Kriminelle Energie macht vor nichts Halt, auch nicht vor der Fälschung von Nähgarn: für „teures Geld“ konnte man Nähzwirn kaufen, aber mit Ausnahme des Anfangs war auf der Rolle nur „ein in raffinierter Weise angesponnenes Papiergarn“, nahezu wertlos, da leicht reißend.
Der Bedarf an Nähgarn wird 1918 recht hoch gewesen sein: bevor man in Kleidung aus Papiergarngewebe herumlief, versuchte man einen Riss zu nähen oder einen Flicken auf eine defekte Stelle zu setzen. Das ging aber nur, wenn man Garn hatte, und da war das nächste Problem.
Und noch ein Problem: kam man 1918 kaum an Garn, so kommt man 2018 nur schwer an alle nötigen Informationen: ansonsten erschienen in der BZ die Bekanntmachungen der Landherrenschaften im Wortlaut und darüberhinaus oft auch als redaktionelle Meldung, aber hier riss der Faden gleich mehrfach: in Sachen Garn verwiesen die Landherren zweimal darauf, dass in den „Mitteilungen der Landherrenschaften“ eine Bekanntmachung zu finden sei – mehr nicht (BZ vom 13. Juli und 21. September), und die BZ verzichtete auf eine redaktionelle Berichterstattung, über die sich die Leser und Leserinnen sicher gefreut hätten. Die „Mitteilungen“ konnten eingesehen werden (im Staatsarchiv Hamburg, nicht im Museum für Bergedorf und die Vierlande – dazu unten eine Anmerkung), aber völlige Klarheit brachte das auch nicht: in den „Mitteilungen“ fand man zwar Details über den Kreis der Berechtigten sowie die zu empfangene Ration und dass der Zeitraum der Verteilung „noch bekanntgegeben“ werden sollte (z.B. Mitteilungen der Landherrenschaften Nr. 7/1918 vom 18. Februar, Bekanntmachung Nr. 96), doch dazu folgte dann keine offizielle Bekanntmachung.
Man könnte vermuten, dass nur angekündigt, aber nicht verteilt wurde, doch ganz so war es nicht: im Mai erhielten Verarbeitungsbetriebe der Textilwirtschaft Baumwollnähfäden (BZ vom 18. Mai), in Hamburg sollte im Juni 1918 eine allgemeine Ausgabe stattfinden (BZ vom 1. Juni), und das Kaufhaus Schwarz in Zollenspieker inserierte, dass Nähgarn und Zwirn gegen erhaltene Bezugskarte abgeholt werden könnten (BZ vom 26. Juli). In Besenhorst (auf Nähgarnkarte) und Sande (auf Fettkarte) erhielten Schwerarbeiter im August eine Zuteilung (BZ vom 3. und 5. August 1918). Darüber hinaus wird es weiteres Nähgarn für „Verarbeiter“ (z.B. Schneider) gegeben haben, denn im zweiten Halbjahr 1918 tauchten vermehrt Anzeigen auf, in denen Näherinnen gesucht wurden, u.a. vom Bergedorfer Frauenverein zum Nähen von Militärhemden (BZ vom 9. Oktober).
Bedarfsdeckend war das aber offenbar nicht: für die Leinennähzwirnration musste man in Besenhorst 15 Pfennig bezahlen, für 200 Meter Baumwollnähfaden in Sande 33 Pfennig (BZ vom 3. August und 6. April). Auf dem Schwarzmarkt wurden angeblich 17 Mark gefordert (BZ vom 23. September), wobei die Fadenlänge außer in Sande ungenannt blieb.
Die nächste in der BZ gefundene offizielle Information zum Thema kam vom Magistrat der Stadt Bergedorf, aber erst nach der Abdankung des Kaisers und nach der Revolution: vom 19. Januar bis 19. Februar 1919 sollte die Ausgabe erfolgen (BZ vom 22. Januar 1919). In der offiziellen Bekanntmachung der Landherren hatte es kurz vorher geheißen: „Das durch die Bekanntmachung der Landherrenschaften vom 20. September 1918 für die Verteilung im zweiten Kalenderhalbjahr 1918 angekündigte Nähgarn … beginnt erst jetzt einzutreffen.“ (Mitteilungen der Landherrenschaften Nr. 2/1919 vom 13. Januar, Bekanntmachung Nr. 96)
So musste sich 1918 mancher wohl auf das Sammeln von Brennnesseln verlegen, denn für getrocknete Stängel sollte es Geld geben und zusätzlich „einen Wickel Nähfaden“ – allerdings bestand dieser aus Brennnesselmischgarn (BZ vom 18. Juni), über dessen Halt- und Belastbarkeit hier keine Erkenntnisse vorliegen.
Anmerkung:
Von dem Jahrgang 1918 der „Mitteilungen der Landherrenschaften“ gibt es laut Bibliothekssystem Hamburg nur zwei öffentlich zugängliche Exemplare. Das eine befindet sich im Staatsarchiv Hamburg, das andere gehört zum Bestand des Museums für Bergedorf und die Vierlande – aber seit der Renovierung und Umgestaltung des Dachetage des Bergedorfer Schlosses ist es nicht mehr zugänglich: die Bibliothek hat jetzt weniger Platz, und deshalb ist ein erheblicher Teil des Bestands auf unbestimmte Zeit „eingelagert“ und kann nicht genutzt werden.