Die (Kirchen-)Gemeinde lud ein, und viele Menschen kamen, um das 25jährige „Ortsjubiläum“ von Carl Salchow zu feiern, ihn als den Leiter der Kirchenschule und Organisten der Gemeinde zu ehren.
Ihm wurden „wertvolle Geschenke“ überreicht, die ein heutiger Lehrer nach den einschlägigen Vorschriften nicht hätte annehmen dürfen. Der Beschenkte bedankte sich artig per Kleinanzeige „für die zahlreichen Beweise der Liebe und Anerkennung“.
Salchow war 1896 von der Altengammer Schule an die Kirchenschule in Kirchwärder gewechselt. Im Leben der Gemeinde war er als Hauptlehrer (d.h. Rektor) und als Organist sicher eine wichtige Persönlichkeit, doch wäre er heute wohl völlig vergessen, wenn nicht eines seiner Kinder, die Tochter Herta, einen bedeutenden Sohn zur Welt gebracht hätte: Wolfgang Borchert, dessen Geburtstag sich am 20. Mai 2021 zum hundertsten Mal jährte.
Das nebenstehende Foto zeigt Carl Salchow als gewichtigen Herrn links hinter seinen Schülerinnen und Schülern, zusammen mit jungen Hilfslehrern und einer Hilfslehrerin. Einer der Hilfslehrer könnte Fritz Borchert gewesen sein, der spätere Ehemann Herta Salchows – leider ist die Fotografie undatiert, sodass dies nicht sicher ist. Herta und Fritz Borchert heirateten 1914 und zogen nach Eppendorf, wo auch ihr Sohn Wolfgang geboren wurde.
Die Familie Borchert zog in ein künstlerisch-städtisches Milieu, in dem Herta zu schreiben begann. Viele Geschichten in ihrem heimatlichen „Veerlanner Platt“ entstanden und wurden u.a. unter dem Titel Sünnroos im Quickborn-Verlag veröffentlicht. Ihr Roman Barber Wulfen wurde erst posthum gedruckt.
Nach dem frühen Tod ihres Sohnes pflegte Herta Borchert vor allem den Nachlass ihres Sohnes, den sie 1976 als Wolfgang-Borchert-Archiv der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg übergab. Zu diesem Archiv gehört auch Wolfgang Borcherts Arbeitszimmer, das die Stabi in diesem Jahr in einer „Borchert-Box“ (Online-Link) auch via Internet öffentlich zugänglich gemacht hat.
In diesem Raum stehen mehrere Objekte mit traditionellen Vierländer Intarsienarbeiten, unter anderem der Stuhl vor Wolfgang Borcherts Schreibtisch. Die Intarsie in der Lehne des Stuhls zeigt den Buchstaben S – vermutlich stammt der Stuhl aus dem Hause Carl und Luise Salchow, aber der Stuhl wird nicht zu den Geschenken zum „Ortsjubiläum“ gehört haben – nach Einschätzung des Kirchwerder Intarsientischlermeisters Rainer Burmester ist das Möbelstück älter.
Anmerkungen:
Die Schreibweise des Vornamens Herta folgt hier der eigenhändigen Eintragung Herta Salchows in einem Poesiealbum von 1909, das der langjährige Besitzer Walter Eggers kürzlich (ebenso wie das Foto) der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg übergeben hat und das nun im Borchert-Archiv das älteste Hand-Schriftzeugnis der späteren Autorin ist.
In diesem Archiv befindet sich auch eine Broschüre von Ada-Verena Gass zu Ursprüngen und Entwicklungen der Familie (als Privatdruck erschienen), die auf den unveröffentlichten Erinnerungen Herta Borcherts „Vergangenes Leben“ (in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nachlass- und Autographensammlung) basiert und auf die hier im Blog-Beitrag mehrfach Bezug genommen wurde.
UPDATE 19. Oktober 2021:
Die Hafenfähre Wolfgang Borchert der Hamburger HADAG ist seit heute „schwimmende Ausstellungsdependance“ der Borchert-Box der Stabi, und auch hier gibt es einen Bezug zu Kirchwerder: die „Wolfgang Borchert“ wurde zwar 1993 beim Oortkaten gebaut, aber die Werft von Heinrich Grube war ursprünglich in Kirchwerder ansässig.