Die halbbarbarischen Frauen und ihre Ohrringe

Bergedorfer Zeitung, 3. August 1917

Zugegeben: es war ja schon vieles besser geworden, aber es gab immer noch Relikte der Barbarei, und die ausgerechnet bei den deutschen Frauen! Immer noch trugen sie Ohrringe, obwohl der alttestamentarische Prophet Jesaja diese bei den eitlen Frauen Jerusalems schon vor mehr als 2.500 Jahren verdammt hatte (Luther-Bibel, Jes. 3, 16-24)! Also: „Fort mit den Ohrringen“, gegen die laut Artikel „auch vom Kulturstandpunkt schwere Bedenken geltend gemacht werden“: halbbarbarisch und das Ohr (das durchbohrt werden musste) verunstaltend, zudem mehr als überflüssig.

Die Ohrringe der „weiblichen Wesen“ waren nicht nur aus kulturellen Gründen undeutsch: die wahrhaft deutsche Frau opferte sie und anderen Goldschmuck auf dem Altar des Vaterlandes, d.h. sie brachte alles Goldene zur Goldankaufsstelle, damit die Reichsbank die „finanzielle und wirtschaftliche Rüstung“, also die Kriegsfinanzierung, aufrechterhalten konnte, wie schon in den Beiträgen Das Gold in Ochsenwerder und Gold gab ich für Papiergeld … geschildert wurde. Hier hätte der Autor dem Abgabeappell noch mehr Nachdruck verleihen können, wenn er die Prophezeiung in Jesaja 3, 25 zitiert hätte: „Deine Männer werden durchs Schwert fallen und deine Krieger im Kampf.“

Legt man den oben zitierten „Kulturstandpunkt“ zugrunde, muss man konstatieren, dass Deutschland sich mit Piercings und Tätowierungen gegenüber 1917 signifikant zurückentwickelt hat. Sogar Männer tragen heutzutage Ohrringe!

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