Reklamationen

Bergedorfer Zeitung, 29. März 1917

Wer heute den Begriff „Reklamation“ benutzt, will in aller Regel etwas beanstanden, weil es nicht im einwandfreien Zustand ist. Im ersten Weltkrieg konnten auch Personen „reklamiert“ werden, und diese werden sich in den meisten Fällen sogar darüber gefreut haben, denn eine erfolgreiche Reklamation führte dazu, dass man zumindest zeitweilig vom Militärdienst beurlaubt wurde.

Für derartige Freistellungen gab es natürlich ein geordnetes (Militär-)Verwaltungsverfahren (das aber häufiger geändert wurde), und damit eröffnete sich einigen Bergedorfern ein neues Tätigkeitsfeld, nämlich das Verfassen entsprechender „Gesuche“ auf Reklamation. Besonders intensiv betrieb dies offenbar der „Bureauvorsteher Fr. Giersig“, der ab September 1916 etwa monatlich in der BZ seine Dienste „in Rechts-, Militär- und behördl. Angelegenheiten“ ab 6 Uhr abends und sonntags anbot (siehe z.B. BZ vom 30. September 1916 und 7. April 1917).

Wenn Industriebetriebe kriegswichtige Güter herstellen sollten, hatten sie gute Aussichten, ihre zum Militär einberufenen Mitarbeiter per Reklamation zurückzuerhalten. Dies geschah offenbar in so großem Maße, dass die BZ von einem „gewaltigen Reklamiertenheer“ schrieb, das noch in der Heimat sei (siehe BZ vom 26. April 1917). Zwar war die Freistellung – vom Arbeiter bis zum Betriebsleiter – auf jeweils drei Monate begrenzt, aber Verlängerungen waren möglich, wie das Beispiel des Bergedorfer Bürgermeisters Walli zeigt: auch er zählte zu den Reklamierten (siehe BZ vom 23. Juni 1917), und in seinem Fall waren die Verlängerungen kein Problem, denn er brauchte überhaupt nicht in den Krieg zu ziehen.

Soldaten aus der Landwirtschaft waren schon 1915 zur Ernte und 1916 zur Frühjahrsbestellung vom Militär beurlaubt worden (siehe BZ vom 17. Juli 1915 und 7. März 1916), was bei den Nicht-Landwirten und deren Familien wohl Neidgefühle hervorrief. Dieser negativen Stimmung wurde mit der Ankündigung begegnet, dass nach den Bauern und Gärtnern „die anderen Berufszweige“ Urlaub erhalten sollten, wenn sie mindestens ein Jahr ununterbrochen „im Felde“ gewesen waren (siehe BZ vom 26. September und 27. Dezember 1916). Offenbar geschah dies im folgenden Frühjahr auch: verheiratete Mannschaftsdienstgrade sollten „nach Möglichkeit berücksichtigt“ werden, dabei zuerst die älteren (siehe BZ vom 12. März 1917). Ende Mai 1917 wurden dann für den „Erholungsurlaub“ von Soldaten ohne Angehörige Quartiere gesucht, wobei die Urlauber ihren Gastgebern mit Arbeitsleistung zur Verfügung stehen sollten (siehe BZ vom 31. Mai 1917).

Im Laufe des Jahres 1917 änderten der hilfsbereite Herr Giersig und seine Kollegen den Text ihrer Inserate, sodass von „Militärangelegenheiten“ und „Reklamationen“ nicht mehr die Rede war, sondern zum Teil nur noch von „schriftlichen Arbeiten“ (so Claus Garbers aus Kirchwärder in der BZ vom 2. November 1917) bzw. pauschal „Gesuchen“ (wiederum Fr. Giersig, BZ vom 4. November 1917). Potentielle Kunden werden das schon richtig interpretiert haben, und die Zahl der Reklamierten stieg bis Kriegsende weiter an, wie Herfried Münkler (S. 570) schreibt.

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