Tagungsbericht: Zur Topografie des Verborgenen: Kriegslandschaften in Norddeutschland (7. – 8. September 2012)

Den Einführungsvortrag hielten Sabine Kienitz und Norbert Fischer. Letzterer ging zunächst auf die Stationen der Gedächtnisforschung seit Maurice Halbwachs ein, definierte mit Pierre Nora das Konzept der Erinnerungsorte sowie mit Simon Schama den Begriff der Gedächtnislandschaft.  Dieses Konzept lässt sich, so vermerkte Sabine Kienitz weiterführend, auf den Krieg und seine Folgen übertragen, wenn der Aspekt der Materialität in den Fokus rückt und damit die unterschiedlichen Objekte und vielfältigen Formen, in denen sich Krieg materialisiert und konkrete Spuren im Raum hinterlassen hat. Dies wurde zum einen am Beispiel der „Schlachtfeldarchäologie“ thematisiert, die gezielt nach den materiellen Hinterlassenschaften des Krieges gräbt, und zum anderen am Beispiel der „Trench Art“, also der Analyse von Objekten aus Soldatenhand, die an der Front und in den Lazaretten gezielt zur Erinnerung an den Krieg produziert wurden. Daran anknüpfend eröffnete Sabine Kienitz die Forschungsperspektive, inwieweit diese Objekte in historischer Perspektive eine symbolische (Über-)Formung erfahren haben und inwieweit diese Objekte selbst wieder dazu dienlich sind, „Erinnerung“ neu zu stiften bzw. zu überformen. Denn, so die Erkenntnis: Die Dinge haben nicht nur eine symbolische Bedeutung, die über ihren rein materiellen Wert hinausgeht, sondern diese Bedeutungen selbst sind veränderlich – sie ändern sich je nach den unterschiedlichen Perspektiven, sie sind abhängig von historischen Kontexten und den jeweiligen Perspektiven und Interessen der Betrachter, Nutzer, Akteure. Ortwin Pelc analysierte unter dem Titel „Spuren der Franzosenzeit 1806-1814 in Norddeutschland“ jene Gedenkstätten, Denkmäler und Tafeln, die bereits wenige Jahre nach der französischen Besatzungszeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Norddeutschland durch staatliche und private Initiativen entstanden. Sie waren ganz unterschiedlichen Personen und Ereignissen der Besatzungszeit gewidmet, beispielsweise dem Dichter Theodor Körner in Wöbbelin und Major Schill in Stralsund, den Kämpfen am Lübecker Burgtor 1806 und den 1813 vertriebenen Hamburgern. Als Erinnerungsorte im Sinne Noras dienten sie während des gesamten 19. Jahrhunderts und insbesondere vor dem Ersten Weltkrieg der nationalen Identifikation und Propaganda. Ortwin Pelc beschrieb detailliert Entstehung und Funktion einzelner dieser Relikte. Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt thematisierte die Festungs- und Kriegsgeschichte von Steinburg-Krempe-Glückstadt. Sein Vortrag trug den Titel „Glückstadts Belagerung 1813/14 in der lokalen Erinnerungskultur“. Glückstadt hielt sich als zweitstärkste Landesfestung bis zum Kieler Frieden 1814. Zuvor war die Festung im Winter 1813/14 noch einmal massiv belagert und eingenommen worden. Der Vortrag rückte insbesondere die lokalen Erinnerungen in den Mittelpunkt. Sie stellen keine klassischen, gleichsam offiziellen Erinnerungsorte an die Ereignisse dar, sondern zeigen sich vielmehr im privaten Umgang mit Kriegsrelikten, wie Kanonenkugeln, und deren Integration in die Topografie und Architektur von Glückstadt. Detlev Kraack stellte die Frage nach „Bornhöved 1813 – ein schwedischer Erinnerungsort in Schleswig-Holstein?“ Das Thema spielt durch die Denkmalsetzung zum 100-jährigen Jubiläum der Ereignisse (1913), durch die Integration in den „Bornhöveder Historienpfad“ und die Dokumentation des Börnhöveder Heimatmuseums sowie nicht zuletzt durch die laufenden Planungen zum 200-jährigen Gedenken (2013) im weiteren Verlauf des 19., 20. und 21. Jahrhunderts immer wieder eine Rolle im Gedenken und Erinnern ganz unterschiedlicher Gruppen. Dabei verzeichnete Kraack einen steten Perspektivwechsel zwischen der lokalen und der übergeordneten Ebene und verwies auf national geprägte Varianten von Erinnerung und Vergessen auf deutscher, dänischer und schwedischer Seite. Silke Göttsch beleuchtete unter dem Titel „Kriegslandschaften und touristische Eroberungen. Das Beispiel der deutsch-dänischen Grenzregion 1890-1914“ am Beispiel des Kriegsschauplatzes Düppeler Schanzen den je nach nationaler Perspektive unterschiedlich inszenierten Kriegstourismus. Düppel wurde um 1900 zu einem historischen Erlebniszentrum, belebt durch Elemente der Living History und des Reenactments. Historisches Kriegserlebnis wurde vermittelt durch die Kulturtechnik der Reise. In deutschen und dänischen Reiseführern – aus der Perspektive von Siegern und Besiegten – wurden national unterschiedlich aufgeladene Bilder des Krieges produziert mit dem Ergebnis einer Nationalisierung von Landschaften. Das deutsche Siegesdenkmal wurde performativ im Rahmen des Kaisermanövers 1890 genutzt, Reiseführer lieferten Interpretationsangebote und Ansichtskarten eine Gelegenheit, die Wahrnehmung des Kriegsschauplatzes vielfach zu brechen. Klaus Schlottau beschrieb die Geschichte der 1934/35 erbauten Munitionsanstalt (Muna) Mölln als so genannte Tarnlandschaft („Tarnlandschaften. Munitionsanstalten in der norddeutschen Landschaft – die Möllner Waldstadt“). Hauptthese von Klaus Schlottau ist die durch gezielte Landschaftsgestaltung erfolgte Tarnung des Muna-Geländes: Aus der Luftperspektive und damit der Perspektive möglicher Bombenangriffe war es nämlich im Stil einer Kulturlandschaft, im engeren Sinn der Gartenstadt, gestaltet und damit von ziviler Besiedlung kaum zu unterscheiden. Diesen Befund untermauerte Schlottau mit vergleichenden Luftaufnahmen, die eine strukturelle Verwandtschaft der Topografie von Gartenstädten und der Muna Mölln nahelegen. Die Gestaltung der Muna passte sich ein in jene NS-spezifische Ideologie von Natur und Landschaft, die vom Heimatschutzgedanken geprägt war. Malte Thiessen refererierte zum Thema „Bunker, Bombenlücken, Brandspuren – Die Stadt als Erinnerungsrahmen und Resonanzraum für Zeitzeugen“. Am Beispiel der Bombenangriffe auf Hamburg im Zweiten Weltkrieg zeigte er auf Basis von Zeitzeugeninterviews, wie der städtische Raum als Referenzrahmen für die Narrative familiärer Gedächtnisse funktionierte. Erstens dokumentierte Malte Thiessen, wie sich die Erinnerung an den „Feuersturm“ in der Stadt zeigt, beispielsweise durch eine Gedenkstätte, durch Ausstellungen in Museen oder Erinnerungsreliefs. Diese Spuren in der Topografie der Stadt, so die These, fungieren für die Überlebenden im Alltag als „Erinnerungsimpulse“. Neben diesen Formen reflektierten Gedenkens wirken zweitens Ruinen wie St. Nikolai sowie die Präsenz von Bombenlücken im Stadtbild als „Beglaubigung“ für die eigene Erinnerung. Drittens bilden die Geräusche der Stadt („soundscape“) einen Referenzrahmen: Feuerwehrsirenen und Probealarme wecken bei Zeitzeugen die Erinnerung an die Bombenangriffe. Resümierend stellte Malte Thiessen fest, dass der gegenwärtige Stadtraum hilft, Erinnerungen zu strukturieren und zugleich das Familiengedächtnis zu speisen. Sylvina Zander ging unter dem Titel „Bombentrichter als landschaftliche Relikte: Der Luftangriff auf Bad Oldesloe 1945“ den Spuren des Bombenangriffs vom 24. April 1945 auf die südostholsteinische Stadt nach. Es handelte sich – verursacht durch die Funktion Oldesloes als Bahnknotenpunkt – um einen der schwersten Luftangriffe in Schleswig-Holstein während des Zweiten Weltkriegs mit über 700 Toten. Im Weichbild der Stadt zeigen sich teils bis heute die Folgen des Angriffs in Baulücken und Bombenkratern. Letztere sind inzwischen in offiziellen Karten als Biotope verzeichnet. Ein Bombenrelikt wurde museal in der Nähe des Bahnhofs als Hauptschauplatz des Angriffs aufgestellt. Das Gedenken an den verheerenden Luftangriff wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch ein auf dem städtischen Friedhof 1947 errichtetes, vom Bildhauer Richard Kuöhl gestaltetes Denkmal und regelmäßige Gedenkfeiern zum Jahrestag institutionalisiert. Im städtischen Rathaus ist eine Namenstafel mit den Opfern angebracht. Nach zwischenzeitlichem Verebben der Gedenkfeiern werden diese gegenwärtig begleitet von regelmäßigen,, auch Zeitzeugenberichte umfassenden Presseberichten auch außerhalb des Friedhofs als Erinnerungsakte wieder durchgeführt. Norbert Ellermann stellte „Das Außenlager Porta Westfalica des KZ Neuengamme“ vor. Zwischen März 1944 und April 1945 befand sich auf dem Gebiet der heutigen Stadt Porta Westfalica ein auf mehrere Stellen verteiltes Außenlager des KZ Neuengamme. Dabei wurden in ehemaligen Bergwerksstollen bombengeschützte Produktionsräume für verschiedene Zweige der deutschen Rüstungsindustrie angelegt. Die KZ-Außenlager verteilten sich auf mehrere Ortschaften von Porta Westfalica. In diesem Zusammenhang sind zahlreiche landschaftliche Relikte zu verzeichnen: unter anderem Stollensysteme im Wittekinds- und Jakobsberg, Häftlingsgräber auf dem Friedhof Barkhausen, Reste der Weserbrücke (früher Weg der KZ-Häftlinge), Gelände des ehemaligen Pioniergerätelagers der Wehrmacht, Wohnhäuser (früher Flugzeugmotorenprüfstände), Friedhof Lerbeck (Häftlingsgräber), Wochenendhaus (früher SS-Wachbaracke) sowie mehrere Rohöltanks im Wald. Im dem Stadtteil Hausberge befindet sich die zentrale Gedenktafel für das Außenlager Porta Westfalica. Lars Hellwinkel berichtete unter dem Titel „Ein Bunker als Gedenkstätte?“ über das Beispiel des „Mahnmals Kilian“ in Kiel und seinen Verein. Der ehemalige Reichskriegshafen Kiel war im Zweiten Weltkrieg aufgrund seiner Bedeutung als Rüstungsstandort wichtiges Ziel der alliierten Luftkriegführung. Spuren der Zerstörung sind bis heute im Stadtbild sichtbar geblieben, werden aus der offiziellen Erinnerungspolitik jedoch ausgeklammert. Denkmalschutz wie auch Gründung eines Vereins konnten die Beseitigung des U-Boot-Bunkers im Jahre 2000 nicht verhindern. Um die Erinnerung und Mahnung auch weiterhin wachzuhalten, entschloss sich der Verein einen ehemaligen Luftschutzbunker in unmittelbarer Nähe zum Hafen zu kaufen und als Mahn- und Gedenkstätte auszubauen. An diesem Beispiel verdeutlichte Hellwinkel die Probleme einer Beschäftigung mit der zerstörten Stadt als Kriegslandschaft und gab Beispiele für den Umgang mit dem Bunker als Denkmal. Thorsten Logge stellte – den mit Jörn Lindner erarbeiteten – Beitrag über „Zivile Luftschutzbauwerke – Orte einer ungeliebten gesellschaftlichen Erinnerung“ vor. Bunker sind steinerne Zeugen des NS-Regimes und stehen stellvertretend für dessen Verbrechen, da die Mehrzahl der Bauwerke von Zwangsarbeitern errichtet wurde. Reaktiviert im Kalten Krieg – u.a. als Beispiel für personelle und institutionelle Kontinuitäten zwischen NS-Regime und der BRD – entzündeten sich an den Bauwerken v.a. in Hamburg zahlreiche Diskussionen um Wiederbewaffnung und/oder die Sinnhaftigkeit des Zivilschutzes in Zeiten eines drohenden Atomkrieges. Abseits von der politischen Ebene üben die Bauwerke den Reiz des Verborgenen bzw. Verschlossenen aus. „Bunker“ unterliegen als historische Artefakte wie auch Denkmäler dem Paradigma der Nichtwahrnehmung. Saskia Rohde schloss die Tagung mit einem kunsthistorisch orientierten Vortrag über „Bunkerbilder. Volker Meiers verdrängte (Nach-) Kriegslandschaften“ ab. Grundlage des Beitrags waren u.a. Volker Meiers Gemälde, Grafiken, Zeichnungen zu diesem Sujet (ca. 37 Arbeiten), kontrastiert mit Fotos anderer Autoren der von ihm festgehaltenen Bauten. Zweimal widmete sich der Hamburger Maler Volker Meier (1932-1993) dem Zweiten Weltkrieg und dem, was von ihm blieb, z. B. Bunker. Meiers Bilder repräsentieren Blicke auf Bunker (u. a. Schulweg, Feldstraße, Wilhelmsburg), die bis auf kleine Stücke strahlendblauen Himmel mit kleinen Wolken alles verdecken, sowie auch Blicke aus Bunkern – durch schmale Öffnungen in gewaltigen Wänden.

Norbert Fischer/Sabine Kienitz

Veranstalter: Universität Hamburg, Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie und Historisches Seminar/Hamburger Arbeitskreis für Regionalgeschichte (Prof. Dr. Sabine Kienitz, Prof. Dr. Norbert Fischer, Prof. Dr. Franklin Kopitzsch).

Quelle: https://listserv.gwdg.de/mailman/listinfo/gesch-nds-info

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