Die gewichtigen Sänger von Kirchwärder

Bergedorfer Zeitung, 2. Juni 1920

„In Freud und Leid im Lied vereint“ lautete das Motto des Gesangvereins „Elbe“ Neuengamme, und es sollte bei diesem Jubiläumsfest eine besondere Bedeutung bekommen: die neunzigköpfige Schar des Kirchwärder Sängerbundes versank (singend?) mitsamt der Sängerbühne im „etwas sumpfigen Grunde“ des Festplatzes. Nun mussten die weiteren Chorvorträge eben ohne erhöhtes Podium auskommen.

Vereinsjubiläen waren und sind in Vierlanden große Ereignisse – so auch das 25jährige Stiftungsfest des Neuengammer Gesangsvereins „Elbe“, das mit großem Festzug auch durch die Nachbardörfer, mit befreundeten Vereinen auf dem Festplatz und wegen der großen Teilnehmerzahl in gleich zwei Lokalen am Abend gefeiert wurde.

An Vereinen und Festlichkeiten mangelte es auf dem Lande generell nicht: Neuengamme hatte nach amtlicher Zählung 1919 knapp 2.400 Einwohner – dem männlichen Teil der Bevölkerung standen zahlreiche Vereine zur Freizeitgestaltung offen, allein im Bereich Gesang vier: neben „Elbe“ gab es „Freundschaft“, „Germania“ und „Vorwärts“, wobei sich in letzterem wohl vor allem Arbeiter fanden. Das Dorf hatte drei Tanzklubs (Frohsinn, Gemütlichkeit, Lustige Brüder), den Vergnügungsverein Edelweiß und den Unterhaltungsklub Flora, zwei Schießklubs (Erika, Vierlandria), Militär- und Ziegenzuchtvereine, aber auch Sportsfreunde hatten ihre Organisationen: drei Kegelklubs, den Vierländer Radfahr-Verein und seit 1919 den Sportverein Curslack-Neuengamme. Eher eine Interessengemeinschaft war der Landmieterverein.

All diese Klubs und Vereine inserierten 1920 in der Bergedorfer Zeitung. Mit Ausnahme der Tanzklubs dürften dies rein männliche Angelegenheiten gewesen sein – die Damen durften immerhin bei Festen mit dabei sein und Ehrengaben überreichen.

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Merkwürdige Spiele in Wentorf

Bergedorfer Zeitung, 29. Mai 1920

„Kerl ut de Tunn slan“ – hochdeutsch: Kerl aus der Tonne schlagen – war das Nachmittagsprogramm; der Kater sollte abends ab 8 Uhr aus dem Topf geschlagen werden, im Anschluss „Tanzkränzchen“ im Lokal des Herrn Heitmann in Wentorf.

Das Plattdeutsche zu verstehen dürfte den meisten Bergedorfern damals kein Problem bereitet haben, aber kannten sie die Spiele?

Ein Indiz dafür, dass sie in Bergedorf und den Vierlanden unbekannt waren, ergibt sich aus dem Hamburgischen Wörterbuch: die einzelnen Worte sind verzeichnet (als Keerl, Tünn, slaan, Kater, Putt), aber es gibt keinen Hinweis auf ein Spiel. Auch in der volkskundlichen Darstellung Ernst Finders (online-Link) über die Vierlande sucht man vergebens.

Aufklärung gibt Otto Mensings Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch: beides war eine „Belustigung bei ländlichen Festlichkeiten“. Bei „Kerl ut de Tunn slagen“ mussten Mädchen einen unter einer Tonne sitzenden Knecht „befreien“, der dann versuchte, eines der enteilenden Mädchen zu erhaschen. Bei „Kater ut de Tünn hauen“ musste ein Mädchen mit verbundenen Augen eine Tonne umstoßen, unter der ein Kater eingesperrt war, der dann (verständlicherweise) das Weite suchte.

„Wat dat nich allens gifft“, wird man in Bergedorf gesagt haben. Andere Länder (Herzogtum Lauenburg), andere Sitten (und Spiele).

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Die Quäkerspeisung für Schülerinnen und Schüler

Bergedorfer Zeitung, 29. Mai 1920

Anfang des Jahres war eine fünfzehnköpfige Delegation aus Amerika in Berlin eingetroffen, um ein „Amerikanisches Hilfswerk für Deutschland“ aufzubauen: es sollten Nahrungsmittel und Bekleidung zur Verfügung gestellt werden, finanziert durch in den USA gesammelte Spendengelder (BZ vom 3. Januar 1920) – jetzt erreichte die Hilfe auch Bergedorf und Geesthacht sowie Sande: der Sander Lehrer Johann Brüdt verfasste hierzu das Gedicht „Habt Dank!“, das die BZ am 12. Juni veröffentlichte.

Getragen wurde die Aktion von den „Kinderhilfsmissionen der Religiösen Gesellschaft der Freunde (Quäker) von Amerika“, die sich auf die Speisung unterernährter Schulkinder konzentrierte. Das war ein hochwillkommener (und qualitativ besserer) Ersatz für die weggefallene Schulspeisung.

An allen Schulen, auch den privaten, gab es diese Mahlzeit, denn unterernährte Kinder gab es offenbar nicht nur an den Stadtschulen und an der Hansaschule. Insgesamt über 20 Prozent der Bergedorfer Schülerinnen und Schüler durften teilnehmen, ausgesucht von Schularzt und Klassenlehrer, doch eigentlich hätten mehr Kinder einbezogen werden müssen: nach vier Wochen Quäkerspeisung gab es eine ärztliche Untersuchung, und wenn bei einem Kind eine ausgeprägte Besserung des Ernährungszustands festgestellt wurde, schied es aus dem Programm aus und ein anderes trat an seine Stelle.

Wie begehrt die Teilnahme war, folgt aus dem Bericht über eine Versammlung der Elternräte der Stadtschulen: dort wurde Protest erhoben gegen die „nicht ganz einwandfreien“ Untersuchungen und die Teilnahme der höheren Mädchenschulen (BZ vom 16. September 1920) – letzteres sei eine Benachteiligung der minderbemittelten Kinder. Zu den Untersuchungen erklärte der Bergedorfer Stadtarzt Dr. Bohne in einer Elternversammlung, dass die Grundlage der Rohrer-Index sei (eine für Kinder und Jugendliche geeignete Variante des Body-Mass-Index) (BZ vom 24. August und 16. Oktober 1920).

Die Speisung sollte zunächst bis zu den „Hundstagsferien“, d.h. den Sommerferien, erfolgen, doch blieb sie über den Jahreswechsel hinaus bestehen – innerhalb weniger Monate wurden 78.928 Portionen ausgegeben (BZ vom 24. November).

Der Dank der BZ an die „hochherzigen Spender … für das Werk edelster Menschenliebe“ war zweifelsohne verdient und wurde mehrfach paraphrasiert wiederholt, wenn die Redaktion es auch zumindest einmal sich nicht verkneifen konnte, die Hilfe der Quäker in Kontrast zum „Wilsonschen Wortbruch“ (BZ vom 24. Juni) zu setzen.

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Telefonieren teurer

Bergedorfer Zeitung, 19. Mai 1920

Die Bergedorfer hatten damals die Wahl: sie konnten für ihren Telefonanschluss eine „Flatrate“ buchen, als „Pauschgebühr“ bezeichnet, oder sie konnten sich für die Zahlung von Grund- und Gesprächsgebühren entscheiden. Wie auch immer sie sich entschieden: ab dem 1. Juli 1920 war das Doppelte des bisherigen Betrags zu zahlen.

Die Flatrate kostete nun 600 statt bisher 300 Mark im Jahr, und das war nicht wenig, wie aus dem Beitrag über die Löhne im Kleinhandel hervorgeht. Mit der kombinierten Zahlung kam man auf mindestens 320 Mark – und beides galt nur für die Ortsgespräche; wer häufiger mit Hamburg, Altona, Harburg oder Blankenese telefonieren musste, entschied sich vielleicht für die auf 1.000 Mark erhöhte „Vorortspauschale“ (BZ vom 1. Juni).

Egal, ob man Viel- oder Wenigtelefonierer war: es war obendrein eine einmalige Sonderzahlung als „Vorbedingung für die Belassung der bestehenden und Herstellung neuer Anschlüsse“ in Höhe von 1.000 Mark zu zahlen, weitere 200 Mark für einen Nebenanschluss. Es war eine Art Zwangsanleihe, die verzinst und zurückgezahlt und mit deren Hilfe der Netzausbau finanziert werden sollte – doch wer konnte sich jetzt noch einen neuen Anschluss leisten? Die Antwort gab die BZ: „alle durch unsaubere Manipulationen in und nach dem Kriege plötzlich reich gewordenen Schieber und Nichtstuer“ bekämen den „solange ersehnten, im Grunde aber höchst überflüssigen Anschluß“; für kleinere Gewerbetreibende und freie Berufe sei ein Telefon unerschwinglich geworden, in manchen Städten habe „fast der gesamte gewerbliche Mittelstand die Anschlüsse gekündigt“ (BZ vom 19. Juni).

BZ, 26. Juni 1920

BZ, 3. Juli 1920

In Bergedorf wird es zumindest eine Kündigung gegeben haben: der Dentist Kopton inserierte im ersten Halbjahr 1920 immer mit Angabe seiner Telefonnummer – im zweiten Halbjahr immer ohne, und auch in dem ab dem 1. Juli geltenden Fernsprechverzeichnis tauchte er nicht mehr auf. So entging er den Kosten; ob seine Einnahmen auch zurückgingen, ist unbekannt. Die Dentisten Kleissenberg und (in Geesthacht) Düsing behielten ihre Anschlüsse, ihre Berufskollegen Meier und Hoffmann sowie in Geesthacht Hillmann waren seit jeher ohne Fernsprecher tätig (diverse Anzeigen in der BZ).

BZ, 2. Oktober 1920

Ein Wort noch zu den preisgünstigeren Nebenanschlüssen, die vielleicht auch den unzureichenden Netzausbau widerspiegelten: der Nebenanschluss war nicht direkt an das öffentliche Fernsprechnetz angebunden – wer mit einem solchen Teilnehmer sprechen wollte, war auf die Anwesenheit des Hauptanschluss-Inhabers angewiesen, der die Verbindung zum Nebenanschluss herstellen musste.

 

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Der Ärztestreik (oder -streit?) in Bergedorf

Bergedorfer Zeitung, 22. Mai 1920

Das war ein großes Problem für die Kassenpatienten: reichsweit wollten die Ärzte sie nur noch gegen sofortige Barzahlung behandeln und keine Krankschreibungen mehr vornehmen.

Einer der in der Anzeige genannten Gründe traf auf Bergedorf und Umgegend nicht zu: die freie Arztwahl bestand hier bereits „seit Jahren“, wie die örtlichen Krankenkassen im „Sprechsaal“ ausführlich darlegten – sie warfen den Ärzten vor, vertragsbrüchig zu sein, denn erst im April waren hier die Honorarsätze bis Ende 1920 durch Vertrag festgesetzt worden (BZ vom 27. Mai). Ob man dieses Verhalten der Mediziner als Streik bezeichnen kann (wie es die Kassen taten), sei dahingestellt.

Gegenüber ihren Versicherten zeigten sich die AOK und die Betriebskrankenkassen der großen Firmen verantwortungsbewusst: „Die Krankenkassen werden nunmehr dazu übergehen, den Mitgliedern die Unkosten für den Arzt in bar zu ersetzen. Das gleiche muß mit der Arznei geschehen“ (BZ vom 26. Mai).

Bergedorfer Zeitung, 11. Juni 1920

Eine Lösung für das Problem der Nicht-Krankschreibung gab es erst nach zwei Wochen: mit Zustimmung des Oberversicherungsamtes durften dann sogar medizinische Laien, soweit sie Mitarbeiter der AOK waren, den Gesundheitszustand eines Versicherten feststellen.

Der Konflikt wurde auch in zwei öffentlichen Versammlungen diskutiert, die eine organisiert von den örtlichen Krankenkassen (BZ vom 29. Mai), die andere vom Gewerkschaftskartell (BZ vom 21. Juni), und es zeichnete sich eine Entspannung ab: der AOK-Geschäftsführer Tonn anerkannte, dass die Ärzte keine „übermäßig hohen Sätze in Anwendung gebracht“ hätten, obwohl der genehmigte Erstattungssatz offenbar überschritten wurde (BZ vom 23. Juni).

Bergedorfer Zeitung, 3. Juli 1920

Anfang Juli war der Streit dann beigelegt, wie der Anzeige der Ärzte zu entnehmen ist. Angaben über die neuen Honorarsätze brachte die BZ nicht, man kann aber davon ausgehen, dass sie über den bisherigen lagen und die Mediziner „eine den jetzigen Verhältnissen entsprechende Entlohnung“ zugesprochen bekamen. Die AOK-Mitarbeiter hatten in diesen Wochen mit Rückwirkung zum 15. Februar eine „erneute Überteuerungszulage“ erhalten (BZ vom 21. Juni).

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Der Wahlkampf um die Elternräte

Bergedorfer Zeitung, 3. Mai 1920

Nur an Schulen mit weniger als sechs Klassen wird heute in Hamburg der Elternrat in einer Elternversammlung direkt gewählt, ansonsten erfolgt nach Hamburgischem Schulgesetz § 73 (2) die Wahl in einer Versammlung der Klassenelternvertreterinnen und -vertreter. Das war vor hundert Jahren anders.

Der Wahltag war ein Sonntag, und die Stimmabgabe erfolgte schriftlich. Zwar war es eine Listenwahl nach Grundsätzen der Verhältniswahl, aber es waren freie Listen – die Eltern konnten also bei der Stimmabgabe panaschieren, d.h. Listen „mischen“; Stimmenhäufung war dagegen nicht erlaubt. Damit eine Liste zugelassen wurde, musste sie 20 Unterstützungsunterschriften aufweisen.

Schulfragen waren 1920 wesentlich stärker als heute politische Fragen, was sich auch in den Kandidatenlisten widerspiegelte: fast überall gab es eine Liste der SPD, eine der USP und eine, die sich als „unpolitisch“ bezeichnete, und es gab einen richtigen Wahlkampf, der sich in der BZ in Sprechsaal-Beiträgen (BZ vom 15. Mai) und Anzeigen niederschlug – Inserate der SPD und vielleicht auch der USP dürften im Bergedorf-Sander Volksblatt zu finden gewesen sein.

Bergedorfer Zeitung, 15. Mai 1920

Bergedorfer Zeitung, 15. Mai 1920

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

An der Hansaschule nahmen beide Listen für sich in Anspruch, „unpolitisch“ zu sein und Parteipolitik aus der Schule heraushalten zu wollen, aber tatsächlich hatten beide eine politische Richtung: der eine Listenführer Rück gehörte zur reformorientierten DDP, sein Widerpart Albert Zimmermann war der DNVP zuzurechnen. Es ist zu vermuten, dass die  „unpolitischen“ Listen an den Stadtschulen konservativ-bürgerlichen Kreisen zuzurechnen waren.

Bergedorfer Zeitung, 17. Mai 1920

Die Wahlbeteiligung war mäßig, in Bergedorf lag sie bei etwa 33 Prozent (in Zollenspieker bei 17, 4 Prozent, BZ vom 21. Mai). Der Wahlsieg der SPD war klar, aber nicht ungetrübt, denn an der Knabenschule am Birkenhain hatte sie es versäumt, die nötigen 20 Unterschriften zu beschaffen, und wurde folglich nicht zugelassen. An der Hansaschule gab es keine SPD-Kandidaten – sie wären wohl auch chancenlos gewesen – aber eine Überraschung: der Spitzenkandidat der „Liste Zimmermann“ erhielt nicht genug Stimmen und war damit nicht gewählt; ob sein Einsatz für die Fichte-Hochschule, für die Vaterlandspartei oder sein stadtbekannter Antisemitismus dabei eine Rolle spielten, war nicht zu klären.

Die USP Bergedorf wird enttäuscht gewesen sein – ihre Geesthachter Genossen hingegen nicht: an der Knabenschule erreichte sie fünf, an der Mädchenschule vier der neun Sitze, die SPD je zwei, und die weiteren Sitze gingen an die Liste des Bürgervereins (BZ vom 17. Mai).

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Von Streuels und Deichverbänden

BZ, 18. Mai 1920

Sogar angeschwemmtes Reet konnte man 1920 zu Geld machen – „Streuels“ ist laut Hamburgischem Wörterbuch im Wasser treibendes Schilf, das sich nach höheren Wasserständen im Deichvorland ablagert. Offenbar gab es Nutzungen dafür, z.B. getrocknet als Einstreu in Stallungen, und der Deichvorstand von Kirchwärder wollte mit der Verpachtung Einnahmen erzielen. Heute muss die Stadt Geld dafür aufwenden, das Schilf und anderes am Deichfuß Angetriebenes, das nun „Treibsel“ genannt wird, zu entsorgen.

Streuels am Hauptdeich in Kirchwerder, Februar 2020

Die Deiche waren damals nicht städtisch, sondern Gemeineigentum der Deichverbände, die wiederum die Landbesitzer zu Bau, Unterhaltung, Sicherung und ggf. Wiederherstellung eines definierten Deichabschnittes verpflichteten („Deichlast“). Durch die Verpachtung der dem jeweiligen Verband gehörenden Außendeichsflächen (und durch Zwangsbeiträge in die „Deichkasse“) hatte der Verband auch Geldeinnahmen – zum Deichwesen in den Vierlanden siehe den Aufsatz von Carsten Weide.

BZ, 10. Mai 1920

Bergedorfer Zeitung, 6. Mai 1920

Nicht nur das Vorland wurde verpachtet, sondern ebenso die Deichböschungen zur Grasnutzung, wie aus weiteren Anzeigen hervorgeht, und da der Curslacker Neue Deich der Stadt Hamburg gehörte, betätigte sich sogar die Finanzdeputation als Verpächter. (Auch die Stadt Bergedorf machte Gras zu Geld: sie vergab die Grasmahd auf den Wiesen im Stadtpark an den Meistbietenden, BZ vom 19. Mai.)

Nach der Sturmflut von 1962 wurde diese Organisationsstruktur aufgegeben: die Deiche und alle damit zusammenhängenden Aufgaben wurden von der Stadt Hamburg übernommen, was zu einer immensen Verbesserung des Hochwasserschutzes geführt hat. Die Böschungen der Schutzdeiche werden auch nicht mehr verpachtet, sondern durch von der Stadt beauftragte (und bezahlte) Unternehmen gemäht und durch Schafe beweidet.

Der Deichverband der Vier- und Marschlande als Zusammenschluss der zehn gemeindlichen Deichverbände ist auch heute noch in das Deichwesen und den Hochwasserschutz aktiv eingebunden, wie z.B. aus einem Artikel der Bergedorfer Zeitung von 2011 und einem Artikel von 2013 hervorgeht.

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Orchester zu verkaufen!

BZ, 5. Mai 1920

Der Gastwirt Hermann Dubber war kein Menschenhändler – das ihm gehörende „gutspielende Orchester“ war ein mechanisches Musikinstrument, und das wollte er mit den dazugehörigen Walzen verkaufen.

Es handelte sich also dabei um ein Orchestrion: „Eigentlicher Sinn eines Orchestrions war es, ein ganzes Orchester nachzubilden“, heißt es in dem umfangreichen Buch von Herbert Jüttemann über mechanische Musikinstrumente (S. 283), und das war für viele Gaststätten sicher eine Alternative zu einer Kapelle lebender Musiker. Doch Nachteile eines Walzenorchestrions waren, dass das Repertoire des Instruments sehr beschränkt war und zudem das Wechseln der schweren Tonträger die Kraft zweier Männer erforderte. Deshalb ging man um 1900 dazu über, die Geräte mit Lochbändern auszustatten, die eine größere Speicherkapazität besaßen und natürlich auch leichter waren. Man kann also davon ausgehen, dass Dubbers Walzenorchester bereits eine Reihe von Jahren auf dem Buckel hatte, als er es zum Verkauf anbot.

BZ, 24. März 1920

Der Original-Tanz-Automat Nr. 100, den die Gastwirtschaft Utecht anpries, dürfte ähnlicher Bauart gewesen sein, vielleicht auch der „Musikautomat, für Wirtschaft passend“, den der Bergedorfer Möbelhändler H. Mente für 475 Mark verkaufen wollte (BZ vom 17. Dezember).

BZ, 17. Mai 1920

In großen Kinos gab es laut Jüttemann (a.a.O., S. 303) besondere Ausführungen des Orchestrions, um durch Handzüge, Fußpedale und Druckknöpfe für besondere akustische Effekte zur Untermalung der (Stumm-)Filmhandlung (Pferdegetrappel etc.) zu sorgen – aber dafür waren die Bergedorfer Kinos zu klein: hier wurde die Musik mit der Hand gemacht.

 

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Der Tarifkonflikt im Kleinhandel

Bergedorfer Zeitung, 6. Mai 1920

Die Angestellten im Einzelhandel von Bergedorf und Sande drohten mit der „Anwendung der letzten gewerkschaftlichen Kampfmittel“, also mit Streik in den „leistungsfähigen Geschäften“, d.h. den größeren Läden – der Lebensmittelhandel fand überwiegend in Klein- und Kleinstläden statt, in denen der Inhaber zugleich einer der Verkäufer und der gewerkschaftliche Organisationsgrad wohl geringer war.

Die Tarifverhandlungen mit dem Verein der Ladeninhaber von Bergedorf-Sande waren gescheitert. Leider war aus der BZ nicht zu erfahren, welche Gehälter tatsächlich gezahlt wurden, aber sie dürften in der Spitze unter oder um 500 Mark im Monat gelegen haben. Das erste Angebot der Arbeitgeber hatte laut Gewerkschaft auf ein Höchstgehalt von 550 Mark gelautet (BZ vom 12. Mai) – dem stand die Gewerkschaftsforderung von bis zu 765 Mark gegenüber. Man näherte sich zwar an, die Differenz schrumpfte auf 55 Mark (635 Mark zu 690 Mark), aber eine Einigung konnte nicht erzielt werden. Die Arbeitgeberseite wies zwar die Darstellung des Zentralverbands der Angestellten als überwiegend unrichtig zurück, verzichtete aber auf eine schriftliche detaillierte Richtigstellung – mündlich wolle man gern Auskunft geben, sogar anhand von Unterlagen (Sprechsaalbeitrag in der BZ vom 8. Mai).

Die Klage des Zentralverbands der Angestellten über schlechte Bezahlung war beredt, und die herangezogenen Vergleiche zeigen, dass schon vor hundert Jahren im Einzelhandel nur niedrige Gehälter gezahlt wurden – der BZ waren ansonsten nur sporadisch Lohn- bzw. Gehaltsangaben zu entnehmen: in Sande wurden männlichen Gemeindearbeitern 3 Mark pro Stunde gezahlt, weiblichen 2,50 Mark (BZ vom 19. Mai), in Geesthacht erhielten männliche Arbeiter beim Sportplatzbau 4,50 Mark (BZ vom 30. Juni). Die Gemeinde Besenhorst zahlte einem Hilfsnachtwächter 20 Mark pro Nacht (BZ vom 15. Juni) – in Bergedorf wurden Nachtwächter Ende 1915 mit 4,50 Mark pro Schicht entlohnt (BZ vom 16. Dezember 1915). Löhne und Gehälter stiegen aber allgemein nicht so schnell wie die Preise.

In Bergedorfs Einzelhandel wird es damals letztlich nicht zum Streik gekommen sein, man entschied sich in einer Gewerkschaftsversammlung, den Schlichtungsausschuss in Hamburg anzurufen (BZ vom 11. Mai), und einige Wochen später nahm die Hauptversammlung der Ladeninhaber den Bericht ihrer Tarifkommission entgegen (BZ vom 5. Juni) – hätte es einen Streik gegeben, hätte dies sicher in der BZ Niederschlag gefunden. Da der Zentralverband der Angestellten schon im Mai verkündete, dass eine in Bergedorf neue Firma die Gehaltshöhe von 690 Mark akzeptiert hatte (BZ vom 12. Mai), kann man davon ausgehen, dass die Arbeitnehmerseite sich weitgehend durchsetzte.

Die Schlechterstellung der weiblichen Angestellten, die 15 Prozent weniger erhalten sollten, war offenbar nicht Gegenstand des Tarifkonflikts.

 

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Früher Frauenfußball in Bergedorf?

BZ, 3. Mai 1920

Das war 1920 eine echte Neuerung im Angebot von „Spiel und Sport“ Bergedorf: Sonntags gab es Fußball auch für Damen und Mädchen (ob am frühen Morgen oder am Abend, ist unklar). Das überrascht durchaus, denn Vorbehalte gegen (leistungs)sportliche Betätigung von Frauen hatten bei großen Teilen der männlichen Bevölkerung die Revolution unbeschadet überstanden: Sport beeinträchtige die Gebärfähigkeit – das war laut Eduard Hoffmann und Jürgen Nendza (S. 15-18) einer der Haupteinwände, und überhaupt sei Fußball ein männlicher Kampfsport, der dem weiblichen Wesen widerspreche. Nicht nur in bürgerlichen Kreisen war diese Haltung verbreitet, sondern auch im Arbeiter-Turn- und Sportbund.

Auf einer Internetseite zur Geschichte des Frauenfußballs findet man ein Zitat, welchem vor hundert Jahren viele Männer sicher beigepflichtet hätten: „Im Kampf um den Ball verschwindet die weibliche Anmut, Körper und Seele erleiden unweigerlich Schaden und das Zurschaustellen des Körpers verletzt Schicklichkeit und Anstand.“ Allein, das Zitat ist von 1955 und gibt die damalige offizielle Linie des Deutschen Fußballbundes wieder, der seinen Vereinen den Frauenfußball schlicht untersagte.

Das konnte die fußballfreudigen Frauen nicht vom Kicken abhalten, aber eben außerhalb des DFB und mit z. T. abweichenden Regeln, so Rainer Hennies und Daniel Meuren (S. 17). Nach welchen Regeln die SuS-Damen und -Mädchen 1920 spielten, ist unbekannt; möglicherweise praktizierten sie eine deutlich schlichtere Sportart, wie Hoffmann und Nendza (a.a.O., S. 14) schreiben: „Um 1900 gibt es Hinweise auf eine ‚brave Variante‘ des Fußballspiels, eine Art Kreisfußballspiel, das von Frauen ausgeübt wird.“

Möglicherweise wurde 1920 auch in Geesthacht Damenfußball gespielt – in einem Bericht über den  TV Gut Heil von 1885 ist im Zusammenhang mit Herrenfußball von „Damen- und Kindermannschaften“ die Rede, was sich eventuell aber auf andere Ballsportarten bezieht (BZ vom 26. Januar). Doch wenn Gut Heil ein Damenteam hatte, dann hatten die Bergedorferinnen zumindest ein anderes Team, mit dem sie sich messen konnten. Der von den Sportvereinen detailliert beschickten Berichterstattung der BZ über durchgeführte Spiele war allerdings nicht der kleinste Hinweis auf Frauenfußball zu entnehmen.

Auch der DFB ist klüger geworden: 1970 ließ er Frauenfußballspiele unter seiner Ägide zu, und seit 1993 gelten für Frauen wie für Männer die gleichen Spielregeln (Hennies und Meuren, a.a.O., S. 21).

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