Der Spielfilm „Mutter“ im Schulkino

Bergedorfer Zeitung, 16. Januar 1924

Nur sehr selten kündigte die BZ im redaktionellen Teil Filme an, die in Bergedorf auf die Kinoleinwand kamen, aber wenn von höchster Stelle, also vom Reichspräsidenten, „volle Zustimmung“ zu einem Film ausgesprochen wurde und es ein zweistündiger Schulfilm war, dann war das schon eine Meldung wert, und der Film sollte „allen Kindern zugänglich“ gemacht werden.

Im Gegensatz zu den (äußerst wenigen) Schulfilmen, die in den Jahren zuvor gezeigt worden waren, sollte dieser nicht Wissen vermitteln, „sondern auf die Gesinnung wirken“, er war also kein Dokumentar-, sondern ein Spielfilm, und das generelle Verbot für Unterachtzehnjährige, Spielfilme (außer Märchenfilmen) im Kino zu sehen (BZ vom 1. September 1920) wurde durch die Reichszensurstelle in diesem Falle aufgehoben, „wegen seines sittlichen Wertes und seiner künstlerischen Artung“ (Echo der Gegenwart vom 6. Oktober 1923).

Bergedorfer Zeitung, 25. Januar 1924

Das „Hohe Lied der Mutterliebe“ sang laut Anzeige der Film, der zu seiner Zeit mit 80 Millionen Zuschauern (Velberter Morgen-Zeitung, 30. Januar 1924) der Blockbuster schlechthin war – trotzdem hat sich nicht eine einzige Kopie davon erhalten, und man muss auf Spurensuche gehen, wenn man etwas über ihn erfahren möchte: die Hauptdarstellerin Mary Carr verkörperte die treusorgende Mutter offenbar so überzeugend, dass sie in weiteren Filmen ebenfalls in dieser Rolle auftrat und den Spitznamen „The Mother of the Movies“ erhielt.

Der Titel des US-Originalfilms von 1920 war „Over the Hill to the Poorhouse“, nach einem Gedicht von William Carleton, das im Internet Archive zugänglich ist. Während das Gedicht am Ende die Mutter im Armenhaus sieht, wird sie im Film letztlich davor bewahrt – in den Worten eines wenig begeisterten Kritikers: „Die Handlung ist durch die Schlagworte: Mutter, Kinder, Vater als Pferdedieb, Sohn übernimmt dessen Rolle, Gefängnis, Ausland, Rückkehr, Verlobung, Versöhnung: Alles in Butter! Schluß! Genügend gekennzeichnet.“ (Westfälische neueste Nachrichten vom 21. August 1924) Freundlicher sahen dies u.a. die Rheinische Volkswacht vom 10. Oktober 1923, der (Bonner) Generalanzeiger vom 21. März 1924 und die Bergheimer Zeitung vom 24. Dezember 1924.

Wie sich der im Artikel genannte „Pendelverkehr“ zwischen den Kinos in Bergedorf und Sande, der die „gleichzeitigen“ Vorführungen im Detail gestaltete, ist unbekannt. Die „8 Akte“ werden 8 Filmspulen entsprochen haben, aber zumindest eine knappe halbe Stunde Zeitversatz muss es gegeben haben, was sich wohl über das „ausgesucht schöne Beiprogramm“ organisieren ließ.

(Anmerkung: die etwas exotisch anmutenden Zeitungen wurden mittels Volltextsuche nach „Mary Carr“ im Deutschen Zeitungsportal gefunden.)

 

 

 

 

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