War der Rechtsanwalt so gut, das Gericht so nachsichtig – oder hatte die Landherrenschaft bei der Verhängung von Strafbefehlen wegen Verstößen gegen die Fortbildungsschulpflicht heillos überzogen?
Dreizehn Freisprüche an einem Sitzungstag des Schöffengerichts Bergedorf: alle für Einwohner von Kirchwärder, alle aus demselben Grund. Wenn man das ganze Jahr 1921 betrachtet, gab es sieben Gerichtstage zu ein- und demselben Tatbestand, an denen in 71 Fällen Einsprüche von Eltern oder Arbeitgebern aus Kirchwärder verhandelt wurden. Vielleicht waren es nur 70 Fälle, denn in zwei Berichten tauchten identische Namen auf (BZ vom 29. Juli und 10. September), vielleicht war es aber ein „Wiederholungsfall“, Ergebnis: (zweimal?) Freispruch.
Insgesamt 69mal (oder 68mal?) gab es Freisprüche; für einen Fortbildungsschüler erreichte der Anwalt immerhin die Halbierung der Zahlung auf 60 Mark für zwei Verstöße (BZ vom 14. Mai), und nur ein einziges Mal hatte der Strafbefehl in voller Höhe Bestand: ein Landwirt musste wegen „unbefugten Fernhaltens seines Dienstmädchens vom Fortbildungsschulbesuch“ 60 Mark zahlen (BZ vom 13. August).
Die Freisprüche erfolgten, soweit dies den Berichten zu entnehmen war, weil ein „unbefugtes Fernhalten“ nicht nachgewiesen werden konnte – die Tatsache des Fernbleibens wurde nicht bestritten, was die Unbeliebtheit der Pflicht-Fortbildungsschule in den Dörfern widerspiegelt. Immer wieder forderten Bauern und Gärtner die Aussetzung, mindestens eine Halbierung des Unterrichts im besonders arbeitsreichen Sommerhalbjahr (siehe z.B. BZ vom 12. April 1921). Man kann sich auch vorstellen, dass Schüler sich einen sowohl arbeits- als auch schulfreien Tag genehmigten und nicht unbefugt ferngehalten wurden – aber warum hätte es in Kirchwärder anders sein sollen als in Altengamme, Curslack oder Neuengamme, von wo nicht ein einziger Streitfall in der BZ gemeldet wurde? Vielleicht waren die Lehrer in Kirchwärder (und ihnen folgend die Landherrenschaft) einfach strenger in der Anwendung der Vorschriften, nach Auffassung des Gerichts zu streng, während man woanders eher ein Auge zudrückte.