Carls Salchows Jubiläum und Wolfgang Borcherts Stuhl

Bergedorfer Zeitung, 28. September 1921

Bergedorfer Zeitung, 5. Oktober 1921

Die (Kirchen-)Gemeinde lud ein, und viele Menschen kamen, um das 25jährige „Ortsjubiläum“ von Carl Salchow zu feiern, ihn als den Leiter der Kirchenschule und Organisten der Gemeinde zu ehren.

BZ, 4. Oktober 1921

Ihm wurden „wertvolle Geschenke“ überreicht, die ein heutiger Lehrer nach den einschlägigen Vorschriften nicht hätte annehmen dürfen. Der Beschenkte bedankte sich artig per Kleinanzeige „für die zahlreichen Beweise der Liebe und Anerkennung“.

Salchow war 1896 von der Altengammer Schule an die Kirchenschule in Kirchwärder gewechselt. Im Leben der Gemeinde war er als Hauptlehrer (d.h. Rektor) und als Organist sicher eine wichtige Persönlichkeit, doch wäre er heute wohl völlig vergessen, wenn nicht eines seiner Kinder, die Tochter Herta, einen bedeutenden Sohn zur Welt gebracht hätte: Wolfgang Borchert, dessen Geburtstag sich am 20. Mai 2021 zum hundertsten Mal jährte.

Aufnahme aus Sammlung Walter Eggers, jetzt im Borchert-Archiv der Staats- und Unversitätsbibliothek Hamburg

Das nebenstehende Foto zeigt Carl Salchow als gewichtigen Herrn links hinter seinen Schülerinnen und Schülern, zusammen mit jungen Hilfslehrern und einer Hilfslehrerin. Einer der Hilfslehrer könnte Fritz Borchert gewesen sein, der spätere Ehemann Herta Salchows – leider ist die Fotografie undatiert, sodass dies nicht sicher ist. Herta und Fritz Borchert heirateten 1914 und zogen nach Eppendorf, wo auch ihr Sohn Wolfgang geboren wurde.

Die Familie Borchert zog in ein künstlerisch-städtisches Milieu, in dem Herta zu schreiben begann. Viele Geschichten in ihrem heimatlichen „Veerlanner Platt“ entstanden und wurden u.a. unter dem Titel Sünnroos im Quickborn-Verlag veröffentlicht. Ihr Roman Barber Wulfen wurde erst posthum gedruckt.

Nach dem frühen Tod ihres Sohnes pflegte Herta Borchert vor allem den Nachlass ihres Sohnes, den sie 1976 als Wolfgang-Borchert-Archiv der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg übergab. Zu diesem Archiv gehört auch Wolfgang Borcherts Arbeitszimmer, das die Stabi in diesem Jahr in einer „Borchert-Box“ (Online-Link) auch via Internet öffentlich zugänglich gemacht hat.

Foto: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg

In diesem Raum stehen mehrere Objekte mit traditionellen Vierländer Intarsienarbeiten, unter anderem der Stuhl vor Wolfgang Borcherts Schreibtisch. Die Intarsie in der Lehne des Stuhls zeigt den Buchstaben S – vermutlich stammt der Stuhl aus dem Hause Carl und Luise Salchow, aber der Stuhl wird nicht zu den Geschenken zum „Ortsjubiläum“ gehört haben – nach Einschätzung des Kirchwerder Intarsientischlermeisters Rainer Burmester ist das Möbelstück älter.

Anmerkungen:

Die Schreibweise des Vornamens Herta folgt hier der eigenhändigen Eintragung Herta Salchows in einem Poesiealbum von 1909, das der langjährige Besitzer Walter Eggers kürzlich (ebenso wie das Foto) der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg übergeben hat und das nun im Borchert-Archiv das älteste Hand-Schriftzeugnis der späteren Autorin ist.

In diesem Archiv befindet sich auch eine Broschüre von Ada-Verena Gass zu Ursprüngen und Entwicklungen der Familie (als Privatdruck erschienen), die auf den unveröffentlichten Erinnerungen Herta Borcherts „Vergangenes Leben“ (in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nachlass- und Autographensammlung) basiert und auf die hier im Blog-Beitrag mehrfach Bezug genommen wurde.

UPDATE 19. Oktober 2021:
Die Hafenfähre Wolfgang Borchert der Hamburger HADAG ist seit heute „schwimmende Ausstellungsdependance“ der Borchert-Box der Stabi, und auch hier gibt es einen Bezug zu Kirchwerder:  die „Wolfgang Borchert“ wurde zwar 1993 beim Oortkaten gebaut, aber die Werft von Heinrich Grube war ursprünglich in Kirchwerder ansässig.

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Kartoffelfeuer und Leuchtfeuer

Bergedorfer Zeitung, 28. September 1921

Die Zeit der Kartoffelernte ist auch die Zeit der Kartoffelfeuer. In früherer Zeit war es bei Landwirten wie bei Kleingärtnern gang und gäbe, Kartoffelkraut zu verbrennen. Das waren keine „mystischen Opferfeuer“, sondern die Verbrennung diente ganz banal dem Zweck, die Übertragung von Kartoffelkrankheiten zu verhindern.

Der Artikel zeigt, dass der Kartoffelanbau damals in den Vierlanden weit verbreitet gewesen sein muss, da man von der Höhe der Wentorfer Straße aus „bis zum fernen Horizont hin“ die Feuer sehen konnte, hinter denen auf dem Gojenberg, der damals ein Revier der Kleingärtner war. Und man konnte nicht nur die Feuer sehen, sondern auch die dichten Rauchschwaden, die diesen entstiegen, denn Kartoffelkraut entwickelt beim Verbrennen vor allem Qualm – und beißenden Geruch, der bis in die Wohnungen in den Außenbezirken stieg. Pottdicht wie heute waren Fenster damals eben nicht.

Bergedorfer Zeitung, 30. September 1921

Anderer Art waren die 1913/1914 gebauten Leuchtfeuer an der Elbe, die wegen des Krieges „gelöscht“ worden waren. Jetzt, mehr als zweieinhalb Jahre nach Kriegsende, sollten sie wieder in Betrieb genommen wurden – bis dahin hatten sie also nur wenige Monate ihrem Zweck dienen können. Sie werden mit Sicherheit mehr Licht als Rauch entwickelt haben, denn sie sollten den Schiffsverkehr in der Dunkelheit wieder sicherer machen. Von den genannten Feuern an der Norderelbe ist heute nur noch das auf der Bunthäuser Spitze vorhanden – die anderen Anlagen (Ortkathen und Spadenland in den Marschlanden) wurden vermutlich im Zuge des Deichbaus nach der Sturmflut von 1962 beseitigt. An den Vierländer Deichen scheint es vergleichbare Einrichtungen nicht gegeben zu haben.

Die vorstehenden Informationen sind einer informativen Internetseite bei web.archive.org entnommen, die Fotos der Marschländer Leuchtfeuer zeigt, vor allem zu der einzig erhaltenen Anlage auf der Bunthäuser Spitze. Sie wurde zwar wie die anderen 1977 offiziell stillgelegt (und durch Radartonnen und -reflektoren ersetzt), aber 1989 renoviert. Heute ist sie ein beliebtes und besteigbares Ausflugsziel.

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Hermann Distels Kriegergedächtnismal für Kirchwärder

Bergedorfer Zeitung, 26. September 1921

Die Denkmal-Weihe in Kirchwärder war sicher für lange Zeit das größte Ereignis im Dorfe: mehr als die Hälfte der Einwohner nahm an der Feier teil. Pastor Graus Rede war weit mehr als Gedenken an die Gefallenen und Zuspruch für die Hinterbliebenen, sie war durchaus politisch.

Mit Kirchwärder hatte nun auch die letzte der Vierländer Gemeinden nach dem Kriege ein Denkmal errichtet (in Bergedorf sollte es noch länger dauern), aber es war auch das aufwändigste, dessen Kosten bereits ein Jahr zuvor auf 50.000 Mark geschätzt worden waren (BZ vom 23. September 1920). Ob die Gestaltung wirklich „im hamburgischen Staatsgebiet erstmalig“ war, muss zumindest in Frage gestellt werden, denn die bescheidenere Altengammer Anlage von 1920 weist mit einem ebenfalls nach innen gewendeten Raum Ähnlichkeiten auf. Der Entwurf des Bergedorfer Architekten Hermann Distel für Kirchwärder bezieht aber explizit die umgebende Landschaft mit ein, wie aus der Abbildung unten hervorgeht.

Entwurf des Denkmals, Ansichtskarte von ca. 1921

Die Grundstruktur der Distelschen Anlage blieb bis heute erhalten, obwohl das Denkmal durch Hinzufügung weiterer Tafeln mit den Namen der Gefallenen des Zweiten Weltkriegs verändert wurde – die ursprüngliche Inschrift auf der Steinsäule lautete: „Aus der Kirchengemeinde Kirchwärder nahmen 1352 Männer am Weltkriege teil. 236 ließen ihr Leben für Heimat und Vaterland.“  Dieser Text wurde nach 1945 ersetzt durch: „Die Gemeinde Kirchwerder ihren Opfern beider Weltkriege“ (nach Online-Link Kerstin Klingel, S. 95).

Das im Artikel abschließend genannte Ehrenbuch liegt auch heute noch in der Kirche aus. Es ist in einem sehr guten Zustand, im Gegensatz zu den teilweise stark verwitterten Sandsteintafeln des Denkmals.

Ergänzung 2024: Der Förderverein der Kirchengemeinde hat das Ehrenbuch mit der Liste der Kriegsteilnehmer, dem angehängten Teil „Schule und Weltkrieg“ und einordnenden Anmerkungen dazu jetzt reproduzieren lassen. Es kann zum Preis von € 30,- bestellt werden beim
Förderverein St. Severini zu Kirchwerder
Kirchengemeinde Kirchwerder
Fersenweg 537
21037 Hamburg .

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Die Pferdeschwemme wird beseitigt

Bergedorfer Zeitung, 22. September 1921

Im Zuge der Verbreiterung der Mühlenbrücke an der Holstenstraße sollte ein aus dem Mittelalter stammendes Relikt beseitigt werden: die Pferdeschwemme, d.h. ein (vermutlich gepflasterter) Zugang zum Billebecken, über den Pferde zum Tränken oder auch zum Reinigen ans und ins Wasser geführt werden konnten.

Diese Vorrichtung hatte laut BZ „ihre Existenzberechtigung verloren“, musste „dem sich mit Macht bahnbrechenden Verkehr weichen“ – daraus ist zu folgern, dass Motorfahrzeuge einen immer größeren Teil des Verkehrsaufkommens stellten; landwirtschaftlichen Verkehr mit Pferdegespannen gab es offenbar kaum noch.

Die Kartenausschnitte im Beitrag Die Insel am Mühlendamm (Holstenstraße) lassen den Ort der Pferdeschwemme gut erkennen: sie lag am keilförmigen Zipfel im Südosten des Billbassins, das heute meist als Schlossteich bezeichnet wird. (Auf derselben Seite unten zeigt eine Ansichtskarte die Mühlenbrücke vor der Verbreiterung, als das Wasser noch bis unmittelbar an die Brücke ging.)

Man konnte aber nicht einfach die Pferdeschwemme zuschütten, denn über diesen Zipfel erhielt die Kornwassermühle den benötigten Zufluss, sodass hier zunächst eine 24 Meter lange Verrohrung gelegt werden musste, was zu den geplanten Gesamtkosten von 291.000 Mark (BZ vom 4. Juli) sicher beträchtlich beigetragen hat.

Der Straßenzug Holstenstraße – Große Straße – Sachsenstraße mit Serrahnbrücke und Mühlenbrücke war damals die Hauptschlagader des West-Ost-Verkehrs durch Bergedorf. Heute ist sie eine Fußgängerzone mit Radfahrstreifen und einer gepflasterten „Fahrbahn“, die an die früheren Verhältnisse erinnern soll. Sie folgt aber nicht dem historischen Verlauf, denn bis 1921 bot der „Bürgersteig“ vor dem Hause Röhmer (heute Alte Holstenstraße 84) „nur Platz für einen Fußgänger“,  von den Baumaßnahmen des Jahres profitierte er mit einer Ausdehnung auf zwei Meter.

 

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Das Bootshaus der Ruderer und die Tombola

Bergedorfer Zeitung, 15. September 1921

Ein ganzes Wochenende lang wollte der Bergedorfer Ruder-Klub sein Münchener Oktoberfest im und am vornehmsten Bergedorfer Lokal „Bellevue“ feiern, und für Attraktionen war gesorgt, wie die Anzeige belegt. Zu den „ersten Hamburger Künstlern“ dabei zählten der Rezitator und Autor Arnold Risch und „das kleinste Tänzerpaar der Jetztzeit, Heinz und Helga Paul“, wie es im redaktionellen Teil der BZ hieß (BZ vom 29. September).

Sicher war einer der Hauptzwecke der Veranstaltung die große Tombola „zugunsten des Bootshausbaus“. Dieses im Frühjahr 1921 errichtete Vereinshaus mit Versammlungs-, Ankleide- und Waschraum bot Platz für 30 Boote und war mehr als ein Ersatz für das alte, baufällige Bootslager. Der Neubau entstand an der Eisenbahnbrücke über den Schleusengraben (BZ vom 2. November 1920 und 25. Mai 1921), ebenso zentrums- wie wassernah.

Die Vereinskasse war dadurch offenbar stark beansprucht worden, und wenn die Tombolapreise im Wert von 10.000 Mark über Sachspenden hereinkamen, konnte mit einem Erlös von 30.000 Mark gerechnet werden, denn 10.000 Lose sollten zu je drei Mark verkauft werden (BZ vom 24. Oktober 1921).

Bergedorfer Zeitung, 14. Oktober 1921

Die für den 9. Oktober vorgesehene Ziehung wurde „umständehalber“ um zwei Wochen verschoben (BZ vom 8. Oktober 1921) – diese nicht näher bezeichneten Umstände lagen offenbar in einem eher schleppenden Losverkauf, denn es wurde weiter für den Kauf geworben. Vielleicht waren ja die in einem Schaufenster ausgestellten 300 Gewinne nicht attraktiv genug.

 

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Höhere Schule für Töchter – oder Schule für höhere Töchter?

Bergedorfer Zeitung, 19. September 1921

Das erst ein halbes Jahr bestehende staatliche Lyzeum in Bergedorf hatte sichtlich Probleme, die offenbar durch Reduzierung der Anforderungen gelöst werden sollten.

Manches ist unklar: waren die Anforderungen nach der Verstaatlichung der Luisenschule gestiegen, und welche Bedeutung kam dabei gegebenenfalls der neuen Schulleiterin Frl. Popkes (nicht Poppkes, wie sie im Artikel genannt wird) und welche der Oberschulbehörde zu? Oder war eine größere Anzahl der Schülerinnen, die im Frühjahr dorthin von der Stadtschule zum Erwerb „höherer Bildung“ gewechselt waren, überfordert? Oder wollte man den „höheren Töchtern“ aus den bürgerlichen Haushalten, der traditionellen Klientel von Luisen- und Elisabethschule, den „Abstieg“ in die Stadtschule ersparen, wo sie mit Kindern aus Arbeiterfamilien hätten lernen müssen?

Die Einrichtung eines „deutschen Zuges“ sollte jedenfalls dem Zweck dienen, die Schülerinnenzahl nicht absinken zu lassen: man wollte auch diejenigen halten, die „voraussichtlich das Ziel der Lyzealausbildung“, also die höhere Bildung, verfehlen würden.

Bergedorfer Zeitung, 30. September 1921

Man kann davon ausgehen, dass die Bürgertöchter an der Luisenschule weitgehend unter sich blieben, denn für das Lyzeum war ebenso wie für das Gymnasium für die Söhne Schulgeld zu zahlen. Das Schulgeld wurde zwar nach Einkommen der Eltern gestaffelt, und wie der nebenstehende Artikel zeigt, war auch ein völliger Erlass möglich, doch mussten Bücher etc. im Gegensatz zu den Stadtschulen weiter privat beschafft und finanziert werden.

Bei außerhamburgischen Schülern wurde auf die Höhe des Elterneinkommens weniger Rücksicht genommen, was Eltern aus Sande, das keine höheren Schulen hatte, verärgert haben dürfte.

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SMS und Messenger-Apps: Telekommunikation 1921

Bergedorfer Zeitung, 7. September 1921

Kein Netz – das verhindert heute manchmal das Telefonieren und Versenden von Mitteilungen.

Vor einhundert Jahren war es anders: Mobiltelefone gab es nicht, man musste einen Festnetzanschluss haben. Die Bergedorfer konnten auch nicht einfach eine Nummer wählen, sondern sie bedurften der Hilfe der Telefonvermittlung, die die erforderlichen Strippen zog und einstöpselte. Und man durfte nicht zu lange die Leitung beanspruchen: nach 15 Minuten konnte das Fräulein vom Amt in der Vermittlungsstelle den Stecker ziehen, um ungebührlich lange „Plaudereien“ zu beenden, damit auch andere Teilnehmer die Chance erhielten, jemanden anzurufen.

Bergedorfer Zeitung, 8. September 1921

Wer kein Telefon besaß, konnte diesen Kommunikationsweg nutzen, indem er eine öffentliche Fernsprechstelle aufsuchte, die er zumeist in einem Laden oder einer Gastwirtschaft fand (BZ vom 25. Juni). Außerdem sollten „gemeindliche öffentliche Fernsprechstellen“ geschaffen werden, deren Betreiber durchaus mobil sein mussten: sie sollten angerufene Teilnehmer an das fest verkabelte Gerät holen, Telegramme annehmen und im Ort zustellen sowie auch „kurze Nachrichten von auswärts an Ortseinwohner … übermitteln“ (Messenger im wörtlichen Sinne) – letzteres hieß damals nicht Sprachnachricht oder SMS, sondern N-Gespräch (BZ vom 14. September).

Ob dies für die ländlichen Gemeinden attraktiv war, kann bezweifelt werden: sie mussten nicht nur eine Mindesteinnahme garantieren, sondern auch den „Dienstleister“, also den Telefon- und Telegrammboten, bezahlen, der wiederum nur die amtlich festgesetzten Gebühren verlangen durfte.

Auf alle Regelungen der 31 Seiten langen Fernsprechordnung einzugehen sprengt den Rahmen des Blogs. Wer alles wissen möchte, sei auf das Reichsgesetzblatt des Jahres verwiesen, in dem auch alle Gebühren aufgeführt sind, die 1921 gleich zweimal erhöht wurden und sich dann auf das fünfzehnfache der „Friedensgebühren“ beliefen (BZ vom 13. Dezember). Zudem gab es durch die Abschaffung der Pauschalzahlung und die Einführung eines Drei-Minuten-Zeittakts einen Anreiz, sich kürzer zu fassen.

Ein mit der Gebührenerhöhung verbundenes Problem löste die Telegraphenverwaltung auf elegante Weise: die (auch in Bergedorf vorhandenen) Münzfernsprecher wurden umgestellt auf spezielle „Telefonmünzen“ (BZ vom 27. und 30. August), sodass nicht bei jedem weiteren Inflationsschub die Geräte umzustellen waren.

 

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Stimmung, Glücksspiel und Kinderquälerei auf dem Bergedorfer Jahrmarkt

Trotz sehr gemischten Wetters war auf dem Herbstmarkt in Bergedorf die Stimmung gut, offenbar besser als die objektive Lage – das Angebot der Schausteller erinnerte den Berichterstatter „allmählich wieder an die Vorkriegszeit“, eine Fülle von Lebensmitteln und Leckereien wurde angeboten, die Glücksbuden offerierten „wirklich wertvolles Haushaltsgerät“, es gab Karussells und Luftschaukeln, Konzert und Tanz, Ring- und Boxkämpfe sowie die „herkömmlichen Marktgenüsse“ Krebssuppe, Beefsteak und Aal – bei allerdings „zeitgemäßen Preisen“.

Bergedorfer Zeitung, 12. September 1921

Doch auch die Polizei musste einschreiten, um „Glücksspiele um eingesetzte Geldbeträge“ zu unterbinden. Der Autor hätte sich aber vor allem ein Vorgehen gegen die Kinderquälerei gewünscht, die er beobachtet hatte: ein Kleinkind musste immer wieder „allerlei Kunststückchen“ vor einer Schaubude vorführen und „verlangte sichtlich ins Bett, wohin es auch gehörte.“ Hoffentlich war der Journalist generell gegen solche Kinderarbeit und nicht nur gegen die abendliche Zeit der Vorführung.

Bergedorfer Zeitung, 13. September 1921

Offenbar wurden diese Zeilen auch von der Polizei gelesen, die am nächsten Tag tätig wurde, das Kind versorgte und dem Arbeiter-Samariter-Bund übergab, bei dem es erst einmal schlafen konnte. Was anschließend mit dem Kind geschah, war der Zeitung nicht zu entnehmen, doch der Verstoß gegen das Kinderschutzgesetz (§ 6) dürfte mit einem Strafbefehl geahndet worden sein, und das bedauernswerte Kind wird beim nächsten Jahrmarkt in einer anderen Stadt wieder gequält worden sein.

Von den ebenfalls polizeilich erfassten und angezeigten Glücksspiel-Anbietern ging zumindest einer gegen die Geldstrafe von 1.000 Mark vor, traf aber nicht auf einen gnädigen Richter: dieser bestätigte das Strafmaß und brummte ihm zusätzlich „wegen Ungebühr vor Gericht“ 100 Mark auf (BZ vom 19. November).

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Die Schande des politischen Mordes

Bergedorfer Zeitung, 1. September 1921

Bergedorfer Zeitung, 1. September 1921

Es ging den Demonstranten, die zu tausenden in Bergedorf und Sande auf die Straße gingen, um mehr als einen Protest gegen die Ermordung des Politikers Matthias Erzberger – sie sahen die Republik und die Demokratie in Gefahr. Zu der Kundgebung, die gleichzeitig in allen Orten Deutschlands stattfand, hatte die SPD aufgerufen, aber auch die KPD beteiligte sich, obgleich mit anderen Forderungen.

Geht man nach der BZ, verurteilten alle Parteien den Mord – aber dies geschah mit sehr unterschiedlichen Neben- und Zwischentönen: die DDP, in Hamburg wie in Bergedorf Partner der SPD, bekannte sich klar zur Regierung und zur Republik, die durch „wilde Agitation“ von rechts wie links bedroht sei: „Die Radikalen rechts und links verhindern den Wiederaufbau; sie zerbrechen unser Volk; sie treiben beide Klassenkampf.“ (BZ vom 2. September)

Bergedorfer Zeitung, 1. September 1921

Die Hamburger DVP hingegen beklagte die „unverantwortliche Art“, in der die Linksparteien angeblich den Mord instrumentalisierten, was die DVP zwang, wegen der unsicheren Lage ihre Erinnerungsfeier zu Tannenberg und Sedan zu verschieben, obwohl die Partei doch dadurch am „inneren Frieden“ mitwirken wollte.

Aus der DNVP Hamburg gab es in der BZ keine Reaktion auf das Verbrechen – man wird klammheimliche Freude unterstellen dürfen.

Die BZ immerhin hielt sich mit republik- und demokratiekritischen Bewertungen in diesen Tagen zurück, aber ohne sich zu der neuen Ordnung zu bekennen: „Ein neues Glied reiht sich damit an die Kette politischer Mordattentate, die wir seit Ende des Krieges erlebt haben. In die Trauer und den Abscheu über den feigen Meuchelmord mischt sich das tiefste Bedauern über die durch diese Tat erneute dokumentierte Sittenverwilderung und den moralischen Niedergang im deutschen Volke. Auch die schärfste politische Gegnerschaft darf niemals dazu führen, daß das Leben eines Menschen durch ein fluchwürdiges Verbrechen angetastet wird. …. Revolver und Dolch müssen endlich aufhören, im politischen Leben unseres Volkes eine Rolle zu spielen.“ (BZ vom 27. August)

Die Mörder Heinrich Tillessen und Heinrich Schulz, Angehörige der rechtsextremen Organisation Consul, wurden zwar schnell ermittelt (BZ vom 14. September), waren aber bereits nach Ungarn geflüchtet. Erst 1950 wurden sie wegen der Tat verurteilt.

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Eine Lobby für goldenen Boden

Bergedorfer Zeitung, 9. September 1921

Bergedorfs Handwerksbetriebe schlossen sich zusammen: sie gründeten den „Bergedorfer Handwerkerbund“, den man angesichts der genannten Tätigkeitsfelder als eine Lobby bezeichnen könnte – das Wort Lobby war 1921 allerdings höchst ungebräuchlich (siehe die Wortverlaufskurve im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache), und so ist die Bezeichnung Interessenverband angebrachter.

Assessor Nebelsiek von der Gewerbekammer Hamburg erwartete von der Gründung, dass die Bündelung der Interessen dem Handwerk „wieder einen ‚goldenen Boden‘ … verschaffen“ würde (BZ vom 8. August 1921), was angesichts der wirtschaftlichen Gesamtlage etwas vermessen anmutet – die meisten Handwerker wären mit einem festen Boden unter den Füßen sicher schon zufrieden gewesen, doch das Terrain blieb schwankend.

Dies war natürlich nicht der erste Zusammenschluss der Bergedorfer Handwerker, die bis 1864 in Zünften organisiert waren: bereits 1447 war das Amt der Schneider gegründet worden, dem erstaunlicherweise auch die Schmiede und Schuhmacher angehörten, weitere Zünfte folgten. Nach der Einführung der Gewerbefreiheit 1864 entfielen der Zunftzwang und jede Regelung der Handwerksausbildung. Es entstanden aber bald Innungen als Vereinigungen der Betriebe, die ab 1884 die Kontrolle über die Lehrlingsausbildung wiedererlangten (siehe hierzu Das Bergedorfer Handwerk, S. 13-42), und obwohl nach dem Weltkrieg die staatliche Fortbildungsschulpflicht eingeführt worden war, wurde in den Versammlungen der Handwerker mehrfach die Wichtigkeit von Ausbildungsfragen betont – ob es allerdings gelang, in Bergedorf „selbständige Einrichtungen zur Ablegung von Meister- und Gehilfenprüfungen usw.“ zu etablieren, ist unerforscht.

Der Handwerkerbund wurde 1934 im Zuge der nationalsozialistischen Gleichschaltung aufgelöst, nahm aber als „Bezirksmeisterversammlung“ schon im Oktober 1945 die Arbeit wieder auf (ebd., S. 29-30), und wenn sich die heutige Bezirkshandwerkerschaft Bergedorf in der Kontinuität des 1921 gegründeten Verbands sieht, könnte sie in diesem Jahr eine große Jubiläumsfeier veranstalten – wenn da nicht das Corona-Virus wäre …

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