Kolloquium über das kulturelle Feld in der Metropolregion Hamburg 1945–1955.
„Hamburg, das ist mehr als ein Haufen Steine.“ Wer kennt nicht diese emphatische Feststellung des vor 65 Jahren, am 20.11.1947, verstorbenen Wolfgang Borcherts. Als Hamburg nach Kriegsende in Trümmern liegt, beschwört der junge Autor das Bild einer Stadt, die ihren Bewohnern wieder Heimat geben kann. Borcherts Feststellung lässt sich auf die Bewusstseinslage der Menschen unmittelbar nach 1945 beziehen, die das Ende von Krieg und Nationalsozialismus als einen Zusammenbruch, als eine vermeintliche „Stunde Null“ erlebt haben und nach der Zukunft fragen. Borcherts Satz trifft aber auch in dem Sinne zu, dass Hamburg schnell zu einem bedeutenden kulturellen Anziehungspunkt wird.
Die Stadt wird als Ort der Literaturproduktion interessant, zahlreiche Medienunternehmen werden hier ansässig, Verlage, Zeitungen und Zeitschriften werden lizensiert, der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) entwickelt sich zu einem wichtigen Medium auch für die Literatur im Norden und Westen Deutschlands. Mit dem Kriegsende und dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ als ereignisgeschichtlichen Epocheneinschnitt stellt sich für alle Beteiligten die Frage nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Das Grenzdatum 1955 ist dagegen als eine grobe Orientierung gewählt, um die durch den Eintritt einer jüngeren Generation von Autoren (z. B. Siegfried Lenz, Peter Rühmkorf) ins Feld sich ergebenden Veränderungen mit zu erfassen. Das Hamburger literarische Feld als Teil des kulturellen Feldes etabliert sich nach dem Ende der politischen und ideologischen Formierung in Weltkrieg und „Drittem Reich“ wieder als ein relativ eigenständiger Raum. Hier suchen verschiedene Akteure und Institutionen ihre Positionen und reden, schreiben und handeln in einem System wechselseitiger Beziehungen. Dazu gehören neben den Autoren zum Beispiel die Akteure in Verlagen, Agenturen, im Buchhandel, Nordwestdeutschem Rundfunk, ferner in Film, Theater, den Bibliotheken, der Universität und – kaum zu erfassen – das Publikum. Hinzu kommt, dass in das literarische Feld relativ eigenständige Subfelder eingelagert sind, wie zum Beispiel das der Kinder- und Jugendliteratur oder der Funkautoren. Das Hamburger literarische Feld ordnet sich ferner zunehmend ein in das Übergreifende der Nachkriegszeit, das unter anderem von dem sich verschärfenden West-Ost-Konflikt und der Teilung Deutschlands geprägt ist. Nach der Währungsreform im Jahre 1948 wälzen der sich entwickelnde freie Markt und veränderte Publikumswünsche das Feld um.
Das Kolloquium stellt Werke, Autoren, Medien und Institutionen der Nachkriegszeit vor. In diesem Zusammenhang geht es um existenzielle Grenzerfahrungen im Krieg und danach, wie Todesdrohung, Hunger, Entwurzelung, Flüchtlingselend, aber auch um die Suche nach Identität, Wertvorstellungen und um die Hoffnungen auf einen „Wiederaufbau“ nach den Trümmern. Ungeklärt bleibt, wie mit der jüngsten Vergangenheit (Krieg und Faschismus) umgegangen werden soll – auch mit den Verwicklungen Einzelner. Eine heftige Diskussion über Schuld, Mitschuld, „Kollektivschuld“ ergibt sich, die in den fünfziger Jahren bereits verdrängt zu werden droht. Strittig sind auch die Schreibweisen. Rückkehrende Emigranten haben es sehr schwer, im Hamburg nach 1945 Fuß zu fassen.
Deutlich werden ferner die Schwierigkeiten und unterschiedlichen Wege „junger“ Autoren. Als Dokument eines Prozesses der Vergegenwärtigung und Verarbeitung von Erfahrungen kommt der Literatur eine besondere historische Authentizität zu. Der Maßstab der individuellen Authentizität wird dabei heute zunehmend von dem einer allgemeinen zeitgeschichtlichen Repräsentation abgelöst. Damit tragen die Literatur und die anderen kulturellen Medien zum kulturellen Gedächtnis bei. Das Kolloquium wird in Zusammenarbeit mit der Wolfgang-Borchert-Gesellschaft veranstaltet.
Programm:
Freitag, 16. November 2012:
16.00 Uhr
Begrüßung
16.15–17.30 Uhr
Moderation: Dr. Marianne Lüdecke, Institut für Germanistik, Universität Potsdam
„To project Britain“. Ziele und Maßnahmen britischer Besatzungspolitik in Deutschland nach 1945
Prof. Dr. Gabriele Clemens, Historisches Seminar, Universität Hamburg
Zwischen Kriegsmystifikation, Auseinandersetzung mit NS-Greueln und Eskapismus. Ein Blick auf die Nachkriegsdramatik in Hamburg 1945–1955
PD Dr. Christine Künzel, Institut für Germanistik II, Universität Hamburg
17.30 Uhr
Pause
17.45–19.00 Uhr
Moderation: Melanie Mergler, M. A., Hamburg
Der Rundfunk und das literarische Feld in der Metropolregion Hamburg 1945–1955
Dr. Hans-Ulrich Wagner, Forschungsstelle Geschichte des Norddeutschen Rundfunks, Hans-Bredow-Institut, Universität Hamburg
„Die Stadt ist voller Geheimnisse“. Vom Trümmerfilm zum Wiederaufbau: Das Bild Hamburgs in Filmen der Nachkriegszeit
Michael Töteberg, Autor, Leiter der Agentur für Medienrechte im Rowohlt Verlag, Reinbek
Sonnabend, 17. November 2012:
9.30–11.30 Uhr
Moderation: Prof. Dr. Gordon Burgess, Department of German, University of Aberdeen
„Ich fand mich wieder, aber so, als ob ich einen Schlag bekommen hätte“. Wolfgang Borchert
und die jungen Hamburger Autoren Siegfried Lenz und Peter Rühmkorf
Prof. Dr. Hans-Gerd Winter, Institut für Germanistik II, Universität Hamburg
Die Darstellung des Luftkrieges gegen Deutschland bei Borchert und anderen Autoren der Nachkriegszeit
Francesca Caon, M. A., Castelfranco Veneto, Italien
Kreative Zerstörung. Untergangsszenarien und die Neugeburt des Helden in der frühen Prosa
Hans Erich Nossacks
Prof. Dr. Inge Stephan, Institut für Germanistik, Humboldt-Universität zu Berlin
11.30–12.00 Uhr
Kaffeepause
12.00–13.30 Uhr
Moderation: Prof. Dr. Hans-Gerd Winter, Institut für Germanistik II, Universität Hamburg
Aufbruch oder Rückschritt? Hamburger Kinderund Jugendbuchverlage und ihre Autoren nach 1945
Barbara Asper, Autorin im Bereich Kinder- und Jugendbuch, Berlin
„Was in Hamburg kulturell passierte, das ging uns irgendwie durchs Haus“. Die Gründung der
Literaturagentur Liepmann und der publizistische Neubeginn ihres Namenspatrons
Wilfried Weinke, Historiker, Publizist, Kurator, Hamburg
13.30–15.00 Uhr
Mittagspause
15.00–16.30 Uhr
Moderation: Bernd Kraske, Leiter des Kulturzentrums Schloss Reinbek
Die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg – Katastrophe und Neuanfang
Prof. Dr. Horst Gronemeyer, Direktor i. R. der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, Hamburg
Aus Text, Kontext und Archiv gefischt: Literatur und (Literatur-)Wissenschaft in Hamburg im
Verhältnis zur Literatur über Hamburger Nachkriegs- Literatur/-wissenschaft
Myriam Richter, M. A., Arbeitsstelle für Geschichte des Wissens und der Literatur, Universität Hamburg
16.30–16.45 Uhr
Kaffeepause
16.45–18.45 Uhr
Moderation: Dr. Hans-Ulrich Wagner, Forschungsstelle
Geschichte des Norddeutschen Rundfunks, Hans-Bredow-Institut, Universität Hamburg
Ein Konzept von „Widerstandsliteratur“ in der Nachkriegszeit: Franz Ahrens und die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Prof. Dr. Helmut Peitsch, Institut für Germanistik, Universität Potsdam
Rolf Italiaander als Schlüsselfigur in literarischen Netzwerken im Hamburg der fünfziger Jahre
Dr. Mirko Nottscheid, Institut für Germanistik II / PD Dr. Andreas Stuhlmann, Institut für Medien und Kommunikation, beide Universität Hamburg
„Kalte Heimat“. Flüchtlinge und Vertriebene in den frühen Nachkriegstexten Arno Schmidts
Kirsten Möller, Stipendiatin des Graduiertenkollegs „Geschlecht als Wissenskategorie“, Humboldt-Universität zu Berlin
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Termin:
Freitag, 16.11.12, 16.00–19.00 Uhr
Sonnabend, 17.11.12, 09.30–18.45 Uhr
Warburg-Haus, Heilwigstraße 116
Kontakt:
Frau Friederike Ockert
E-Mail: wb@aww.uni-hamburg.de