Der Schleichhandel und die Sonderversorgung der Industrie

Bergedorfer Zeitung, 24. Dezember 1917

Der Schleichhandel, d.h. die Überschreitung von Höchstpreisen oder der Verkauf von Waren, die gar nicht frei gehandelt werden durften, war Dauerthema jener Zeit (siehe z.B. den Beitrag Himmelfahrt = Hamsterfahrt). Dabei ging es nicht nur um ein paar Zentner Kartoffeln oder ein paar Eier, wie aus diesem Artikel deutlich wird, sondern um andere Dimensionen, die die Gemeinden vor große Probleme stellten: der heutige Berliner Bezirk Neukölln war damals eine selbständige Stadt und musste sich „des wucherischen Schleichhandels bedienen“, um seine Bevölkerung zu versorgen, denn die Großindustrie machte „zu jedem Preis die umfangreichsten Aufkäufe“.

Ein solcher Großeinkäufer im Hamburger Raum war die Pulverfabrik Düneberg: nach einem bei Karl Gruber (S. 43f.) wiedergegebenen Bericht der Fabrik über das Jahr 1917 kaufte diese neben den „behördlichen Zuweisungen“ weitere angeblich „beschlagnahmefreie Waren“ wie Mehl, Nudeln, Speisefette, die sie dann verbilligt an ihre Arbeiter und Arbeiterinnen abgab und dafür 3,8 Millionen Mark aufwendete.

Die für Düneberg beschafften Waren hatten ein Gesamtgewicht von 16.431 Zentnern. Bei angenommenen 15.000 Beschäftigten einschließlich Bauarbeitern ergeben sich daraus 54,8 Kilogramm Lebensmittel pro Kopf und Jahr, die diese in der „Konsumanstalt“ (Link zu einem Foto) erwerben konnten. Von den insgesamt beschafften 1.460 Zentnern „Butter, Fett, Speck“ entfielen rechnerisch auf jede Person wöchentlich 94 Gramm – das klingt nicht viel, war aber mehr als in Sande (50g Butter und 40g Margarine), dem Landgebiet mit Geesthacht (25g Butter und 55g Margarine) und Bergedorf (30g Butter und 50g Margarine), und diese „Fettwarenmenge der versorgungsberechtigten Bevölkerung“ sollte sich ab dem 1. Januar nur noch auf 62,5g belaufen (BZ vom 17., 20., 22. und 29. Dezember 1917). Aber die „Sonderversorgung durch die industriellen Werke“ sollte ja nun aufhören – das war die frohe Weihnachtsbotschaft für alle, die von den Extrarationen nichts abbekamen.

Am 14. Januar 1918 berichtete die BZ über eine Besprechung zwischen Vertretern der zuständigen Zivil-und Militärbehörden und der Industrie, die zu folgendem (wenig überraschenden) Ergebnis kam: „Allseitig war man sich darin einig, daß die Bereitstellung der zur legalen Belieferung notwendigen Lebensmittel die sofortige Unterdrückung des Schleichhandels zur Voraussetzung hat.“  Mit anderen Worten: wenn der Staat es nicht schafft, den Schwarzmarkt zu beseitigen, wird die Industrie weiterhin auf diesem kaufen und dabei auch Wucherpreise zahlen, was übrigens nach einem kurze Zeit später gefällten Urteil des Reichsgerichts für den Käufer nicht strafbar war (BZ vom 14. Februar 1918). Für den Händler bzw. Verkäufer im „gewerbsmäßigen Schleichhandel“ wurden die Strafen verschärft: die Verhängung einer Freiheitsstrafe wurde zwingend vorgeschrieben, und die ebenfalls festzusetzende Geldstrafe konnte bis zu 500.000 Mark betragen (BZ vom 11. März 1918). Ein Verbot der Sonderversorgung gab es aber nicht.

 

 

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