Da verpasste doch tatsächlich Bergedorfs Bürgermeister bei einer dienstlichen Besprechung einem führenden Verbandsvertreter eine Ohrfeige, was hundert Jahre später bestimmt zu einem Rücktritt, einem parlamentarischen Misstrauensvotum und/oder zu einem Disziplinarverfahren geführt hätte. Nichts dergleichen geschah; eine Mitgliederversammlung der Bergedorfer SPD „bedauerte“ den Vorfall, sprach Bürgermeister Wilhelm Wiesner aber ihr Vertrauen aus und sah auch keinen Grund, ihn als Kandidaten für die bevorstehende Bürgerschaftswahl zurückzuziehen.
Was war passiert? Wie sich aus mehreren Berichten der BZ ergibt, hatte im September 1920 ein Unterstützungsberechtigter eine Zahlung von 200 Mark erhalten, aber aus der falschen Kasse, nämlich der hamburgisch-staatlichen und nicht der bergedorfisch-städtischen. Das brachte den Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegshinterbliebenen in Wallung, denn Zahlungen aus der Bergedorfer Dienststelle der staatlichen Kasse der Hauptfürsorgestelle in Hamburg durften nur mit Zustimmung des örtlichen Beirats der Hauptfürsorgestelle, in dem der Reichsbund vertreten war, erfolgen – der Beirat war aber mit der Angelegenheit gar nicht befasst worden. Dagegen protestierte der Reichsbund in Hamburg, Hamburg ermittelte, und schließlich kam es am 6. Januar 1921 zu einer Besprechung in Bergedorf zwischen Bürgermeister Wiesner einerseits und Vertretern des Reichsbundes, darunter der Hamburger Gauleiter Born, andererseits. „Im Laufe der Unterredung [hat sich dann] der Bürgermeister hinreißen lassen, den Gauleiter zu ohrfeigen.“ (BZ vom 21. Januar 1921)
Außerhalb der SPD schlugen die Wogen hoch: zwei Mitgliederversammlungen des Reichsbunds (BZ vom 13. und 17. Januar 1921) folgte eine öffentliche Versammlung im Colosseum mit 3.000 Teilnehmern, bei der u.a. der kommunistische Bürgerschaftsabgeordnete Carl Seß den Rücktritt Wiesners forderte. Doch „der Beleidigte selbst [sah] den Fall nicht für so schwerwiegend an, daß er den Bürgermeister Amt und Würden kosten müsse“, und ihm sprang die Bergedorfer SPD-Prominenz bei (BZ vom 21. Januar 1921). Dem Gauleiter Born ging es ja auch letztlich um anderes, wie aus der auf seinen Vorschlag hin beschlossenen Resolution hervorgeht: er wollte, dass die Bergedorfer Fürsorgestelle von einem Kriegsbeschädigten geleitet würde, wobei er sicher davon ausging, dass ein Mitglied seines Verbands und nicht einer konkurrierenden Organisation diese Stelle erhalten würde.
Es ist durchaus plausibel, dass die der Forderung entsprechende Stellenausschreibung einer „ersten Kraft“ für die Amtliche Fürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene Bergedorf auf diese Vorgeschichte zurückzuführen ist – ob die ausgewählte Person dem Reichsbund angehörte, ist nicht bekannt.
Ob übrigens Wiesner persönlich die nicht rechtskonforme Zahlung veranlasst hatte oder ob ein Versehen eines Sachbearbeiters in der Fürsorgestelle vorlag, blieb bis zum Ende der Berichterstattung kontrovers (BZ vom 22., 24. und 31. Januar 1921).