nun ohne große Umstände sehen, wer was verkaufen wollte (oder womöglich musste).

Veröffentlicht unter Bergedorf 1920 | Schreib einen Kommentar

Hohe Belohnungen und der Selbstschutz der Geschäftsleute

Bergedorfer Zeitung, 2. Oktober 1920

Der erste Einbruch in Ludwig Gansers Konfektionshaus hatte in der Nacht vor der Eröffnung am 19. August 1920 stattgefunden (BZ vom 19. August 1920) – sechs Wochen später wurde es erneut heimgesucht. Der Schaden betrug jeweils etwa 6.000 Mark, und beide Male setzte Ganser für die Ermittlung der Täter eine Belohnung von 2.000 Mark aus, doch die Diebe konnten offenbar nicht ermittelt werden.

Diebstahl von Textilware in großem Stil hatte offenbar Konjunktur, denn ebenfalls im August gelangten Diebe in das Kaufhaus Biebler, wo sie Stoffe stahlen – der Abtransport erfolgte in acht Koffern aus dem Sortiment des Kaufhauses. Der Schaden wurde auf 70.000 Mark beziffert, und Biebler bot als Belohnung 2.000 Mark für die Ermittlung der Täter und 10 Prozent des Warenwertes bei Wiederbeschaffung. Zumindest einen erheblichen Teil der Summe wird er bezahlt haben, denn die Diebe wurden gefasst und ein Großteil der Beute (darunter fünf der Koffer) sichergestellt (BZ vom 23. August und 4. September).

Bergedorfer Zeitung, 5. Oktober 1920

Gewichtiger war der Schaden, der der Zuckerraffinerie Milde & Hell (siehe den Beitrag Der Kamp – Bergedorfs Industriegebiet) kurz nach dem zweiten Einbruch bei Ganser entstand: ihr wurden nächtens 18 Doppelzentner Zucker gestohlen, was logistisch herausfordernd gewesen sein dürfte. Der Schaden wird auch hier mehrere tausend Mark betragen haben (Fabrikpreis für Zucker von 275 Mark pro Zentner laut BZ vom 1. Oktober). Die ausgesetzte Belohnung musste vermutlich teilweise gezahlt werden, denn die Diebe wurden verhaftet und acht Doppelzentner Zucker kehrten zurück (BZ vom 25. Oktober).

Bergedorfer Zeitung, 30. Oktober 1920

In keinem dieser (und anderer) Fälle steht fest, dass tatsächlich die Belohnungen zur Ergreifung der Täter geführt hatten. Es könnten auch Ermittlungserfolge der Polizei gewesen sein, doch das Vertrauen in die örtlichen Ordnungshüter war offenbar gering: mit der nebenstehenden Anzeige wurden die Geschäftsinhaber aufgerufen, sich in einem „Selbstschutz“ mit bewaffneten nächtlichen Streifengängen zu organisieren (siehe auch BZ vom 27. Oktober). Bis zum Jahresende wurde das Tätigwerden dieser Einrichtung allerdings nicht gemeldet: vielleicht war die Lage doch nicht so schlimm.

 

Veröffentlicht unter Bergedorf 1920 | Schreib einen Kommentar

Die Klassengesellschaft auf dem Bergedorfer Friedhof

Bergedorfer Zeitung, 2. Oktober 1920

Ein „Waldgrab“ kostete 1920 auf dem Bergedorfer Friedhof 800 Mark pro Grabstelle; ein Grab „in bevorzugter Lage“ kam mit 400 Mark deutlich günstiger, andere Gräber kosteten 300 Mark. Für weniger Wohlhabende gab es die Möglichkeit, zu geringeren Gebühren auf 25 bzw. 50 Jahre zu pachten; für ein „allgemeines“ Grab, also eines der untersten Kategorie, waren keine Grabstellengebühren zu entrichten. Der Anstieg der Gebühren war rasant: 1917 hatte man ein Waldgrab auf Friedhofsdauer noch für 150 Mark erwerben können (BZ vom 28. Januar 1918 und 31. März 1920).

„Allgemeine“ Gräber in der Tradition der Armenfriedhöfe waren von diesen Gebühren befreit, aber nicht völlig kostenfrei: in jedem Falle musste eine Gebühr für die Grabherstellung entrichtet werden, und hier gab es Streit: wegen der um über vierzig Prozent gestiegenen Löhne für die Friedhofsarbeiter forderte der Magistrat eine Heraufsetzung dieser Gebühren, nämlich in allen Kategorien gleich um fünfzig Prozent, aber das stieß auf Widerspruch bei der sozialdemokratischen Fraktion: sie wollte „eine Aenderung, die der Allgemeinheit mehr dienen werde“, nämlich in der untersten Kategorie eine geringere Erhöhung um ein Drittel, dafür in den beiden höchsten Stufen eine Verdopplung bzw. Verdreifachung, und so wurde dann beschlossen.

Die Klassenunterschiede bestanden nicht nur fort – sie hatten sich verschärft.

Veröffentlicht unter Bergedorf 1920 | Schreib einen Kommentar

Glänzende Werbung für Schuhpflege

BZ, 22. September 1920

BZ, 20. Oktober 1920

Die Bergedorfer Zeitung wird sich über diesen Anzeigenkunden, der schon im Vorjahr sporadisch inseriert hatte, gefreut haben: von April bis Oktober schaltete ein Mainzer Schuhputzmittelhersteller über 20 Anzeigen, die in der Bleiwüste der BZ deutlich herausstachen: immer mit einem „schwarzen Mann“, mit zehn verschiedenen Motiven und ebenso verschiedenen Reimen, über deren literarischen Wert hier nicht zu richten ist.

 

Man könnte fast glauben, die britische Komikertruppe Monty Python hätte diese Werbung vor Augen gehabt, als ihr die Idee zum Sketch Ministry of Silly Walks kam, allerdings ohne den Aspekt des gepflegten und geputzten Schuhs in den Vordergrund zu stellen, doch ebenfalls mit manch merkwürdiger Fortbewegungsart.

BZ, 7. September 1920

BZ, 28. September 1920

Die Firma Erdal gehörte jedenfalls zu den frühen „Markenherstellern“, die nicht den lokalen Markt rund um die Fabrik, sondern ganz Deutschland als Absatzgebiet erschließen wollte, und das erforderte Werbekampagnen ähnlich der im Beitrag zu Kukirol geschilderten. Ein anderer Schuhpflegemittelproduzent inserierte 1920 nur zweimal in der BZ, am 1. und 8. Dezember: Marktführer wird sein „Immalin“ damit in Bergedorf nicht geworden sein.

 

Nach dem Ende dieser Kampagne kehrte Erdal zu einem schon vorher verwendeten Motiv zurück, dem des gekrönten Frosches.

Veröffentlicht unter Bergedorf 1920 | Schreib einen Kommentar

Die Verschärfung der Straßenpolizei-Ordnung

Bergedorfer Zeitung, 23. September 1920

Unstreitig war, dass die Kinderpflegerin E. mit ihrem „kleinen Handwagen“ den Knickweg (heute Vinhagenweg) benutzt hatte – aber durfte sie das? Nach Ansicht der Bergedorfer Ordnungspolizei durfte sie das nicht und sie bekam deshalb eine Strafverfügung über 5 Mark aufgebrummt. Das Schöffengericht sprach die Frau aber frei, denn nach der örtlichen Straßenordnung war das nicht verboten.

Aber irrte da nicht das Gericht? Bereits Monate vorher, am 15. Juli, hatten Magistrat und Bürgervertretung die  Straßenpolizei-Ordnung für die Stadt Bergedorf vom 20. Dezember 1894 geändert und in § 44a genau solches Handeln untersagt (und in einem anderen Paragraphen den Straßenhandel reguliert).

(Freunde und Freundinnen des heute absurd Anmutenden können die Straßenpolizei-Ordnung in den Gesetzen und Verordnungen für die Stadt Bergedorf online, S. 88 ff., einsehen.)

Bergedorfer Zeitung, 28. September 1920 (Auszug aus der Bekanntmachung des Magistrats)

Um Rechtswirkung zu erlangen, muss eine Vorschrift aber amtlich bekanntgemacht werden, und das war offenbar unterblieben: erst drei Tage nach dem Bericht über den Freispruch erfolgte in der BZ die Bekanntmachung der Änderungen, mit dem Datum des 25. Septembers.

Irgendwie hatten also alle recht: der Polizist, der den geänderten Paragraphen kannte und durchsetzte – die Frau, die die Vorschrift nicht kennen konnte und sich rechtlich wehrte – das Gericht, weil die Regelung mangels Bekanntmachung nicht in Kraft getreten sein konnte. Was aber die Stadtväter zu ihrem Beschluss veranlasst hatte, bleibt unklar. Zumindest Kinderwagen, die ihrem eigentlichen Nutzungszweck entsprechend durch das Gehölz und die öffentlichen Anlagen geschoben wurden, waren von dem Verbot nicht betroffen. Die Mütter bzw. Kindermädchen wird es erfreut haben.

Bergedorfer Gehölz (Ansichtskarte, undatiert)

Veröffentlicht unter Bergedorf 1920 | Schreib einen Kommentar

Der verschlammte Blickgraben

BZ, 15. September 1920

Die Bekanntmachung des Magistrats ließ sicher eine Reihe von Bewohnern der Bergedorfer Altstadt aufstöhnen: die Anlieger des den historischen Kern der Stadt umgebenden Blickgrabens wurden aufgefordert, den Graben wieder auf die vorgeschriebene Tiefe zu bringen.

Die Rechtsgrundlage war eine Verordnung von 1852, die also den Wechsel von der beiderstädtischen zur hamburgischen Verwaltung ebenso überdauert hatte wie die Reichsgründung, den Weltkrieg und die Revolution.

undatierte Ansichtskarte, frühes 20. Jahrhundert

In der Zeit vom 20. bis 25. September sollten die Arbeiten durchgeführt werden, denn so lange wurde kein Wasser in den Blickgraben eingeleitet, was nicht nur die Ausbaggerung per Schaufel und Eimer erleichterte, sondern auch die Kontrolle durch die Stadt ermöglichte.

Bergedorfer Zeitung, 18. September 1920

 

In so einer Situation ruft der Bürger gern nach der öffentlichen Hand: sie solle die beschwerliche Aufgabe übernehmen, zumal es ja überwiegend nicht die Anlieger seien, die das Gewässer verschmutzten. Sie könne doch die „vielen beschäftigungslosen jungen Burschen“ einsetzen, deren Arbeitslosenunterstützung nur etwas aufgestockt werden müsse. Die BZ unterstützte dies in einem Artikel vom 1. Oktober, in dem es hieß, dass diese Bürgerpflicht „nach Ansicht der davon Betroffenen unserem republikanischen Zeitalter durchaus nicht mehr angepaßt ist und daher auf Kosten der Allgemeinheit ausgeführt werden sollte.“

An dieser Entlastung der Grundeigentümer hatte die Stadtverwaltung kein Interesse, was nicht wirklich überrascht. Immerhin gewährte sie eine Fristverlängerung bis zum Monatsende (Bekanntmachung in der BZ vom 25. September), was an den zu entsorgenden Mengen an „Schlamm usw.“ gelegen haben mag, denn die turnusmäßige Reinigung war wegen des Weltkriegs unterblieben.

Veröffentlicht unter Bergedorf 1920 | Schreib einen Kommentar

Berufsberatung in Schieflage

BZ, 15. September 1920

Im Prinzip begrüßenswert: das Arbeitsamt Bergedorf-Sande bot Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung an – die Einrichtung zeigte allerdings eine bemerkenswerte Schieflage, die wohl die gesellschaftliche und wirtschaftliche Realität von 1920 widerspiegelt: die „männliche Abteilung“ bot für ihre Klienten nach Berufen differenziert vier Termine à zwei Stunden an, für die Klientinnen der „weiblichen Abteilung“ gab es nur (ohne Differenzierung) die Hälfte der Zeit und der Termine.

Das Amt rechnete offenbar nicht mit allzu großem Andrang von Eltern mit Töchtern, was als Indiz dafür gelten kann, dass nur relativ wenige Mädchen eine Ausbildung machten; ein Teil wird Beschäftigung als anzulernende Arbeiterin oder Verkäuferin gesucht haben, ein nennenswerter weiterer Teil wird „in Stellung“ gegangen sein, d.h. als Dienstmädchen in einem bürgerlichen oder bäuerlichen Haushalt eine Anstellung gesucht haben. Die rechtliche Lage der Dienstmädchen hatte sich zwar gegenüber 1918 etwas gebessert (siehe den Beitrag Fortschritt 1919: Vom „Dienstmädchen“ zur „Hausangestellten“), doch waren diese Tätigkeiten eher alternativlos als beliebt, woran idealisierende Darstellungen wie die des Bergedorfer Hausfrauenvereins, es handle sich um ein „sehr dankbares Feld der Betätigung“ (BZ vom 21. Januar) nichts geändert haben werden.

BZ, 15. September 1920

Im September gab es immer wieder entsprechende Stellengesuche von Mädchen, es existierte offenbar auch eine private Stellenvermittlerin für „Köchinnen, Land- und Kleinmädchen“ (BZ vom 16. September). Ebenso wurden solche Stellen angeboten, teilweise mit dem Zusatz „mindestens 18 Jahre“ (BZ vom 1. und 13. September), damit man die „Hausfrauenhilfe“ nicht für die Fortbildungsschule freistellen musste.

Zwar waren gelegentlich Stellengesuche zu finden, bei denen nicht der Haushalt im Vordergrund stand, sondern das Erlernen der Schneiderei (BZ vom 1. und 2. September), doch wird es sich hierbei nicht um eine Lehrstelle im engeren Sinne gehandelt haben. Ein einziges Mal im September gab es eine Anzeige eines „jungen Mädchens mit guter Handschrift“, das „Stellung im Geschäft oder Kontor“ suchte (BZ vom 21. September) und damit aus dem Rahmen fiel.

So genügte der „Berufsberatung und Stellenvermittlung“ für die weibliche Jugend eine undifferenzierte Sammelabfertigung, während die Jungen berufsspezifische Beratungszeiten erhielten. Schieflage eben.

Veröffentlicht unter Bergedorf 1920 | Schreib einen Kommentar