Altmaterial und Nervennahrung

Bergedorfer Zeitung, 24. Juni 1916

Bergedorfer Zeitung, 24. Juni 1916

Nur für sich betrachtet wäre dies einfach eine Sammelaktion gewesen, aber es lohnt sich doch ein genauerer Blick und die Einordnung in den Zusammenhang der vorhergehenden Berichterstattung der Bergedorfer Zeitung.

Nach diesem Bericht hatte die kürzlich (nämlich vom 30. Mai bis zum 2. Juni)  von den Schülern (und Schülerinnen?) der Stadtschulen durchgeführte Aktion einen „sehr reichhaltigen“ Ertrag gebracht: Altgummi, Papier aller Art, Korken, Konservenbüchsen waren zugunsten der Kasse der Bergedorfer Kriegsfürsorge gesammelt worden – aber man hatte wohl auf mehr gehofft, sonst wäre die Aktion nicht bis zum 1. Juli verlängert worden.

Bergedorfer Zeitung, 29. Mai 1916

Bergedorfer Zeitung, 29. Mai 1916

Den ersten Aufruf zu dieser Sammlung (am 29. Mai 1916) hatte die Zeitung – im Gegensatz zu der sonst üblichen emphatischen Werbe-Begleitung – nur schmucklos-distanziert vermeldet, denn der Journalist wollte vor allem eine Bergedorfer Beteiligung an der Reichsbücherwoche erreichen; die Altmaterialsammlung packte er (bewusst) abwertend in die Kategorie „alle möglichen anderen Sammlungen“. Die Bücher dagegen sollten den Soldaten „eine ausgleichende geistige Ablenkung“ liefern, denn einerseits ließ das Warten in den Schützengräben angeblich die Nerven erschlaffen, andererseits war der Artilleriebeschuss auf die Stellungen „nervenzerpeitschend“.

Für ihn war es selbstverständlich, dass jeder Haushalt geeignete Bücher hatte, aber wenn das nicht der Fall war, konnte „man das eine oder andere käuflich erstehen“, notfalls in einer billigen Ausgabe – ob die Empfängerinnen und Empfänger von Kriegsfürsorge, die „Kriegerfrauen“, die ja nur ein Minimum an Hilfe erhielten, nun in die nächste Buchhandlung rannten, um Lektüre für Soldaten zu kaufen? Oder hofften sie eher auf den Erfolg der Altwarensammlung, um weiter für ihre Kinder und sich selbst Mittagessen zu erhalten?

Unter den gesammelten bzw. gekauften Büchern für die Soldaten befanden sich vermutlich Büchlein wie Stuhrmanns Sammlung von Bismarck-Zitaten Und Bismarck sprach … – Eherne Worte für eherne Zeit von 1915 und die hier abgebildete 1914/15 vom Deutschen Philadelphia-Verein herausgegebene religiöse Schrift „Deine Augen sahen mich“.

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Ochsenwerders alte Akten und die Herrenbracks

Bergedorfer Zeitung, 26. Juni 1916

Bergedorfer Zeitung, 26. Juni 1916

Über keine der Landgebietsgemeinden berichtete die Bergedorfer Zeitung so häufig und detailliert wie über Ochsenwerder. Dafür kann es zwei Gründe gegeben haben: zum einen war das Blatt von nebenberuflichen Reportern (oft den Dorfschullehrern) abhängig, und zum anderen gab es mit der Ochsenwerder Zeitung, einer teilidentischen Regionalausgabe der  Norddeutschen Nachrichten, einen Wettbewerber auf dem Medienmarkt (zu den Norddeutschen Nachrichten siehe Ulrich Hagenah, zu den bis 1907 erschienenen Vierländer Nachrichten, einem weiteren Ableger der Norddeutschen Nachrichten, siehe Bernd Reinert (2012)).

Die im Artikel angesprochene Diskussion um die Sommerzeit soll in einem späteren Beitrag aufgegriffen werden, die Gemeindefinanzen sollen nicht analysiert werden, denn zwei andere Punkte sind interessant genug: die materialknappheitsbedingte Sammelwut der Kriegszeit treibt (auch) dem Lokalhistoriker von heute die Tränen in die Augen: Teile der Schulgeschichte Ochsenwärders entschwanden ebenso zur „Hamburger Sammelstelle für Altpapier“ wie die „entbehrlichen Schriften und Formulare“ aus dem Gemeindearchiv – was mag da alles vernichtet worden sein?

Bergedorfer Zeitung, 27. April 1916

Bergedorfer Zeitung, 27. April 1916

Vielleicht sollte man das Gemeindearchiv aber auch nicht überschätzen, denn in Vielem verließ man sich auf die mündliche Überlieferung und Tradition, so auch bei den Herrenbracks. Diese Kette von Bracks zieht sich von der Ochsenwerder Twiete, am Voßort entlang bis über die Ochsenwerder Landstraße hinaus und ist aus dem Wasserlauf Binnen-Rheden entstanden, der einst Ochsenwärder von Tatenberg trennte (siehe http://www.vier-und-marschlande.de/wissen-ow.html) . Nach Ansicht der Ochsenwärder Gemeindevertreter gehörten diese Bracks „seit unvordenklichen Zeiten“ der Gemeinde – nach der Auffassung des Hamburger Senats gehörten sie dem Staate Hamburg, und Hamburg konnte seine Ansprüche offenbar besser dokumentieren und damit schließlich durchsetzen: nachdem bereits das Amtsgericht Hamburg die Ansprüche des Senats für berechtigt erklärt hatte (siehe den nebenstehenden Artikel), kam letztinstanzlich auch das Oberlandesgericht zu diesem Ergebnis (siehe BZ vom 21. Dezember 1916).

 

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Ein beschämendes Bild junger Bergedorferinnen

Bergedorfer Zeitung, 17. Juni 1916

Bergedorfer Zeitung, 17. Juni 1916

Vor hundert Jahren war Tennis ein Sport ausschließlich der „besseren“ Gesellschaft, und in Bergedorf gab es offenbar Mädchen oder junge Frauen, die sich mit einem jungen Russen zum „Tennisspielen und dergleichen“ trafen, was den Verfasser des Artikels zu der reißerischen Schlagzeile „Unwürdig“ veranlasste und ihn herausstellen ließ, dass solches Fraternisieren gerade mit einem „Untertanen des Blut-Zaren“ verabscheuungswürdig sei, weil „durch russische Hand unzähliges heiliges deutsches Blut fließt“.

Wenn der Verfasser mit seinen Worten Empörung schüren wollte, dann war er erfolgreich: nur gut eine Woche danach konnte die BZ einen Brief „aus dem Felde“ wiedergeben, unterzeichnet „von einer großen Anzahl Feldgrauer“, die ihrer Entrüstung über die Aktivitäten der Damen (in Anführungszeichen!) Ausdruck gaben und den „niederschmetternden Eindruck“ auf die Moral der Soldaten schilderten (obwohl sie ihrerseits wahrscheinlich einen

Bergedorfer Zeitung, 26. Juni 1916

Bergedorfer Zeitung, 26. Juni 1916

Kontakt zu jungen Damen im Feindesland nicht abgelehnt hätten: Doppel gibt es nicht nur beim Tennis, sondern auch bei der Moral).

Besonders gern wird der Journalist das der BZ ausgesprochene Lob abgedruckt haben, und den Hinweis auf das Elmshorner Urteil gegen zwei Frauen, die „Verkehr“ mit russischen Kriegsgefangenen gehabt hatten, wird er mit Freude (und Setzfehler) hinzugefügt haben.

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Kommunalpolitik 1916: Hohler Weg und weniger Ratmänner

Bergedorfer Zeitung, 10. Juni 1916

Bergedorfer Zeitung, 10. Juni 1916

Ein breites Themenfeld beackerten Magistrat und Bürgervertretung in ihrer Sitzung am 9. Juni 1916: mehrere Grundstücksgeschäfte wurden genehmigt, die Anschaffung einer neuen Schreibmaschine (450 M) wurde gebilligt, eine Haftpflichtversicherung für die Stadt erhielt die nötige Zustimmung, die Gehälter der Beamten des Elektrizitätswerks wurden erhöht, damit sie nicht schlechter bezahlt würden als die Hilfskräfte, die die einberufenen Mitarbeiter ersetzten. Auch sollte sich die Stadt vor Gericht gegen eine Schadensersatzforderung wegen verweigerter Bauerlaubnis wehren und nachträglich wurde der Ankauf der bisher nur gemieteten Lokomobile des E-Werks genehmigt. Schließlich wurde dem Ausbau des „Hohlen Wegs“ zugestimmt, einer schon 1491 erwähnten Wegeverbindung nach Wentorf (siehe die Karte 1875 und unten den Ausschnitt aus der Karte 1904, heutiger Name: Doktorberg), wodurch neue Bebauungsmöglichkeiten geschaffen wurden. Der Bürgervertreter Dr. Ohly, Leiter der (staatlichen) Hansa-Schule, forderte Maßnahmen gegen die private Handelsschule Hansa – und nicht einmal drei Monate später wurde deren Leiter wegen Betrugs verhaftet (siehe BZ vom 8. September 1916).

Die Lebensmittelversorgung war wieder einmal eines der Hauptthemen: die Zahl der kostenlos ausgegebenen Mittagsportionen war auf 2.500 gestiegen (zur Entwicklung siehe den Beitrag Morgensuppe und Behördenschelte), und allgemein wurde mit einer weiteren Verschlechterung der Lage gerechnet: die nächsten acht Wochen würden „wohl die schwersten der Kriegszeit“ werden – ein Optimismus, der von der Realität widerlegt werden sollte.

Hohler Weg (Karte 1904)

Hohler Weg (Karte 1904)

In dieser Sitzung ging es aber auch um strukturelle und personelle Änderungen in der Lokalpolitik: Bürgermeister Walli war nun „nebenamtlich“ für die Geschäfte der Landherrenschaft in Bergedorf zuständig und damit zugleich der örtliche Polizeichef. Aus den Reihen der Bürgervertreter gab es offenbar Zustimmung, doch eigentlich wäre Protest zu erwarten gewesen: erst 1913 hatte Hamburg der Forderung der Bürgervertreter nachgegeben, die Funktionen Bürgermeister und Vertreter des Landherrn zu trennen, wovon sich die Bergedorfer eine größere Unabhängigkeit erhofft hatten (vgl. Barghorn-Schmidt (S. 158f.)). Die Rücknahme der Reform wurde also geschluckt – wahrscheinlich auch, weil es sich nicht um eine „lebenslängliche Anstellung“ wie bei Wallis Amtsvorgänger Lange handelte.

Eine weitere Verschiebung der Gewichte in der örtlichen Politik entstand durch eine Reduzierung der Zahl der amtierenden Ratmänner von vier auf (vorläufig) zwei: Wochen zuvor war Ratmann (Eduard Karl Gustav) Jacobi verstorben (siehe BZ vom 27. März 1916), und in der aktuellen Sitzung wurde das Rücktrittsgesuch des Ratmanns (Franz Friedrich Eduard) Meyns (aus Gesundheitsgründen) angenommen. Aber die Versammlung schritt nicht – was man hätte erwarten können – sogleich zur Neuwahl, denn nach Ansicht des (Rest-)Magistrats hätte dies zu politischen Konflikten geführt: „Eine Ratmannswahl kann nicht ohne Kämpfe parteipolitischer Art vorgenommen werden, die jetzt besser vermieden werden.“ So vermied man also den Konflikt, indem man das Problem (für mehrere Monate, wie sich herausstellen sollte) nicht anfasste.

 

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Himmelfahrt ohne Schinken und Schnaps

Bergedorfer Zeitung, 2. Juni 1916

Bergedorfer Zeitung, 2. Juni 1916

Die bis heute bestehende Tradition der Vatertagstouren am Himmelfahrtstag war laut Wikipedia im späten 19. Jahrhundert entstanden, und auch im Krieg suchten rollenbewusste Männer  zu diesem Zweck die Ausflugsgebiete in der Nähe der Stadt Hamburg auf, wie die nebenstehenden Artikel zeigen.

Bergedorfer Zeitung, 2. Juni 1916

Bergedorfer Zeitung, 2. Juni 1916

Es gab allerdings Einschränkungen, denn die ansonsten übliche Wegzehrung aus Schinken und „konzentriertem Alkohol“, sprich Spirituosen, gab es nicht, was aus „bitterer Notwendigkeit“ zum Bruch mit der Tradition führte. Ob dies der Fröhlichkeit wirklich keinen Abbruch tat, wie der Verfasser des Berichts schrieb? Manch ein Teilnehmer dürfte das anders gesehen haben, aber vielleicht gab es ja aufgrund des niedrigeren Alkoholpegels weniger Auseinandersetzungen und Unfälle.

Der Sieg (Österreichs) über den „falschen Verräter“ (Italien), der im zweiten Absatz angesprochen wurde, gab dem Artikelschreiber Anlass zur Klage: nur die Bergedorfer Zeitung hisste sofort die Fahne, wohingegen Stadt Bergedorf und die privaten Hausbesitzer erst am folgenden Tag den Flaggenschmuck aufzogen. Kriegsentscheidend war der Sieg (siehe BZ vom 31. Mai 1916) übrigens nicht: der Wikipedia-Eintrag zu Gallio, dem Ort der Schlacht, führt diese nicht einmal auf.

Noch eine Nachbemerkung zum ersten Absatz: „reichlich“ muss zeitgebunden verstehen: für Neuengamme betrug die Wochenration 100g Butter (siehe BZ vom 31. Mai 1916), für Bergedorf 125g (siehe BZ vom 3. Juni 1916), und das war doppelt so viel wie noch wenige Wochen vorher – siehe den Beitrag Ruhe und Ordnung beim Butterverkauf!

 

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Die Fortbildungsschule Bergedorf

Bergedorfer Zeitung, 3. Juni 1916

Bergedorfer Zeitung, 3. Juni 1916

Die Fortbildungsschule war nicht etwa eine Vorläuferin der Volkshochschule, wie man aufgrund des Namens vermuten könnte – aus ihr entwickelten sich die Berufsschulen als eigenständiger Zweig des Bildungswesens. Dreizehn Jahre nach ihrer Gründung (1903) war die „gewerbliche und kaufmännische Fortbildungsschule“ in Bergedorf aber noch Teil der Stadtschule, deren Rektor Müller als zweite dienstliche Aufgabe die Leitung auch dieser Einrichtung hatte.

Der Wert der dualen Ausbildung in Betrieb und Schule schien aber nicht allen Lehrlingen, wie die Auszubildenden damals genannt wurden, und Lehrherren klar gewesen zu sein, denn Rektor Müller führte Klage über „leichtfertige Verspätungen und Versäumnisse“ seiner Berufsschüler und auch darüber, dass „säumige Lehrherren“ beides offenbar tolerierten. Dabei wäre es, so Rektor Müller, gerade weil viele Väter im Felde standen, besonders wichtig gewesen, solch Fehlverhalten zu bekämpfen, da die Schule die Jugendlichen „auch ganz besonders erziehlich beeinflusste“.

Die Schülerzahl war im Schuljahr 1915/16 um 20 bis 25 Prozent zurückgegangen: da der Baubereich kaum noch Aufträge erhielt, wurden natürlich auch kaum oder keine Lehrlinge eingestellt, und manche Lehre musste wegen Einberufung des Lehrherrn mit nachfolgender Betriebsstilllegung abgebrochen werden. Die Maschinenfabriken, die „mit Kriegsarbeit beschäftigt“ waren, hatten auch für den Nachwuchs Arbeit und Ausbildung, aber „zahlreiche“ Jugendliche gingen in „lohnende Beschäftigungen“ als Hilfspostboten oder Arbeiter in die Pulverfabrik Düneberg, wo sie als billige Arbeitskräfte sicher gern angenommen wurden.

Für weibliche Jugendliche gab es 1916 in Bergedorf, nachdem die die im Vorjahr eingerichtete freiwillige Haushaltungs-Fortbildungsschule nach nur einem Jahr wieder eingestellt worden war, gar kein Fortbildungsschulangebot für Mädchen mehr, wenn man von der notorischen Handelsschule Hansa einmal absieht (siehe den Beitrag Heiratsmarkt und Arbeitsmarkt), während es in der Stadt Hamburg eine Reihe solcher Einrichtungen (teils aus philanthropischen Motiven gegründet) gab (siehe hierzu 150 Jahre staatliche berufsbildende Schulen in Hamburg).

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Tabuthema Geschlechtskrankheiten

Bergedorfer Zeitung, 27. Mai 1916

Bergedorfer Zeitung, 27. Mai 1916

Nur hinter vorgehaltener Hand wird man in Bergedorf über dieses Thema   gesprochen haben, und im redaktionellen Teil der Bergedorfer Zeitung tauchte es gar nicht auf. Aber es war ein Thema, wie man dem Anzeigenteil entnehmen kann.

Überraschen kann es nicht, dass sich offenbar ansteckende Geschlechtskrankheiten ausbreiteten: die

Bergedorfer Zeitung, 23. Mai 1916

Bergedorfer Zeitung, 23. Mai 1916

„Feldbordelle“ hinter der Front dürften trotz sexualhygienischer Maßnahmen wahre Infektionsherde gewesen sein, und durch Fronturlauber, Kriegsinvalide und andere Rückkehrer aus dem Feld wurden die Krankheiten in die Heimat getragen (zur Sexualität im Ersten Weltkrieg siehe kurz Herfried Münkler (S. 380 – 386) und ausführlich Hirschfeld/Gaspar). Durch derartige Krankheiten kampfunfähige Soldaten und arbeitsunfähige Zivilistinnen und Zivilisten konnte sich weder das Militär noch die Wirtschaft leisten, sodass eine Melde- und Behandlungspflicht eingeführt wurde: für Zivilpersonen war in der Regel der Amtsarzt zuständig, für Unteroffiziere und Mannschaften der Militärarzt – niedergelassenen Ärzten war die Behandlung dieser Personenkreise untersagt, vielleicht, damit sie sich auf die Behandlung der Offiziere konzentrieren konnten.

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Kein Radrennen

Bergedorfer Zeitung, 29. Mai 1916

Bergedorfer Zeitung, 29. Mai 1916

Frust pur bei den Radsportfreunden: da hatten sie sich extra zum „Waldschloss“ an der Grenze von Bergedorf nach Wentorf aufgemacht, um die Sieger des Radrennens Berlin – Hamburg zu empfangen und zu bejubeln, doch das Rennen war (offenbar kurzfristig) abgesagt worden.

Bergedorfer Zeitung, 5. Juni 1916

Bergedorfer Zeitung, 5. Juni 1916

Verantwortlich für die Absage war der Oberbefehlshaber in den Marken, zuständig für Berlin und Brandenburg, der per Verordnung eine „Einschränkung der Fahrradverkehrs“ verfügt hatte, die wenige Tage später durch das Stellvertretende Generalkommando des IX. Armeekorps in Altona, zuständig für Schleswig-Holstein, Mecklenburg und Hamburg, ebenfalls erlassen wurde: Radfahren zu Vergnügungs- und zu Sportzwecken wurde untersagt. Noch mehr Frust für die Radler, wenn sie nicht Bahnradfahrer waren (und weiterer Frust sollte folgen).

Im Jahr davor hatte es dieses Rennen noch gegeben (siehe BZ vom 8. Mai 1915): Profis und Amateure hatten teilgenommen, viele aufgegeben, aber der (nicht namentlich genannte) Sieger hatte Wentorf nach 10 Stunden, 31 Minuten und 45 Sekunden erreicht. Über den Streckenverlauf war der Zeitung nichts zu entnehmen, doch wahrscheinlich nutzte man die damalige Reichsstraße 5 (heutige Bundesstraße 5). Sollte der Startpunkt am Brandenburger Tor gewesen sein, hätte die Länge der Strecke (laut Google Maps, 2016) etwa 276 km betragen, woraus sich für den Sieger ein sehr beachtlicher Durchschnitt von über 26 Stundenkilometern ergibt, der mit einem hohen Kalorienbedarf einhergeht. Michel Angelo Freiherr von Zois kalkulierte zu Friedenszeiten (1908) den Mindestbedarf an Nahrung für ein ganztägiges Radrennen – die folgende Tabelle kontrastiert seine Bedarfsangaben mit den auf Tagesbedarf umgerechneten Bergedorfer Rationen vom Mai/Juni 1916:

TabelleDas im Artikel oben genannte Waldschloss war 1902 erbaut worden. Ein Foto des Gebäudes findet man in Zu Gast in Bergedorf auf S. 39. 1970 brannte das Haus ab. Sein seit langem leerstehender Nachfolgebau wirkt aktuell wenig einladend.

Das Waldschloss im Jahr 2016

Das Waldschloss im Jahr 2016

 

 

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Explodierende Gewinne

BZ1640094 Pulver

Bergedorfer Zeitung, 17. Mai 1916

Bergedorfer Zeitung, 12. Mai 1916

Bergedorfer Zeitung, 12. Mai 1916

 

 

 

 

 

1915 war ein gutes Jahr für die Aktionäre der „Vereinigten Köln-Rottweiler Pulverfabriken“ und der „Dynamit-Aktiengesellschaft vorm. Alfred Nobel u. Co.“, wie die Bergedorfer Zeitung im Mai in mehreren Artikeln berichtete: die gezahlten Dividenden von 25% bei den Dynamitwerken, zu denen auch die Fabrik auf dem Krümmel gehörte, und 35% bei den Pulverfabriken (mit der Pulverfabrik Düneberg) lagen deutlich höher als im Vorjahr, und der Aufsichtsratsvorsitzende der Pulverfabriken bat sogar um Verständnis, dass sie nicht noch höher ausfiel: man habe halt so viel investieren müssen, um „wirtschaftlich und technisch an der Spitze zu marschieren.“ Die „reichlichen Abschreibungen“ beider Unternehmen ergaben sich geradezu zwangsläufig aus der hohen Auslastung der Anlagen infolge der Materialschlachten des Krieges.

Die Millionenspenden für Familien von Kriegsopfern (siehe für die Dynamitwerke BZ vom 21. Juli 1916) schmälerten die Gewinne offenbar nur wenig, und auch für beachtliche Gewinnvorträge (6.395.501 M bei den Pulverfabriken, siehe BZ vom 2. Mai 1916) war noch Luft – für manche war der Krieg ein lukratives Geschäft. Und wenn mit dem Tod so gute Geschäfte gemacht wurden, war es besonders erfreulich, dass bei der Herstellung des Dynamits niemand zu Schaden gekommen war.

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Kartenlegen im Belagerungszustand – und wo blieb das fünfte Kaninchen?

Bergedorfer Zeitung, 19. Mai 1916

Bergedorfer Zeitung, 19. Mai 1916

Nicht die Milde des Schöffengerichts – immerhin wurden alle vier Strafbefehle, gegen die die Betroffenen Einspruch eingelegt hatten, sehr deutlich reduziert bzw. in einem Fall sogar aufgehoben – soll hier im Mittelpunkt stehen, sondern der als letzter geschilderte Fall der Kartenlegerin: sie hatte das Kartenlegen „gewerbsmäßig“ betrieben, und das war verboten, weil auf Bergedorf das Gesetz über den Belagerungszustand von 1851 Anwendung fand. Nach diesem Gesetz standen Hamburg und auch Bergedorf unter Militärherrschaft (§ 4), und der stellvertretende kommandierende General des IX. Armeekorps hatte einen Gummiparagraphen (§ 9 b) zur Verfügung: er konnte „im Interesse der öffentlichen Sicherheit“ Verbote verfügen, und ein solches Verbot scheint das Kartenlegen und (vermutlich) andere Formen des Wahrsagens getroffen zu haben. Warum dies im Krieg so gefährlich gewesen sein soll, erschließt sich nicht.

Die verhängte Strafe wurde zwar von 14 Tagen Gefängnis auf eine Geldstrafe von 50 M reduziert, doch erscheint auch dies im Vergleich zu den anderen Fällen dieses Gerichtstages hart.

Bergedorfer Zeitung, 23. Mai 1916

Bergedorfer Zeitung, 23. Mai 1916

Ob der Fall des Kaninchendiebs zu einer Gerichtsverhandlung führte, war der Zeitung nicht zu entnehmen, und so muss offen bleiben, was eigentlich mit dem fünften Kaninchen passiert war. Den Stallhasen wurde aber weiter nachgestellt (siehe z.B. BZ vom 29. Mai 1916), wohl weil sie leichter zu bekommen waren als die Wildkaninchen, die im Villenviertel die dort wegen der Nahrungsmittelknappheit angelegten Gemüsebeete  plünderten (siehe BZ vom 16. Juni 1916).

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