Der neue Brückenschlag über die Bille

Bergedorfer Zeitung, 18. Juli 1922

Man kann den Leserbriefschreiber verstehen: wenn man wegen des Fehlens von Hinweisschildern auf eine Brückensperrung in eine Sackgasse hineinläuft, ist das schon ärgerlich. Überhaupt war diese Brückensperrung ärgerlich, denn die Anwohner und Besucher des Villenviertels mussten Umwege laufen, um zum Bahnhof zu gelangen. Die von „Kr.“ genannte „Fähre“ des an der Brücke gelegenen Schlosscafés war vermutlich ein Kahn, den der Wirt für das Übersetzen seiner Gäste bereithielt.

Der Wagenverkehr war schon 1917 von der baufälligen Billequerung verbannt worden (siehe BZ vom 8. November 1917 und den Beitrag über marode Brücken). Fußgänger mussten im Januar 1920 erfahren, dass sie nun auch nicht mehr die Brücke nutzen durften – immerhin gab es für sie ab April 1920 ein Provisorium (BZ vom 22. April 1920), das jetzt offenbar nicht mehr zur Verfügung stand; es war vermutlich im Zuge des Abrisses der alten Brücke im Frühjahr 1922 beseitigt worden.

Bergedorfer Zeitung, 28. Juli 1922

Die Stadt reagierte prompt auf diesen Leserbrief: „sobald als möglich“ sollte für Fußgänger wieder eine provisorische Brücke errichtet werden, und bis dahin sollte zumindest der Umweg durch den Schlosspark bei Dunkelheit beleuchtet werden – was nebenbei für Bürgermeister Wiesner den Vorteil hatte, dass sein täglicher Weg ins Büro im Schloss erhellt wurde.

Bergedorfer Zeitung, 2. August 1922

Die Laternen kamen also – doch nicht die Behelfsbrücke, denn sie war zu teuer. Bei hinreichendem Baufortschritt sollte aber Fußgängern die Nutzung der Brücke ermöglicht werden.

Bauarbeiten können sich bekanntlich in die Länge ziehen, und so inserierte Monate später der Wirt des Schlosscafés, dass er „wegen Sperrung der Brücke“ die Öffnungszeiten reduziere (BZ vom 18. November 1922), und im Dezember scheiterten zwei Polizisten an dieser Stelle: sie waren auf dem Westufer der Bille, ein mutmaßlicher Einbrecher auf dem Ostufer. „Um dorthin zu gelangen, mußten die Beamten, da die im Bau befindliche Brücke gesperrt ist, den Weg zurück und durch den Schloßgarten nehmen. Inzwischen hatte sich aber der verdächtige Nachtwandler aus dem Staube gemacht“. (BZ vom 12. Dezember 1922).

Ende Januar 1923 dann hieß es, dass in etwa vierzehn Tagen die Freigabe für Fußgänger erfolgen solle (BZ vom 27. Januar 1923), und einige Wochen später erwies es sich als segensreich, dass die Brücke noch nicht fertig war: auf der Brücke tätige Arbeiter bemerkten, dass ein Knabe in das Eis auf der Bille eingebrochen war, und sie retteten ihn (BZ vom 17. Februar 1923).

Am 15. März 1923 meldete die BZ dann die formelle Übergabe der Brücke an die Stadtverwaltung. Eine offizielle Einweihungsfeier nach Abschluss der noch ausstehenden Pflasterungsarbeiten an der östlichen Rampe scheint es nicht gegeben zu haben.

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Bismarck oder Bebel? Der Streit um die Straßennamen

Bergedorfer Zeitung, 22. Juli 1922

Die „Umbenennung der Straßen mit monarchistischen und militaristischen Bezeichnungen“ hatten die Bergedorfer Gewerkschaften nach der Ermordung des Außenministers Rathenau verlangt, und unter anderem diese Forderung brachte der Magistrat in die Bürgervertretung ein.

Die BZ berichtete ausführlich über die Debatte (Link zum Artikel), die (erneut) die tiefen Gräben zwischen den politischen Richtungen zeigte: die Rechte sah in dem Vorhaben „eine Sünde gegen den deutschen Geist“ (Clauß), Bürgervertreter Dröse (KPD) bezeichnete die Umbenennungen zwar als „kleinliche Mittel“, hielt sie aber für nötig und unterbreitete eigene Vorschläge für die neuen Namen. Für die SPD sagte Ratmann Petersen: „Wenn man ein Haus übernehme, so müsse man alles Morsche herausbringen.“ Ratmann Cohn (DDP) bezeichnete alles als „Bilderstürmerei“ und „kindliche Maßnahmen“, und sein Parteifreund Leonhardt meinte, man solle die alten Namen unangetastet lassen und nur neue Straßen mit neuen Namen versehen.

BZ, 5. August 1922

Mit knapper Mehrheit wurde dem Magistratsantrag zugestimmt, und somit erhielten vier Straßen und der Kaiser-Wilhelm-Platz neue Namen; eine Protestversammlung des Bergedorfer Bürgervereins und eine Unmutsbekundung der DDP konnten nichts daran ändern, desgleichen die DNVP-Forderung nach einer Volksabstimmung (BZ vom 21., 28. und 29. Juli), ein Einspruch aus Hamburg, wo es keine Umbenennungen gab, blieb aus, und so folgte die offizielle Bekanntmachung.

In den Straßen des Villenviertels wird nur eine Minderheit mit den neuen Anschriften einverstanden gewesen sein, und vielleicht war es als Protest zu verstehen, dass im August alle sechs Anzeigen aus den entsprechenden Straßen die alten Anschriften angaben, doch dann setzte die Umstellung ein: wer etwas verkaufen wollte oder ein Dienstmädchen suchte, wollte ja gefunden werden, und so verwendete man ab September Kombinationen wie „Bebel-(Bismarck)-Straße“ (15 Anzeigen). Ausschließlich der neue Name wurde bis Jahresende siebenmal angegeben.

Diejenigen, die sich besonders nach früheren Zeiten zurücksehnten, hielten aber über das Jahresende hinaus an ihren gewohnten und geschätzten Adressen fest.

Anmerkung:

Obwohl die „Denkmalsfrage“ im Zusammenhang mit der Straßenbenennung stand, wurde sie hier ausgeblendet – sie hat einen eigenen Beitrag verdient, der im Februar 2023 erscheinen soll.

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Der lange Weg zur Zwergschule

Bergedorfer Zeitung, 17. Juli 1922

Wenn eine Schule acht Jahrgänge, aber nur drei Klassenräume hat, von denen zwei zeitweise von der Fortbildungsschule benötigt werden, war die Unterrichtsorganisation für die acht Jahrgänge in fünf Klassen sicher schwierig. Eine Baracke mit zwei weiteren Klassenräumen sollte die Zwergschule in Billwärder (etwas) entlasten.

Für die Bedürfnisse der ländlichen Gemeinde Billwärder hätte das vorhandene Schulgebäude nach damaligen Maßstäben wohl ausgereicht, und „jahrgangsübergreifender Unterricht“ war in den kleinen Dorfschulen der Vierlande wie der Marschlande seit langem die Regel. Die Kinder der Neubausiedlungen Bojewiese und Nettelnburg hätten nun die Billwärder Dorfschule aus allen Nähten platzen lassen, und so musste eben die Baracke her.

Besonders für die Nettelnburger Kinder war der Schulweg aber beschwerlich: etwa 5,3 Kilometer waren zu Fuß zurückzulegen, auf ungepflasterten und großenteils unbeleuchteten Straßen bzw. Wegen – vor allem die Erstklässler werden schon erschöpft in der Schule angekommen sein. Der Weg zur Stadtschule in Bergedorf (Am Brink bzw. Brauerstraße) wäre nicht einmal halb so lang gewesen, doch Bergedorf war nicht zuständig: die Nettelnburg gehörte damals zu Billwärder. Laut Jochim Trede (S. 184) gingen Kinder „der ersten Siedler“ auch nach Allermöhe (Schule Allermöhe-Oberwärts, ca. 2,2 Kilometer) oder fuhren per Bahn ab Bergedorf nach Hamburg.

Im Artikel heißt es, dass „in absehbarer Zeit ein neues Schulhaus auf dem Gelände der Siedlung Nettelnburg“ errichtet werden sollte, doch erst Mitte 1928 konnte dieses Gebäude bezogen werden, wie Jochim Trede (ebd.) schreibt. Wie die weiter steigende Schülerzahl bis dahin bewältigt wurde, ist unerforscht.

 

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Die komischen Amerikaner

Bergedorfer Zeitung, 17. Juli 1922

Es gab sicher Nachholbedarf an amerikanischen Filmen bei den Kinofreunden, und so eroberten die klassischen Stummfilm-Komiker 1922 Bergedorf: Charlie Chaplin, Fatty Arbuckle und Harold Lloyd. Vor allem das Hansa-Kino zeigte immer wieder Chaplin-Filme, allein im zweiten Halbjahr 1922 waren es acht verschiedene; „Charlie klaut den Regenschirm“ wurde sogar wiederholt, zweimal gab es dort Fatty Arbuckle zu sehen. Das Thalia-Theater in Sande hatte vermutlich einen anderen Filmverleiher und konnte so exklusiv Harold Lloyd auf die Leinwand bringen, wie die Anzeigen in der BZ belegen. Abendfüllend war keiner dieser Filme, und so wurden sie mit anderen (meist deutschen) Filmen zusammen zur Aufführung gebracht. (Nebenbei bemerkt: Buster Keaton kam in einer Nebenrolle in Arbuckles „Der Koch“ zu seiner Bergedorf-Premiere).

Bergedorfer Zeitung, 27. Juli 1922

Warum das Hansa-Kino für den Film „Der rote Handschuh“ mit dem Bild von Pferd und Reiterin auf einem verwegenen Ritt warb, lässt sich wohl nur über die (in dieser Anzeige nicht genannte) Darstellerin Marie Walcamp erschließen: sie spielte vor allem Heldinnen-Rollen in Action-Filmen, und dazu passt die Illustration. Der aus sechs Teilen bestehende Film gilt allerdings als verschollen.

BZ, 4. August 1922

Das Sander Thalia-Theater nannte immerhin die Hauptdarstellerin des amerikanischen Films „Die Stimme aus dem Jenseits“ bei so etwas ähnlichem wie ihrem Namen: mit „Maria Pikfordt“ war vermutlich Mary Pickford gemeint. Der Film von 1922 (oder früher) wurde allerdings nicht gefunden, dafür gleich zwei spätere, von 1929 und 1945, und eine US-Fernsehserie von 2005ff. mit dem deutschen Titel „Stimmen aus dem Jenseits“.

Die Namen der Komiker sind auch heute noch weithin bekannt. Ihre Filme haben die Zeiten offenbar am besten überdauert.

Sämtliche Angaben wurden den Anzeigen in der Bergedorfer Zeitung des zweiten Halbjahres 1922 entnommen und durch Wikipedia-Angaben (teils aus der englischsprachigen Ausgabe) zu den Filmen, Schauspielerinnen und Schauspielern ergänzt.

 

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Von Hawaii nach Bergedorf: der Jazz

BZ, 10. Juli 1922

Geht man nach den Anzeigen in der BZ, so war dies der erste Auftritt einer Jazzband in Bergedorf. Ob sie original hawaiianisch war und/oder original hawaiianischen Jazz spielte, wird sich nicht definitiv klären lassen, denn es gab nur die Ankündigung und keine Konzertkritik.

Jedenfalls hatte damit der Jazz in Bergedorf Einzug gehalten, weitere Bands und Auftritte folgten, vor allem bei Veranstaltungen von Sportvereinen. Über das 62. Stiftungsfest der Bergedorfer Turnerschaft von 1860 wurde berichtet, dass „die Jazz-Kapelle durch originelle Musik eine besonders heitere Stimmung“ schuf (BZ vom 18. September), was ja durchaus unterschiedliche Interpretationen zulässt. Der Vierländer R.-V. von 1894 lud zu seinem „Künstl. Ausstattungsfest“ mit „eigener Jazz-Band-Kapelle“ (BZ vom 30. September), bei dem Herbstball von Spiel und Sport Bergedorf spielte die „Original-Jazz-Band-Hauskapelle“ (BZ vom 10. Oktober), der Sander Turn- und Spielverein hatte für einen Festabend die „Original Al-He-Ma Jazz Band“ verpflichtet (BZ vom 7. November), und Gäste des Kegelklubs Hansa von 1921 konnten an einem „Originellen Jazz-Band-Abend“ teilnehmen (BZ vom 18. Dezember).

Bergedorfer Zeitung, 14. September 1922

Die „Union-Diele“ kündigte vollmundig ein „Konzert des (sic!) Original-Jazz-Band“ an (BZ vom 8. September), und sogar eine Tanzschule öffnete sich der neuen Musikrichtung und wagte einen Spagat: bei ihrem „Saison-Eröffnungs-Kränzchen“ mit „auserwählter Musik“ (sic!) spielte auch eine Jazz-Band.

Man weiß nicht, ob bei diesen musikalischen Darbietungen New Orleans, Hawaii oder Bergedorf den „Sound“ prägte. Vermutlich war’s eher originell als original.

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Kindermehl und Maschinengewehre

Bergedorfer Zeitung, 28. August 1922

Er war über Bergedorfs Grenzen hinaus als Hersteller von Kindermehl bekannt, aber er war auch in eine üble Maschinengewehraffäre verwickelt: Rudolf Kufeke.

Sollten die Maschinengewehre und militärischen Ausrüstungsgegenstände bei einem Umsturzversuch von rechts zum Einsatz kommen? Gab es einen Zusammenhang mit dem rechtsextremistischen Mord an Außenminister Rathenau nicht einmal zwei Wochen zuvor? Oder ging es Kufeke um die Verteidigung von Republik und Demokratie?

Bergedorfer Zeitung, 7. Juli 1922

Die Polizei griff jedenfalls ein, als sie von dem Zufallsfund von Militärausrüstung im Gasthof „Stadt Hamburg“ erfuhr, und stellte rasch fest, dass auch Kisten in Privathäuser im Villenviertel gebracht worden waren, wie die BZ weiter berichtete: insgesamt dreizehn tragbare Maschinengewehre, 82 Handgranaten und weiteres militärisches Material wurden sichergestellt, vier Personen wurden verhaftet und nach Hamburg verbracht: ein auswärtiger Student und ein Hansaschüler, der Fabrikant Kufeke und der Prokurist Ernst Dröge.

Die beiden Erstgenannten kamen schon zwei Tage später wieder auf freien Fuß, „da ihnen keinerlei Schuld nachgewiesen werden konnte“ (BZ vom 10. Juli 1922), die zwei anderen nach knapp zwei Wochen (BZ vom 21. Juli).

Bergedorfer Zeitung, 3. August 1922

Warum Kufeke und Dröge so schnell wieder aus der Untersuchungshaft entlassen wurden, ist unklar. Die Vernehmungen hatten offenbar ergeben, dass Dröge die Waffen und mehrere Kisten mit Munition bestellt hatte (BZ vom 21. Juli 1922), doch zugleich präsentierten sich die Beschuldigten als kampfeswillige Unschuldslämmer – die Aktion sollte nach ihren Aussagen dem guten Zweck dienen, „bei eintretenden Unruhen die Polizeiorgane zu unterstützen“, also für die bestehende demokratische und republikanische Ordnung einzutreten.

Folgt man der Darstellung der Staatlichen Pressestelle, hatten Kufeke und andere ein Waffenlager angelegt, was nach dem Republikschutzgesetz (§ 7, Ziff. 6) strafbar war (bis zu fünf Jahren Gefängnis) und auch die Zuständigkeit des Oberreichsanwalts begründete, doch was dessen Ermittlungen ergaben, ist unbekannt: weitere Meldungen der BZ gab es bis zwei Jahre nach dem Waffenfund nicht, was so oder so merkwürdig anmutet.

Kam es überhaupt zu einem Prozess? Oder waren Kufeke und Dröge etwa mit ihrer Aussage durchgekommen? Auch bei Alfred Dreckmann (S. 23f.), der für seine Schilderung der Affäre Berichte des Bergedorf-Sander Volksblatts nutzen konnte, findet man zu diesen Fragen keine Antwort.

Über Dröge, laut Dreckmann (S. 23) Prokurist bei Kufeke, ist in Bergedorf ansonsten nur bekannt, was die Staatliche Pressestelle schrieb: er war Geschäftsführer des „Bundes der Niederdeutschen“ und des „inzwischen aufgelösten Helferbundes in Bergedorf“; beide Organisationen wurden 1922 in Hamburg verboten (BZ vom 18. Juli und 14. Oktober 1922).

Kufeke bekleidete in jener Zeit mehrere Ehrenämter, unter anderem als 1. Schriftführer des Verbands der militärischen Vereine von Bergedorf, Vierlanden usw. Am 30. Oktober 1922 meldete die BZ, dass er hiervon zurückgetreten sei – sein Amt als 3. Vorsitzender der DVP Bergedorf hingegen behielt er, und in der DVP schien die Affäre seinem Ansehen nicht geschadet zu haben, denn er wurde im folgenden Jahr wiedergewählt (BZ vom 1. Februar und 20. Dezember 1923). Und auch die Kindermehlproduktion lief weiter.

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Der politische Mord und Bergedorf

Bergedorfer Zeitung, 1. Juli 1922

Die einen trauerten und protestierten, die anderen nicht: nach der Ermordung von Außenminister Walther Rathenau vor einhundert Jahren hielt die DDP Bergedorf eine Kundgebung ab – aber unter den geistigen Wegbereitern des Mordes war auch ein Bergedorfer: Alfred Roth.

Alfred Roth war Hauptgeschäftsführer des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbunds, dessen antisemitische und antidemokratische Propagandaflugblätter in Millionenauflagen verbreitet wurden. Eine Hetzschrift Roths gegen Rathenau war im Jahr des Mordes erschienen – die Attentäter aus der rechtsextremistischen Organisation Consul verfügten über enge Kontakte zu diesem „Bund“.

Bergedorfer Zeitung, 5. Juli 1922

Der demokratische Staat war also weiterhin bedroht (siehe z. B. den Beitrag zum Mord an Matthias Erzberger). In Bergedorf und Sande forderten SPD, USPD und KPD und die freien Gewerkschaften auf gemeinsamen Demonstrationen sogar die Aufstellung von Arbeiterwehren, um einen Putsch von rechts verhindern zu können; die weiteren Forderungen waren eher von (nicht zu unterschätzender) symbolischer Bedeutung. Hierauf soll in weiteren Beiträgen eingegangen werden – zur Bildung von Arbeiterwehren kam es jedenfalls nicht: zwar beantragte der Magistrat von Bergedorf etwas verklausuliert, dass der Staat „eine Organisation zum Schutze der republikanischen Regierung … schaffen“ solle (BZ vom 20. Juli), und die Bürgervertretung beschloss dies mit der Mehrheit der SPD, USPD und einer DDP-Stimme, doch blieb das rechtliche Gewaltmonopol allein in staatlicher Hand.

BZ, 19. Juli 1922

Das Reich und Hamburg gingen mit gesetzgeberischen (Republikschutzgesetz) und administrativen Mitteln gegen umstürzlerische Vereinigungen und Publikationen vor – so wurde u.a. der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund verboten (BZ vom 14. Juli). Bei Alfred Roth gab es eine Hausdurchsuchung wegen des Verdachts, er sammle Spenden für die flüchtigen Mörder Rathenaus (BZ vom 15. Juli), doch beweisen ließ sich das nicht (BZ vom 18. Juli und 2. November). Laut Wikipedia verließ er Bergedorf noch im selben Jahr; er trat aber mehrfach bei DNVP-Veranstaltungen als gefeierter Redner in Bergedorf und Hamburg auf (BZ vom 30. Juni, 11. Juli und 8. Dezember 1923).

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Bergedorf rückt weiter zusammen

BZ, 3. Juli 1922

Zimmer waren gesucht in Bergedorf, wie die Anzeigen belegen. Bei denen, die ein möbliertes Zimmer suchten, kann man unterstellen, dass sie bis dahin keinen eigenen Hausstand gehabt hatten und sich so vom Elternhaus lösen wollten. Das Ehepaar, das wohl Möbel besaß, hätte sicher lieber eine eigene Wohnung bezogen, doch das verhinderte der Wohnungsmangel.

Die Einwohnerzahl wuchs beständig, von knapp 16.000 im Jahre 1919 auf nun rund 17.000, wie Stadtbaumeister Rück darlegte: 3.160 Menschen lebten in „Kleinstwohnungen“, eine große Anzahl von Wohnungen sei „minderwertig“, und bis zu drei Familien mussten sich eine Wohnung teilen, die vielleicht noch nicht einmal an die Abwasserkanalisation angeschlossen war und nur über einen Abort hinter dem Haus verfügte (BZ vom 28. Oktober 1922). Wohnungsneubau gab es kaum (BZ vom 26. November 1920, siehe auch den Beitrag zu den Wohnverhältnissen).

Über allem wachte der Amtliche Wohnungsnachweis, wie im Beitrag zu den Zwangseinquartierungen geschildert: seine Zustimmung zur Untervermietung und zur Miethöhe war erforderlich (BZ vom 27. Juli 1922).

BZ, 4. Juli 1922

Und wenn jemand eine Wohnung besaß und lediglich eine größere oder kleinere oder in anderer Lage suchte, so ging das nur im Wege des Tausches – dem natürlich der Wohnungsnachweis zustimmen musste, auch wenn jemand von Hamburg nach Bergedorf (oder umgekehrt) ziehen wollte. Wer dabei nichts attraktives zu bieten hatte, hatte schlechte Karten.

BZ, 1. Juli 1922

Ob der Brasilien-Rückkehrer und sein Vater in Bergedorf fündig wurden? Am Geld dürfte ein Kauf jedenfalls nicht gescheitert sein.

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Dringdrahtlich und zewwolf

Bergedorfer Zeitung, 23. August 1921

Die schnellste Art der schriftlichen Nachrichtenübermittlung war vor hundert Jahren das Telegramm, das vom Telegraphenamt schriftlich aufgenommen, an das Telegraphenamt des Empfängers übermittelt und per Boten zugestellt wurde. (Zur Geschichte des Telegramms hat die Deutsche Post eine knappe Zusammenfassung mit historischen Beispielen erstellt.)

Die zu zahlenden Gebühren richteten sich nach der Länge: jedes Wort, auch Empfängername und -anschrift, musste einzeln bezahlt werden, und das animierte natürlich dazu, sich kurz zu fassen: Telegrammstil eben (siehe hierzu z. B. Alfred Schirmer, S. 155f.). Das führte offenbar zu „sprachwidrigen Wortbildungen“ à la „Kommesonntagfrüh“, die das Reichspostministerium strikt ablehnte: nur verbreitete Fachbegriffe durften in dieser verschmolzenen Form benutzt werden. So entstand u.a. das Wort „dringdrahtlich“ für ein Eiltelegramm, und auch die Telegrammadressen konnten abgekürzt werden, wenn der Empfänger dafür eine Pauschale zahlte – der Bergedorfer Fellhändler Karl König war telegraphisch der „Fellkönig“ (Anzeige in der BZ vom 28. November 1921).

Die Gebühren stiegen rasant: waren es im Oktober 1921 noch 50 Pfennig pro Wort, mindestens fünf Mark, so kostete es im Dezember bereits eine Mark, mindestens 10 Mark, und ein knappes Jahr darauf zehn Mark Wortgebühr plus 20 Mark Grundgebühr (BZ vom 14. Oktober und 13. Dezember 1921 sowie vom 15. November 1922).

Bergedorfer Zeitung, 31. August 1921

Auch in das gesprochene Wort mischte sich die Post ein: besonders bei Telefonaten war die korrekte Aussprache von Zahlen von großer Bedeutung, denn man konnte ja nicht selbst wählen: ein Telefonat begann mit dem Abnehmen des Hörers von der Gabel, bei Wandgeräten zusätzlich mit einmaligem Drehen der Kurbel, und wenn sich die Vermittlung meldete, nannte man dieser nach der eigenen Nummer den Gruppennamen (z.B. Elbe, Hansa, Merkur, Bergedorf) und die Rufnummer des bzw. der Anzurufenden, die die bzw. der Vermittlungsbedienstete wiederholte, und da war es halt wichtig, dass man sich über die Aussprache der Zahlen einig war. Nun war manches anders: hieß es 1920 laut Verzeichnis der Teilnehmer an den Fernsprechnetzen im Oberpostdirektionsbezirk Hamburg Juli 1920 noch „tzwo“ und „tzwölf“, so hieß es nun „zwo“ und „zewwolf“, und das kurze u der Null sollte als langes u gesprochen werden, wie auf den Einleitungsseiten des Amtlichen Fernsprechbuchs für den Oberpostdirektionsbezirk Hamburg vom Oktober 1921 angegeben; 1922 trat keine erneute Änderung ein.

Ob durch die Umstellung die Zahl der Falschverbindungen zurückging oder sogar (zumindest vorübergehend) stieg und wie falsche Aussprache der Zahlen sanktioniert wurde, ist unerforscht. Das heutige Telefonbuch kommt ohne Aussprachevorschriften aus.

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Schicke Schuhe – Teure Schuhe

Bergedorfer Zeitung, 29. September 1912

Sie waren schon schön, die Schuhe von 1912 – die Werbetrommel für die neuen Modelle wurde auch kräftig gerührt. Die Anzeige hier ist eine der größten und aufwändigsten der über 50 Schuhwaren-Inserate, die 1912 allein von Bergedorfer Einzelhändlern ins Blatt gesetzt wurden; weitere Schuh-Annoncen wurden aus Sande in Auftrag gegeben.

BZ, 3. November 1912

BZ, 25. Juli 1913

Obwohl die Preise, die 1913 nahezu unverändert blieben, maßvoll erscheinen, so muss doch angemerkt werden, dass sich nicht alle Menschen diese Art von Fußbekleidung leisten konnten: auch Holzschuhe wurden angeboten, man konnte gebrauchtes Schuhwerk kaufen, und in Sande wurde es im zweiten Kriegsjahr 1915 gestattet, barfuß zur Schule zu gehen.

Zehn Jahre später, also 1922, war von Nachkriegs-Erholung kaum etwas zu merken, was auch die Zeitung schmerzhaft zu spüren bekam: der Anzeigenteil schrumpfte erheblich. Das Warenhaus Biebler schaltete im zweiten Halbjahr nicht eine einzige Schuh-Anzeige (1912 waren es acht gewesen), Gebr. Behr gerade eine (1912: 14), und 1922 nannte nur ein ländlicher Einzelhändler, das Kaufhaus Hermann Kröger in Kirchwärder, Preise:

BZ, 7. Oktober 1922

BZ, 18. Dezember 1922

 

Auch wenn nicht sicher ist, ob die im Oktober angebotenen Schuhwaren mit denen des Dezembers identisch waren: der Begriff „Inflation“ bedarf hiernach keiner Erklärung mehr.

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