Das Elend in Bergedorf

Bergedorfer Zeitung, 4. November 1920

Viele Teilnehmer der Erwerbslosen-Kundgebung werden wegen der Kartoffel- und Kohlenpreise mit zum Stadthaus gezogen sein und preisgünstige Belieferung gefordert haben. Das Entgegenkommen Bürgermeister Wiesners war allerdings begrenzt: nur wenn es gelinge, billigere Kartoffeln aus der Umgegend zu erhalten, könne der Preis gesenkt werden, doch diese Hoffnung zerschlug sich nach wenigen Tagen – da erklärten die benachbarten Kreise Stormarn und Herzogtum Lauenburg, dass sie selbst „Bedarfskreise“ seien und nicht liefern könnten (BZ vom 18. November). Wiesner hatte auch angeboten, aus den Beständen der Stadt Kartoffeln „zum Selbstkostenpreis“ abzugeben – dieser lag aber bei 36 Mark pro Zentner, wie Wiesner in einer dringlichen Sitzung von Magistrat und Bürgervertretung darlegte (BZ vom 8. November), und das war weit entfernt von der Forderung.

Bergedorfer Zeitung, 8. November 1920

Es war ein Dilemma für die Stadt: an billige Kartoffeln kam sie nicht heran, auch nicht an Kohlen, die amtlichen Unterstützungssätze für Erwerbslose durfte sie nicht erhöhen, und anderen gehe es nicht besser, wie der Sozialdemokrat Tonn in der Sitzung darlegte. Nach seinen Worten sei „ein Elend“ festzustellen, das nicht nur die Lage der 1.012 Erwerbslosen mit Familienangehörigen, sondern  doppelt so vieler Menschen („Rentner, Pensionäre, Kriegsbeschädigte, Kriegerwitwen usw.“) kennzeichne. Bei knapp 17.000 Einwohnern der Stadt Bergedorf heißt das, dass fast jeder fünfte Not litt – eine erschreckende Zahl.

Tonn zeigte aber auch einen Ausweg auf: das Wohlfahrtsamt sollte auf Antrag Zuschüsse zur „Bestreitung des notdürftigen Lebensunterhalts“ zahlen, und diesem Vorschlag folgte das Beschlussgremium mit großer Mehrheit – nur die USP-Vertreter stimmten dagegen, weil die Forderungen der Erwerbslosen berechtigt seien (BZ vom 8. November).

Wie viele Bedürftige dann solche Zuschüsse erhielten und in welcher Höhe sie gezahlt wurden, ob das Elend verringert wurde, stand nicht in der BZ. Das Gewerkschaftskartell jedenfalls forderte von der Stadtverwaltung, „der Forderung der Erwerbslosen nicht nachzugeben“, da dies die Versorgung der Bevölkerung gefährden würde (BZ vom 12. November).

Bergedorfer Zeitung, 13. November 1920

Das wiederum führte zu einem Sprechsaal-Beitrag „mehrerer Erwerbsloser“: den „Herren vom Gewerkschaftskartell“ fehle es an menschlichem Gefühl, und die Briefschreiber drohten: „Bekommen wir keine Unterstützung vom Kartell, dann sind wir gezwungen, dahin zu gehen, wo wir unterstützt werden.“ Laut Bürgermeister Wiesner hatten sie sogar „Selbsthilfe“ angekündigt (BZ vom 8. November), aber so weit ist es wohl nicht gekommen.

Der „Erwerbslosenrat“ übrigens, der im Artikel oben erstmals Erwähnung fand und in der Bergedorf-Literatur gar nicht auftaucht, schien einen offiziellen Status zu haben: das Arbeitsamt zahlte ihm offenbar eine Vergütung, die der Rat als zu gering ansah. Ob er einen Sitz im (Miete-(?))Schlichtungsausschuss erhielt, wurde nicht berichtet; es ist aber eher unwahrscheinlich.

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