Rezensiert für H-Soz-Kult von Michael Jung, Leibniz Universität Hannover
Universitäten forschen über dieses und jenes, über bedeutende und weniger bedeutende Dinge. Nur wenig Forschungsaugenmerk wurde dabei jedoch lange Zeit auf die eigenen Geschichten gerichtet. So dauerte es bis Ende der 1970er-Jahre, bis eine erste Monographie über eine deutsche Universität im Nationalsozialismus erschien.
Zur Entnazifizierung der Lehrenden der Universität Hamburg legte kürzlich Anton F. Guhl seine im Wallstein Verlag veröffentlichte Dissertation vor, die sich als „bisher umfassendste Studie zur Entnazifizierung einer deutschen Universität“ bezeichnet. In zehn Kapiteln nebst einem tabellarischen Anhang sollen die „Wege aus dem ‚Dritten Reich’“ von über 200 Lehrenden nachgezeichnet werden. Sind diese „Wege“ wirklich angelegt worden, waren sie gangbar und nicht nur Fluchtwege aus der Verantwortung? Auf die Schwierigkeiten einer Klärung solcher Fragen weist der Autor bereits in einem der ersten Sätze der Einleitung hin, denn „die meisten Professoren verweigerten eine wahrhaftige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ (S. 11), eine Haltung, wie sie allgemein in Deutschland sehr verbreitet war.
Die Arbeit basiert unter anderem auf einschlägiger Entnazifizierungsliteratur sowie vor allem auf Materialien aus unterschiedlichen Archiven, wie zum Beispiel den britischen National Archives, dem Hamburger Staatsarchiv und dem Universitätsarchiv. Aus dem Bundesarchiv wurden nur wenige Bestände genutzt. Warum die personenbezogenen Bestände des ehemaligen Berlin Document Center (mit Ausnahme der Mitgliederkartei) sowie thematisch ähnliche Unterlagen aus dem Bundesarchiv nicht recherchiert worden sind, ist angesichts ihrer Relevanz für die Klärung von NS-Belastungen rätselhaft.
Bevor Guhl zu seinem „Herzstück“, den „Entnazifizierungswegen“ in den einzelnen Hamburger Fakultäten kommt, beleuchtet er in drei Kapiteln (zwei bis vier) den für das Verständnis des Entnazifizierungsprozesses notwendigen Hintergrund. Zunächst gibt er einen kurzen Überblick über die Wege ins „Dritte Reich“, also über die auch an der Hamburger Universität erst 1933 in deutlich sichtbarem Umfang einsetzende Nazifizierung. Sehr anschaulich wird die individuelle Bereitschaft zur Mitarbeit im NS-System an dem Pharmakologen und späteren langjährigen Dekan und Rektor der Universität, Eduard Keeser, exemplifiziert. Ab 1937 Parteigenosse, wirkte er in seinen universitären Funktionen im Sinne des Nationalsozialismus, war zum Beispiel an der Entziehung von Graden aus politisch-rassistischen Gründen und der Berufung von NS-Hardlinern maßgebend beteiligt. Er schätzte sich jedoch im Mai 1945 als keinesfalls „politisch exponiert“ (S. 51) ein.
Weiterhin gibt Guhl einen ziemlich umfassenden Einblick in das Verfahren der Entnazifizierung in der britischen Besatzungszone allgemein und speziell in der Stadt Hamburg sowie der Universität (Kapitel 3). Bemerkenswert dabei ist, dass die einzelnen Fakultäten von sich aus schon früh, spätestens Anfang Juni 1945, die Initiative zu einer politischen Säuberung ergriffen, indem Listen darüber aufgestellt wurden, wer von den Lehrenden als „einwandfrei“, „zweifelhaft“ oder für eine künftige Tätigkeit als zu sehr NS-belastet einzuschätzen sei (vgl. S. 74ff.). Schließlich (Kapitel 4) beschäftigt sich der Autor mit den „Ritualen“ der Entnazifizierung und widmet seine Aufmerksamkeit zunächst der Grundlage aller Entnazifizierungen: dem Fragebogen in seinen unterschiedlichen Versionen.
Mitte 1945 verfügte die Universität Hamburg über vier Fakultäten (Rechts- und Staatswissenschaften, Medizin, Philosophie und Mathematik/Naturwissenschaften), von denen allein die Medizinische über 40 Prozent der fast ausnahmslos männlichen 220 „aktiven“ Professoren und Dozenten beherbergte. Von nahezu allen dieser Lehrenden konnte Guhl Entnazifizierungsakten einsehen. Daraus ließ sich feststellen, dass 125 dieser Personen von Entnazifizierungsmaßnahmen betroffen waren, die zu einer – meist vorübergehenden – Entlassung aus dem Dienst an der Universität Hamburg führten.
Die von den einzelnen Fakultäten vorgenommenen Selbsteinschätzungen hinsichtlich der NS-Belastung differierten erheblich. Für alle Fakultäten kann festgestellt werden, dass kurz nach dem Ende der NS-Herrschaft das Engagement für eine gründliche Säuberung im Personalbereich zunächst in größerem Maße vorhanden war, dann jedoch immer mehr nachließ – auch das eine Erscheinung, die in allen gesellschaftlichen Bereichen in ganz Deutschland zu erkennen war.
Dass sich diese Veränderung in unterschiedlichen Geschwindigkeiten vollzog, lag an den handelnden Personen. Zum Beispiel hatte in der medizinischen Fakultät der zu den Opfern des NS-Regimes zählende Ordinarius für Kinderheilkunde, Rudolf Degkwitz, großen Einfluss auf das dortige Entnazifizierungsgeschehen und galt als „Verfechter einer unnachgiebigen Haltung gegenüber nationalsozialistisch kompromittierten Lehrenden“ (S. 249). Sein Weggang 1948 war sicherlich nicht unwesentlich für eine größere Kompromissbereitschaft gegenüber den ehemaligen NS-Parteigängern.
Nur ganz vereinzelt wurden nach 1945 Opfer des NS berufen, wie Guhl in einem kurzen Abschnitt über die „neue“ Personalpolitik (ab S. 361) feststellt. Das geschah oftmals unter dem Deckmantel einer angeblich „reinen Wissenschaftlichkeit“ (so etwa in der juristischen und staatswissenschaftlichen Fakultät), der zufolge politische Überlegungen keine Rolle spielen sollten. Leider umfasst das Kapitel im Wesentlichen nur die Jahre bis 1949.
Es gab unterschiedliche Wege im Rahmen der Entnazifizierungsverfahren. Es gab jedoch immer nur ein Ziel: Die eigene Beteiligung am Nationalsozialismus sollte als möglichst gering erscheinen. Waren das wirkliche „Wege aus dem ‚Dritten Reich‘“? Mental zumindest war diese Vergangenheit – jedenfalls bei einigen Lehrenden – auch 1969 nicht „bewältigt“, der Weg nicht beschritten: So setzte der damalige Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät die Entlassungen aufgrund von NS-Belastung nach 1945 mit den rassistisch-politisch motivierten Vertreibungen der Nationalsozialisten gleich (vgl. S. 192).
Trotz der Kritikpunkte stellt die Veröffentlichung für die Universität Hamburg einen hoch einzuschätzenden Beitrag zu ihrer Geschichte dar, der zu einer weiteren Beschäftigung mit den Nachwirkungen der NS-Zeit anregt. Und das gilt nicht nur für Hamburg, sondern auch für alle Hochschulen, die dazu noch keine oder nur wenige Anstrengungen unternommen haben.
Quelle: Michael Jung: Rezension zu: Guhl, Anton F.: Wege aus dem »Dritten Reich«. Die Entnazifizierung der Hamburger Universität als ambivalente Nachgeschichte des Nationalsozialismus. 2021 Göttingen
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