Musste man Gedankenleser sein, um zu erkennen, was Herr José Sibian bei seinem Gastauftritt im Union-Theater präsentieren wollte? Nein – es genügte, zu den Lesern der Bergedorfer Zeitung zu gehören, denn diesen waren der Name und die Kunst des Herrn seit knapp einer Woche bekannt: José Sibian war Telepath. Also er war es, der Gedanken lesen musste und – glaubt man dem Bericht vom Vortag – dieses auch konnte.
An diesem Sonntag vor seiner Präsentation im Union-Theater hatte Sibian mit seinem „Stadtexperiment“ für einen großen Auflauf gesorgt, der Markt war „schwarz voll Menschen“, die allerdings wenig zu sehen bekamen. Der Redakteur der BZ war mächtig beeindruckt von dem Experiment, an dem er als Beobachter teilgenommen zu haben scheint: Sibian musste auf einer Rundtour durch Bergedorf eine Reihe von Aufgaben erledigen, von denen Skeptiker sagen würden, dass wohl geschummelt wurde dabei: vermutlich hätte alles nicht geklappt, wenn zur angeblichen Telepathie nicht noch der Handgelenks-Kontakt zu den drei „Unparteiischen“ gekommen wäre, und es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass gerade das Union-Kino (und nicht etwa das Hansa-Kino) für eine Reihe telepathischer Höchstleistungen aufzusuchen war, darunter der fingierte Diebstahl von Kinokarten.
Die Werbeanzeigen in der BZ für José Sibian waren zunächst groß, aber die erhoffte Teilnehmerzahl bei den Vorführungen wohl nicht, denn die Annonce, die seinen letzten Bergedorfer Auftritt fünf Tage später ankündigten, war eher zu einer Kleinanzeige geschrumpft. Vielleicht hatte der Künstler aber die Gedanken der Bergedorfer gelesen und gefolgert, dass auch das kostensparendere Format ihm und dem Kinobetreiber ausreichend Besuch bescheren würde.