Das Wahlrechtsreförmchen in Bergedorf

Bergedorfer Zeitung, 13. Februar 1917

Nicht alles, was länger währt, wird auch wirklich gut. Aber der Sozialdemokrat Wiesner wollte gar nicht die Taube auf dem Dach, sondern nur endlich den Spatz in der Hand. Er bekam ihn in gerupfter Form.

Im Klartext: es ging um die Reform des Wahlrechts zur Bergedorfer Stadtvertretung. Wählen durfte,  wer ein Jahreseinkommen von 1.400 Mark (nicht 1.500 M, wie es mehrfach im Artikel heißt) versteuerte. Dieser Wert sollte eine Wiederholung des sozialdemokratischen Erfolgs von 1910 verhindern, als gleich drei von ihnen ins Stadtparlament gewählt worden waren (siehe Uwe Plog und die Beiträge Neue Ratmänner und Wahlen zur Bürgervertretung sowie Der Rückblick auf das Jahr 1914: Bergedorf). Nach den im Artikel wiedergegebenen Worten des Bürgermeisters war der Zensus „einzig und allein aus parteipolitischen Gründen“ heraufgesetzt worden, um „die Sozialdemokratie als staatsfeindliche Partei“ von Mandaten und Macht fernzuhalten.

So kann man gut verstehen, dass die Sozialdemokraten mit dem geltenden Wahlrecht nicht einverstanden waren. Wiesner forderte für Bergedorf aber nicht etwa die Einführung des Reichstagswahlrechts (allgemeines und gleiches Männerwahlrecht) oder gar zusätzlich das Stimmrecht für Frauen, sondern nur die Herabsetzung des Zensus auf 900 M. Dies war auch schon 1914 Gegenstand eines Antrags gewesen, der abgelehnt worden war, und seinen im Kern identischen Antrag von 1915 hatte er noch vor der Beratung „vorläufig zurückgezogen“ (siehe BZ vom 29. November 1914 und 13. Februar 1915). Jetzt ließ er ihn wieder aufleben, denn er hatte ein neues Argument: die Gleichberechtigung im Schützengraben müsse auch zur Gleichberechtigung in der Heimat führen. Unausgesprochen forderte er die Belohnung für die den Krieg unterstützende Haltung der Sozialdemokraten ein.

Dem Bv. (Bürgervertreter) Behr ging die Forderung zu weit, dem Bv. Rühl nicht weit genug; die Kompromisslinie war dann (von Bv. Dr. Ohly und Bürgermeister Dr. Walli vorgeschlagen) ein Zensus von 1.200 M. Ob Wallis Argumentation frei von Widersprüchen war, mag hier dahingestellt sein – aber es gelang ihm, die fast einstimmige Annahme seines Vorschlags zu erreichen.

War Wiesner also erfolgreich? Das allgemeine und gleiche Wahlrecht für Männer und Frauen blieb als „Taube auf dem Dach“, die Herabsetzung des Zensus war der „Spatz in der Hand“, aber er hatte viele Federn lassen müssen. Der Taktierer Wiesner wird mit dem Ergebnis zufrieden gewesen sein: er konnte seinen Genossen eine Wahlrechtsreform als Erfolg verkünden, und er hatte seine Stellung in der Bergedorfer Kommunalpolitik gefestigt.

Der Spatz verstarb, bevor seine Flugtauglichkeit überprüft werden konnte, d.h. bis zum Kriegsende fand keine Wahl mehr statt. Die Taube landete in Bergedorf am 13. April 1919.

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