Die Völkerkundesammlung der Hansestadt Lübeck lädt in Kooperation mit dem Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck und der Gesellschaft für Geographie und Völkerkunde zu einer interdisziplinären Tagung ein, die vom 27. bis 29. Oktober 2020 in Lübeck stattfindet.
Mit dem Begriff „Völkerschau“ wird eine Fülle höchst unterschiedlicher Präsentationen von Menschen fremdkultureller Herkunft bezeichnet, die meist vor 1945 stattfanden. Das Spektrum dieser Veranstaltungen reicht von den vieldiskutierten Völkerschauen des Hamburger Zoo-Unternehmers Hagenbeck und Zirkustourneen, über „Eingeborenendörfer“ auf Kolonialschauen und Weltausstellungen bis hin zu lokalen Auftritten von Indigenen in Theatern, Gasthöfen oder Schaubuden auf Volksfesten. In der bisherigen Forschung ist primär die Bedeutung der größeren Völkerschauen im Kontext des Kolonialismus und Rassismus herausgearbeitet worden, wobei die Opferrolle der zur Schau gestellten besondere Betonung fand. Einige neuere Studien bemühen sich auch um eine differenzierte Darstellung der Agency der Indigenen, indem sie deren Sichtweisen, ihren Motivationen und Handlungsspielräumen im Rahmen solcher Veranstaltungen nachspüren. Dabei beschränkt sich die Völkerschau-Forschung weitgehend auf Bild- und Textquellen.
Tatsächlich existiert in deutschen Museen eine Reihe von ethnographischen und naturkundlichen Sammlungen, die in ihrer Provenienz mit solchen Veranstaltungen verknüpft sind. Im Rahmen dieser Tagung soll erstmalig ein Überblick über diese Bestände gegeben und Möglichkeiten einer interdisziplinären Erforschung solcher „Völkerschau-Objekte“ diskutiert werden.
Interessant ist sowohl die Ethnographica oder Naturalien, die während der Anwerbungsreisen in den betreffenden Ländern gesammelt wurden, als auch Objekte, die von den Indigenen erst während der Schauen produziert, verwendet oder verkauft wurden. Wie die Reisen der Brüder Jakobsen an der nordamerikanischen Nordwestküste in den 1880er Jahren belegen, wurden z.T. schon im Rahmen der Anwerbung von Indigenen in den Herkunftsländern umfangreiche Sammlungen gezielt für den Verkauf an Museen angelegt. Solche Sammlungsreisen ließen sich als eine Art Forschung darstellen. Und auch die Völkerschauen selbst erhoben den Anspruch, einen Bildungsauftrag zu erfüllen. Die Indigenen wurden während ihrer Tourneen häufig von Wissenschaftlern befragt, fotografiert und anthropologisch vermessen. Im Falle ihres Ablebens konnten sogar ihre Schädel in medizinischen und musealen Sammlungen enden. Weithin unbeachtet geblieben ist hingegen, dass die Indigenen bisweilen auch Übersetzungsarbeiten oder die Interpretation von Exponaten für die Museen leisteten, die somit ebenfalls in die Kategorie „Völkerschau-Objekte“ fallen. Ohne die kolonialen Machtverhältnisse in Abrede stellen zu wollen erscheint es daher angebracht, Völkerschauen auch als einen Wissensraum zu betrachten und die Rolle der Indigenen bei der Produktion musealen Wissens zu würdigen.
Eine Sektion der Tagung wird sich der Sammlung Jakobsen widmen, die heute auf verschiedene Museen verstreut ist. Darüber hinaus sind Angehörige aller anderen Museen im deutschsprachigen Raum, etablierte Fachleute an den Universitäten sowie der wissenschaftliche Nachwuchs herzlich eingeladen, sich mit einer Vorstellung ihrer Bestände oder den Ergebnissen ihrer Forschungen rund um diese Thematik an unserer Tagung zu beteiligen. Dies schließt ausdrücklich auch naturkundliche Sammlungen mit ein, die z. B. präparierte Tiere oder Pflanzen bewahren, welche während solcher Schauen zusammen mit den Indigenen präsentiert wurden.
Besonderes Interesse gilt dabei Fragen nach der Provenienz und der indigenen Agency, die solche „Völkerschau-Objekte“ reflektieren. Welche Funktion hatten die Objekte in den Herkunftsgemeinschaften? Wurden sie speziell für den Verkauf nach Europa geschaffen? Unter welchen Bedingungen wurden sie produziert oder gesammelt? Auch weitere Aspekte ihrer Objektbiographien und ihrer sich wandelnden Bedeutungen, etwa im Rahmen ihrer Rezeption in Ausstellungen und Veröffentlichungen sind von Interesse. Inwiefern taugen solche Objekte als historische oder ethnographische Quellen? In welcher Form und mit welcher Zielsetzung könnten Sie in einer zeitgemäßen Ausstellung präsentiert werden? Und last but not least: Welche Bedeutung kommt diesen Objekten aus Sicht der Nachfahren ihrer Ursprungsgemeinschaften zu und was spricht für oder gegen eine Restitution?
Die Tagung beginnt am Abend des 27. Oktober 2020 im großen Saal der Gemeinnützigen (Königstr. 5) mit einem an eine breite Öffentlichkeit adressierten Doppelvortrag von Dr. Hilke Thode-Arora und Dr. Lars Frühsorge mit einer allgemeinen Einführung in das Thema der Völkerschauen und deren lokalspezifischer Ausprägung in Lübeck.
Weitere Informationen zur anschließenden Tagung, sowie den Teilnahmenbedingungen, finden Sie hier.
Quelle: hsozkult